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Die rauen Wellen peitschten ungehindert gegen den steinernen Steg und der eisige Wind aus Norden trieb die Regenwolken am Himmel vom Meer weiter in das Landesinnere hinein. Der morgendliche Nebel hatte sich schon zum größten Teil aufgelöst, es hingen nur mehr wenige Streifen aus Dunst in der Luft. Ich roch das Salz des Meerwassers und spürte die beißende Kälte.

Regungslos stand ich dort am Kai und blickte in das Grau des endlosen Horizonts. Selbst das Meer hatte diese triste Farbe angenommen. Mein Blick schweifte zu den Hafenarbeitern, tüchtige Iren die allesamt rotbraunes Haar besaßen, die gerade dabei waren mein spärliches Gepäck an Bord des Schiffes zu tragen. Es war wirklich nicht viel. Nur drei gewöhnlich große Koffer. Ich sah Elly die sich von Blair verabschiedete.

Das Kindermädchen hatte Tränen in den Augen. Wir konnten niemanden mehr vertrauen. Jaronas hatte selbst Stephan in London zurückgelassen. Aber nur, so sagte er zumindest, damit sein treuer Handlanger sich um das Anwesen und den verbleibenden Zirkel kümmern konnte. Ich sah wieder stumm auf das Meer hinaus und lauschte dem Rauschen der Wellen. Wir würden nicht mehr so schnell nach England zurückkehren, so viel stand fest.

»Das Wetter wird mir am meisten fehlen«, raunte Jaronas sarkastisch als er plötzlich neben mir stand. Der markante Schnitt unter seinem Auge war noch immer nicht verheilt. »Vielleicht ist es gar nicht so schlecht das wird England für eine Weile verlassen«, redete ich mir selbst ein. Er sah mich fragend an. »Nicht wegen dem Wetter«, erklärte ich »Sondern weil ich langsam genug von London, dem Lärm der Fabriken und den verfluchten Jägern habe«.

Jaronas folgte meinem Blick in das endlose Grau. »Ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht liegt es nicht an diesem ewigen englischen Regen, sondern an der Stadt selbst«, er schob beide Hände in seine Manteltasche um sich warm zu halten. Nach einer Weile des Schweigens wandte er sich zum Gehen »Wir legen in ein paar Minuten ab«, sagte er. »Ich komme gleich«, gab ich gedankenversunken zurück. Eine schwermütige Melancholie stieg in mir auf.

Vampire fühlen sich mehr als Menschen, mit jenem Ort verbunden an dem sie aufgewachsen sind. Sie klammern sich an ihre sterbliche Vergangenheit und wollen sie nicht mehr loslassen. Um keinen Preis der Welt. Viele Alte sterben aus dem Grund, dass ihre frühere Kultur unwiderruflich im Staub der Zeit versinkt. Ich konnte mich nicht an die nervenaufreibende Vorstellung gewöhnen, dass Paris nun mein Zuhause werden würde. Ich konnte mich weder mit der Sprache, der Kultur noch mit dem Menschen identifizieren. Obwohl ich schon oft mit Jaronas dort gewesen war, schien mir die Stadt mit jedem Besuch fremder.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt