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Erst nach geraumer Zeit schreckte sie hoch, da sie diesen Teil Londons überhaupt nicht kannte. Er war ihr so fremd wie ein weiches Bett und ich ging einfach wie in Trance weiter. Um ehrlich zu sein, weiß ich bis heute nicht, was damals mit mir los war. Vielleicht war es eine Art Hypnose oder ein gewöhnlicher Schock gewesen.

Langsam beschlich Elly Angst. Angst vor dem Unbekanntem, Bösen. Irgendwo auf den Dächern lauerte es und starrte mit leeren Augen auf sie herab. Seine scharfen Klauen waren gewetzt und bereit zuzuschlagen. Vorsichtig sah sie hoch. Die Furcht traf sie wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Ruckartig schnellte sie gegen eine Steinmauer. Hatte sie etwas gesehen?

Überraschte wandte ich mich zu ihr um, immer noch in meinem hypnoseartigen Zustand fragte ich langsam: »Elly? Was ist denn?« Mit zittrigem Zeigefinger deutete sie nach oben. Ihre Lippen formten die Worte: Versteck dich. Argwöhnisch sah ich zum Himmel empor.

Außer der Abenddämmerung, die sich wie ein dunkler Schleier über London legte, fiel mir nichts Beunruhigendes auf. »Da oben ist nichts«, sagte ich in einem Tonfall, als würde ich einem Irren klar machen, dass seine eingebildeten Stimmen nicht echt waren. »Vincent, ich schwöre es dir«, flehte sie und zuckte zusammen.

»Bitte Elly, komm jetzt«, drängte ich und setzte meinen Gang ins Ungewisse fort. »Warte! «, rief Elly und holte mich ein »Wo sind wir überhaupt? « »Das hier ist eine Abkürzung«, erklärte ich trocken. Etwas eingeschüchtert über meinen kalten Ton, beschloss sie, lieber nichts mehr zu sagen oder zu fragen.

Als wir um eine Ecke bogen und ein paar Schritte gegangen waren, spürte Elly eine Kälte im Rücken. Sie kroch durch ihr wollenes Tuch und jegliche andere Bekleidung bis auf ihre bloße Haut. Panisch flüsterte sie immer wieder, so dass ich es unmöglich überhören konnte »Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um...«

»Eleonora«, hauchte ein Windstoß in ihr Ohr. Das bildete sie sich nur ein. Aber da war es schon wieder. »Eleonora. Komm zu mir«, kaum merklich schüttelte sie den Kopf.  »Nein«, hauchte sie zurück. »Eleonora«. Sie wurde wahnsinnig. »Vincent«, flüstere sie eingeschüchtert, »Hörst du das auch? Meinen Namen«, als der letzte Buchstabe aus ihrer trockenen Kehle gedrungen war, spürte sie den schweren schwarzen Mantel der Dunkelheit auf ihren Schultern.

Er drückte sie hinab. Machte ihre Beine schwer wie Blei. Erschöpft sank sie auf die Knie. Es war ein aussichtsloser Kampf. Sie durfte sich nicht umdrehen. Hinter ihr war etwas. Sie spürte es so deutlich wie den kalten, dreckigen Boden unter ihren Knien. Mühevoll streckte sie die Hand nach mir aus, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. Jegliche Kraft schien verloren gegangen zu sein. Sie war allein.

Sie hätte schon längst schreien können, wenn nicht ihre Kehle, wie zugeschnürt wäre. Eine kleine Träne rollte ihre heißen Wangen hinab. Ohrenbetäubende Stille und schreckliche Einsamkeit umgaben sie. Obwohl, ganz alleine war sie ja nicht. Inzwischen konnte sie sich nicht einmal mehr bewegen. Eine lebendige Statue aus Fleisch und Blut. Ein leises Quieken ertönte hinter ihr. Dann immer lauter und lauter. Ratten. Eine ganze Horde von dreckigen Ratten war durch irgendetwas aufgescheucht worden und kam auf sie zu. Ihr Albtraum wurde zur Realität.

Die grauen Vierbeiner würden sie überrennen und vielleicht sogar das Fleisch von ihren Knochen nagen, bei lebendigem Leibe. Man konnte die winzigen unzähligen Pfoten auf den steinernen Untergrund hören. Sie kamen näher. Ekel, Furcht, Angst und unzählige weitere Gefühle übermannten sie. Elly wurde speiübel. Eine Berührung genügte um sie für den Rest ihrer Tage zu verfolgen. Jede Nacht würde sie dann die winzigen Krallen, die nackten Schwänze und das fettige Fell auf ihrer Haut spüren.

»Eleonora, komm zu mir«, flüsterte es wieder. Ihre Gedanken überschlugen sich, vielleicht reichte ein einfaches »Ja« aus, um sie aus dieser misslichen Lage zu befreien. Egal, wer auch immer hinter der Stimme stecken mochte, ein kurzer Gedanke der Zustimmng genügte und sie war frei von den unsichtbaren Fesseln. Sofort rannte sie los. Ohne an ihr stummes Versprechen zu denken, dass ihr die Freiheit bescherte. Nichts ahnend, dass sie bald dafür zu bezahlen hatte.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt