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Es vergingen Wochen. Elly und ich versuchten so gut es ging, unsereErlebnisse auszublenden, in der Hoffnung, dass der Alltag wieder einkehrenwürde. Als ich den Schock endlich überwunden hatte, passierte wieder etwasSchreckliches. Elly erkrankte, die Pest hielt im Hause Einzug. Es warschrecklich mitansehen zu müssen, wie die Krankheit ihre Kräfte aufzehrte. Ichwusste, dass mir nur noch ein paar Tage mit ihr bleiben würden.

Obwohl dieserGedanken unerträglich schmerzhaft war, kümmerte ich mich um meine Schwester Tagund Nacht ohne zu schlafen. Ich klammerte mich mit aller Kraft an die naiveHoffnung, dass sie überleben würde. Also kam ich wie jeden Abend in dasdämmrige Zimmer und stellte einen randvollen Eimer mit trüben Wasser auf denBoden, so dass ein wenig des Inhalts über den Rand schwappte. Meine Schwesterlag auf ihrem Strohsack gebettet und starrte teilnahmslos an die Decke. Einfauliger Eitergeruch lag schwer in der Luft. Ihr ganzer Körper war von schwarzen Beulen übersät.

»Mutter hat gesagt,ich soll dir Umschläge machen«, sprach ich die fast bewusstlose Elly an. »Heißoder kalt? «, hörte ich meine Schwester flüstern. »Was? «, verwirrt stellte icheinen Kessel auf die Feuerstelle und leerte das Wasser hinein. Dann zündete ichdas spärliche Holz darunter an. Endlich war sie wieder bei Bewusstsein und ichvernahm erneut ihre schwache Stimme: »Ob du mir heiße oder kalte Umschlägemachen sollst? « »Ich soll dir heiße Umschläge machen. Aber ich glaube, dassdas nicht das Richtige ist. Mutter ist immerhin keine Ärztin«. Elly schloss dieAugen »Ich will nicht sterben«, hauchte sie erschöpft und war überrascht, alsich ihr antwortete: »Das wirst du auch nicht«.

Ich stellte einen Hocker nebenihre Schlafstätte und setzte mich zu ihr »Hast du keine Angst, dass du dichansteckst?«, murmelte Elly leise »Nein«, erwiderte ich »Ich habe größere Angst,dich zu verlieren«. Meine Schwesterwandte den Kopf in meine Richtung. Diese kleine selbstverständliche Bewegungschien viel Kraft von ihrem kleinen, ohnehin schon zerbrechlichen Kinderkörper,abzuverlangen. »Vincent? «, fragte sie schüchtern »Ja Elly? « »War der Mann inder Gasse nun ein Vampir oder nicht? «, eine Welle aus Kälte überrollte meinenKörper.

»Ich finde es ist besser, wenn du...« »Vincent! «, unterbrach sie michmit schwacher zittriger Stimme. Erschöpft schloss sie wieder die Augen.Nachdenklich fuhr ich mir durchs Haar. »Na gut«, willigte ich schließlich ein.Hinter uns brodelte inzwischen das Wasser. Ich stand auf, nahm einzerschlissenes Tuch und tauchte es in den Kessel. »Also«, fragte Ellyungeduldig als ich ihr den Umschlag auf die Stirn legte, »was ist die Wahrheit?« »Er war ein Vampir«, seufzte ich. Elly schmunzelte »Hab ichs doch gewusst«.

Ich erneuerte die Umschläge regelmäßig bis spät in die Nacht hinein. Vorsichtiglauschte ich Ellys Atemgeräuschen. Sie war eingeschlafen, aber lange blieb ihrnicht mehr. Ich hatte einen Plan. Einen ziemlich verrückten Plan. Heimlichschlich ich mich davon, in die dunkle Nacht hinaus. Eine Eiswand pfiff durch dieGassen und ließ mich halb erfrieren. Ich musste den Vampir finden, egal was eskostete. Der Weg zur Saint Pauls Kathedrale war mir so vertraut, dass ich ihnauch blind finden würde. Seit ich sechs Jahre alt war, ging ich ihn seitherjeden Tag, bei jedem Wetter. So kämpfte ich mich durch die beißende KälteRichtung der Saint Pauls Kathedrale. Meine einzige Motivation war meineSchwester.

Ich tat das alles für Elly. Mit zusammengebissen Zähnen undeingefrorenen Füßen erreichte ich schließlich mein Ziel. Es waren kaum noch Menschen zu sehen.Einerseits wegen der niedrigen Temperatur und andererseits da es Nacht war. Wowar die Gasse gewesen? Verzweifelt suchte ich nach ihr, bis ich sie schließlichfand. Hastig eilte ich auf sie zu. Die Dunkelheit ließ mich fast nichtserkennen. »Ist da jemand? «, fragte ich mit fester Stimme in das Schwarzhinein. Keine Antwort. Aber dafür dumpfe Schritte, die gleichmäßig auf michzukamen. Fest entschlossen starrte ichnach vorne, bis ich eisblaue Augen zu erkennen glaubte.

»Was führt dich dennhierher?«, die Stimme des Vampirs hallte von den Wänden wider. Ein Trick ummich einzuschüchtern »Ich... ich brauche Ihre Hilfe«, bat ich. Ein Glucksenerklang aus der Dunkelheit »Mein Hilfe?«, fragte er amüsiert. Ich trat einen Schrittweiter in die Dunkelheit hinein. »Ich bitte Sie. Meine Schwester liegt imSterben und ich kenne die Legenden aus Südosteuropa. Ich flehe Sie an. MachenSie sie zu einer...« »Unsterblichen«, vollendete der Vampir meinen Satz. »Washat sie denn für eine Krankheit?«, erkundigte sich die Stimme »Die Pest« »Dannkann ich leider nichts mehr für sie tun«.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt