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Die kreischenden Möwen zogen weite Kreise über dem belebten Hafen von Marseille. Ich fühlte mich verloren, als ich auf den Golfe du Lion hinaussah. Das Mittelmeer glänzte in einem unnatürlichen, kalten Türkis. Die kleinen Finger von Elly zog plötzlich zögerlich an meinem linken Mantelärmel »Vincent«, begann sie verunsichert »Wieso können wir nicht zurück zu Blair?«. Ich wandte meinen Blick von dem schier unendlichen Horizont ab »Weil wir vereisen« »Für wie lange?«, ich seufzte »Darauf kann ich dir keine Antwort geben, Elly«. Sie senkte ihren fragend Blick und verzog ihren Mund »Aber du bist erwachsen«, erklärte sie

»Erwachsene wissen immer alles«. Ich fuhr durch ihre braunen Haare »Willst du gar nicht wissen, wohin wir reisen?«. Sie legte ihren Kopf leicht schief »Doch«, antwortete sie knapp. Ich lächelte sie aufmunternd an »In die Neue Welt, nach Amerika«. Zuerst wirkte sie etwas verwirrt, aber dann begriff sie »Dort waren wir noch nie«, sie blickte hinauf zu den Möwen und fügt begeistert hinzu »Das ist auf der anderen Seite der Welt«. Mir fiel plötzlich eine Junge ins Auge, der mit zwei Karten in der Hand herum eilte und sie feil bot

»Die letzten drei Tickets für die Celtic nach New York! Über die Transatlantik-Route nach Amerika!«, seine feste Stimme traf jedoch bei den Menschen, die hastig an ihm vorbei eilten, auf taube Ohren. Doch er schien nicht im geringsten entmutigt, sondern ging ein paar Schritte weiter den Dock hinauf und wiederholte seine zwei eingeübten Sätze erneut. »Warte hier, Elly«, bat ich meine Schwester und griff in meine Manteltasche. Verärgert stellte ich fest, dass ich alles Geld, was ich in dem Stadthaus von Paris auftreiben konnte für die Fahrt nach Marseille verbraucht hatte. Selbst wenn Marie mit mir gegangen wäre, gestand ich mir nun schwermütig ein, stünde ich nun vollkommen verarmt an dieser Stelle.

Die Bankkonten des Zirkels wurden von den restlichen Vampiren geplündert. Selbst mein eigenes schien irgendeinem hinterhältigen Unsterblichen zum Opfer gefallen zu sein. Ich hatte nichts mehr bei mir, außer den goldenen Taschenuhr mit dem zersprungenen Glas. In meiner naiven Hoffnung auf dem Passagierschiff Celtic der White Star Line Reederei zwei Plätze zu ergattern ging ich auf den Jungen zu. In einer gewissen Weise ähnelte er mit seinen wilden, rabenschwarzen Locken und den moosgrünen Augen Jack. Auch wenn dieser siebzehnjährige Junge etwas kleiner ausfiel und dessen Hautfarbe leicht oliv war. In meinem Gesicht lag ein ungewollter leidender Ausdruck, als ich mit ihm sprach »Wie viel verlangen Sie für zwei Tickets?«.

Der Junge begann gewitzt zu lächeln »Es sind die letzten drei, wie viel sind Sie bereit zu zahlen, Monsieur?«. Ich zeigte ihm die Taschenuhr »Das ist alles was ich nich habe«, der Junge stutzte und ich fügte hastig hinzu »Sie ist aus echtem Gold«. Nachdenklich nickte der Junge »Eine Karte bekommen Sie dafür, aber auch nur jene, in der dritten Klasse«. Hastig nahm er die Uhr an sich und reichte mir das Ticket. »Die Uhr ist viel wert, es müssten mindestens zwei Tickets für die dritte Klasse dafür geben«, verhandelte ich mit einem steinernen Ausdruck. Das Grinsen des Jungen wurde breiter »Ich kann Ihnen unmöglich für eine kaputte Taschenuhr zwei Karten geben« »Ich biete Sie«, flüsterte ich.

Das Grün in seinen Augen glänzte kalt »Ich mache nur meine Arbeit, Monsieur«. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen spazierte er weiter. Völlig ohne finanzielle Mitteln stand ich fassungslos da und starrte dem Jungen nach. Schlussendlich spielte ich meinen letzten Trumpf aus »Was ist, wenn ich Ihnen etwa biete, dass unbezahlbar ist?«, der Junge wandte sich und und erwiderte sarkastisch »Etwa eine funktionierende Taschenuhr?«. Ich senkte meine Stimme und trat an ihn näher heran »Die Unsterblichkeit«. Ein verwirrter Ausdruck legten sich auf seine Züge, ehe er seine Fassung wiederfand »Entschuldigen Sie meinen Ausdruck, aber Sie scheinen mir etwas verrückt« »Ich sage nur die Wahrheit«, erklärte ich verbissenen. »Ihre Wahrheit muss nicht gleich auch meine Wahrheit sein, Monsieur.

Vielleicht existiert in Ihrer Vorstellung der absurde Gedanke an das ewige Leben... vielleicht sind Sie auch einfach nur Katholik, aber ich muss mich nun wirklich entschuldigen. Ich bekomme kein Geld für das philosophieren mit Fremden«. Ich fasste ihn plötzlich an der Schulter und flüsterte »Glauben Sie an Vampire?«. Ein düsterer Schatten legte sich auf dein Gesicht, als er schließlich antwortete »Humbug, so etwas wie Vampire existieren nur in Schauerromanen«. Obwohl seine Stimme ernst und seriös klang, erkannte ich jedoch den ängstlichen Unterton. Der Junge erschien mir, als wäre er ein Realist und schien normalerweise nicht an solche Märchen zu glauben, doch dieses eine Wort schien ihn an etwas zu erinnern. Verärgert riss er sich los und eilte weiter den Dock hinauf.

Hastig stellte ich sicher, dass Elly immer noch auf ihrem Platz wartete, ehe ich dem Jungen dicht auf den Fersen folgte. »Lassen Sie mich in Ruhe«, verlangte dieser und beschleunigte seinen Schritt »Oder ich verständige die Polizei«. Als wir an einem leeren Lagerhaus vorbei gingen, packte ich ihn schließlich und zerrte ihn in das dämmrige Innere. Geschützt von den Blicken der Sterblichen auf dem Dock, drängte ich ihn hinter einen Stapel Kisten. Mit leiser Stimme murmelte ich »Du weißt etwas über uns? Nicht wahr«. Seine Brust hob und senkte sich in einem schnellen, unregelmäßigen Tempo »Ich glaube nicht an solche Hirngespinste«, verleugnete er zum zweiten Mal barsch. Meine Augen begann bedrohlich zu funkeln »Ich könnte dich jetzt einfach töten.

Es wäre eines der leichtesten Dinge der Welt«, drohte ich dem Jungen »Wieso tun Sie es dann nicht?«, ich begann grimmig zu lächeln »Weil ich mir vorgenommen habe, nur noch Yankees zu töten«. Der Junge musterte mich verächtlich »Dann kommen Sie auch an Ihre Karten«, zischte er leise und warf sie mir vor die Füße »Na los, bringen Sie mich um«, verlangte er erzürnt »Genau wie es damals einer Ihrer Art in Lyon meinen Bruder getötet hat. Ihr seid eine kaltblütige Teufelsbrut«. Mein Lächeln schwand nicht von meinen Lippen »Mein Angebot steht immer noch. Ich will Europa ohne weitere Sünden verlassen«, gestand ich halblaut.

»Die Unsterblichkeit also?«, fragte der Junge mit einem Tonfall, als würde er einen Preis auf eine gewöhnliche Ware vorschlagen. Ich nickte »Bevor wir diesen Handel abschließen, solltest du mir vielleicht noch deinen Name verraten«, der Junge zuckte mit den Schultern »Was nützt dir das?« »Ich vertraue nicht gerne Unbekanntem etwas so kosbares an«. Er richtete sich auf, straffte seine Schultern und stellte sich vor »Sebastian Cartwright«, woraufhin ich erwiderte »Vincent Adrian Bates«.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt