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Völlig durchnässt und halb erfroren erreichten wir die Westminster Bridge. Meine nassen Haare klebten auf meiner Stirn. Ich spürte das kalte Regenwasser meinen Mantel durchdringen und den Rücken hinunterlaufen. Die dunklen Umrisse der Westminster Abbey zeichneten sich gespenstisch von den morgendlichen Nebelfeldern ab. »Wir müssen ins Whitechapel«, erklärte ich frierend. Jack sah mich fragend an »Wieso?«.

Ich verstärkte den Griff um die ledernen Zügel »Es ist unser Jagdgebiet«. Widerwillig schüttelte er den Kopf, so dass das schwere Regenwasser von seinen Haaren perlte. »Ich habe eine bessere Idee«, schlug er vor. »Und welche?«, erkundigte ich mich nicht sonderlich begeistert. Jacks sorgloses Lächeln auf seinen schmalen Lippen war beängstigend. Wortlos riss er an den Zügel, so dass das Tier begleitet von einem Wiehern den Weg fortsetzte.

Verwirrt sah ich ihm kurz nach, ehe ich beschloss, ihm zu folgen. Meine tauben Finger konnten kaum noch die Zügel halten. Die beißende Kälte war unerträglich. Nach einer halben Ewigkeit zielloses Umherirrens, gab Jack plötzlich, in einer abgelegenen Seitenstraße, dem Befehl anzuhalten. Fragend musterte ich die heruntergekommene Kneipe vor uns. »Was machen wir hier?«, fragte ich verwirrt. Jack stieg vom Pferd »Ich muss etwas erledigend«, antwortete er knapp.

Mit starren Händen band er sein Pferd an. Der Regen ging in ein leichtes Nieseln über. Wie schwerelose Partikel fielen sie auf Jacks dunkle Locken und durchnässte seinen Mantel. Die Zielstrebigkeit seiner schweren Schritte auf dem nassen Asphalt, ließen daraus schließen, dass er wusste, was ihn erwartete. Seine fahlen Augen waren zu Boden gerichtet.

Mit zusammen gebissen Zähnen eilte er auf den Eingang der Kneipe zu. Der eisige Wind aus dem Norden peitschte den Regen in sein gerötetes Gesicht, selbst als er unter dem kleinen Mauervorsprung stand und durch die ungeputzten Fenster in das Innere spähte. »Ich habe gewusst, dass er Teufel hier ist«, murmelte er gedankenversunken. »Wer?«, wollte ich wissen und band mein Pferd ebenfalls an der Mauer an. Jack vergrub seine Hände in seinen Manteltaschen »Das wirst du gleich erfahren«, versprach er mir. Er wollte Richtung Eingang, doch ich stellte mich vor ihn.

»Was soll das?«, murrte er verärgert. »Ich trage die Verantwortung, für alles was du...« »Lass es einfach bleiben, verstanden?«, unterbrach Jack mich barsch und stieß mich zur Seite »Das ist meine Sache. Und keine Angst, ich werde keine eurer albernen Regeln oder Vorschriften brechen«. Mit einem starren Gesichtsausdruck öffnete er die knarrende Tür und trat in das stickige Innere. Ein wenig neugierig, aber dennoch gereizt, folgte ich Jack schweigend.

Unheimliche Stille lag im halbdunklen Raum. Leise schlich Jack über den ungeputzten Holzboden, während ich die Tür schloss und dort am Eingang verharrte. Abschätzig ließ ich meinen Blick über die Tische und umgefallenen Sesseln schweifen. Drei Männer befanden sich im Raum. Sie waren in ihrem Rausch letzte Nacht an den Tischen eingeschlafen.

Zwei davon, am Tisch neben dem Fenster und der andere im hinteren Teil des Raumes, in einer schummrigen Ecke. Weit und breit gab es kein Zeichen von einer Bedienung. Leere Flaschen lagen zerstreut am Boden, getrocknetes Kerzenwachs klebte auf den Tischen und die abgestandene Luft roch nach Alkohol und kaltem Rauch.

Jack stieg angewidert über eine Pfütze aus Erbrochenem, während er murmelte »In diese Hölle gehörst, samt deinem widerlichen Opium«. Das Glas der leeren Spritze, die Jack aus dem Arm des Mannes in der hinteren Ecke zog, glänzte matt in dem dämmrigen Licht des Morgens.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt