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Der Regen, gepeitscht vom Nordwind, prasselte gegen die Fensterscheiben meines Schlafzimmers. Das wenige Licht des anbrechenden Morgens, ging in dem schweren Grau des Nebels draußen unter. Erschöpft schloss ich meine gereizten Augen. Die Dunkelheit umfing mich wie ein wohltuender Schleier aus Schwärze und Stille. Ein zögerliches Klopfen zerriss meine innere Ruhe. Begleitet von einem kurzen Raunen öffnete ich meine schweren Augenlieder.

»Mr. Bates?«, die dünne Stimme von Elena, einer unserer Haushälterinnen, drang durch die Schlafzimmertür »Der junge Schotte möchte Sie sehen. Er wartet in dem Arbeitszimmer von Mr. Asbury«. Müde rieb ich meine Augen »Ich werde gleich zu ihm kommen«, gab ich hastig Bescheid. Ihre leichtfüßigen Schritte entfernten sich. Teilnahmslos zog ich meinen schwarzen Mantel über. Ich wollte nach London.

Durch die Straßen irren und mich unter die Lebenden mischen. Das unausweichliche Gespräch würde warten können, dessen war ich mir sicher. Lautlos schlüpfte ich in den Gang hinaus, bedacht darauf, nicht gesehen zu werden. »Vincent«, Jacks Stimme ließ mich erstarren »Ich wusste, dass du einfach davonlaufen würdest«, erklärte er grinsend.

Lässig lehnte er sich gegen den Türrahmen des Arbeitszimmers. »Was würdest du an meiner Stelle tun?«, wollte ich verwundert wissen und vergrub meine Hände in den Manteltaschen. Das Dunkelbraun seiner Augen wirkte freundlich und schelmisch zugleich. »Ich hätte mit dir geredet«, er vergrub seine Hände in den Westentaschen.

»Du weißt, dass ich mich so wortgewandt bin wie du«, erklärte ich und wandte meinen Blick zu Boden »Kein Wort auf dieser Welt, das mir bekannt ist, würde es mir ermöglichen...«. Ich verstummte plötzlich »Um was?«, drängte Jack mich neugierig. »Um mich bei dir zu entschuldigen«, meine dünne Stimme hing zitternd in der Luft. Jack öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber seine Lippen formten sich anstatt zu Worten zu einem verständnislosen Grinsen

»Um dich bei mir zu entschuldigen?«, fragte er schließlich unglaubwürdig. Verunsichert nickte ich »Das was Lucien und ich dir angetan haben ist...« »Vincent«, unterbrach mich Jack »Weißt du wie viele Menschen da draußen ihre Seele dafür geben würden, um zu sein wie du? Was eine Mutter für die Unsterblichkeit geben würde, wenn ihr kleines Kind in ihren Armen langsam verhungert?«. In seinen Augen glänzte Begeisterung und Hingabe.

»Du glaubst, dass ewiges Leben ein Segen ist?«, wollte ich leicht verärgert von ihm wissen. Jacks verständnisloser Ausdruck machte mich rasend »Ja, das tue ich«, antwortete er selbstverständlich. Meine Lippen bebten leicht »Du hast nicht die leistete Ahnung«, flüsterte ich kaum hörbar »Du musstest noch nie ein Menschenleben nehmen, nur um deinen Egoismus zu nähren. Du hast noch nie ein Kind, das in deinen Armen liegt, verbluten sehen, Jack. Die Unsterblichkeit ist ein Fluch, kein Segen und auch keine Gabe«.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt