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»Das hast du dir doch sicher nur ausgedacht«, entgegnete sie gereizt, als sie mein Grinsen bemerkte. Sie ließ mich einfach stehen und setzte ihren Weg fort. Mühelos holte ich sie nach ein paar Schritten ein und stellte mich ihr in den Weg.

Feierlich legte ich meine rechte Hand auf meine Brust und sprach: »Ich schwöre, dass ich mir das nicht ausgedacht habe« Elly sah mich ungläubig an und erwiderte: »Du weißt doch, dass ein Christ nicht schwören darf. Und erst recht nicht lügen«, erinnerte sie mich an die Worte unserer Mutter.

»Ich weiß«, gab ich ein wenig genervt von mir, da sie alles immer so ernst nahm, was unsere Mutter sagte. Wir setzten unseren Weg fort. »Aber wie schaffe ich es denn sonst, dich zu überzeugen?«, ließ ich nicht locker. Mit verschränkten Armen lief sie neben mir her.

»Von wem hast du das überhaupt?«, forschte sie nach. »Ich habe vor einigen Tagen ein Gespräch zwischen zwei reisenden Händlern belauscht. Einer von ihnen war in diesem Teil Europas« Elly nickte und schien nun nicht mehr so skeptisch zu sein.

Schließlich gelangten wir zum beliebtesten Versammlungsort Londons, dem Hauptschiff der teilweise zerfallenen Saint Pauls Kathedrale. »Hier muss er irgendwo sein«, überlegte ich halblaut und hielt Ausschau nach unserem Vater.

In den Seitenschiffen gingen Händler ihren unterschiedlichsten Geschäften nach. Die Kunden mussten am Taufstein der ehemaligen Kathedrale ihre Einkäufe bezahlen. An den Säulen trafen sich Anwälte mit ihren Klienten und Arbeitslose hielten Ausschau nach einer Beschäftigung.

Darunter auch unser Vater. Elly hatte jedoch ein ganz anderes Ziel im Auge, den Kirchhof. Er war das Zentrum des Buchhandels in London. Meine Schwester war, obwohl sie wie viele andere nicht lesen konnte, begeistert von den unzähligen Büchern, die dort zum Verkauf angeboten wurden. »Ich wäre auch lieber woanders.

Aber woher soll ich das Geld dafür nehmen?«, seufzte ich in Gedanken. Noch bevor meine neugierige Schwester sich auf den Weg machen konnte, hielt ich sie am Handgelenk zurück. »Zuerst finden wir Vater, dann kannst du zu deinen Büchern«. Beleidigt befreite sie sich aus meinem Griff und hielt sich das schmerzende Handgelenk.

»Na gut«, murmelte sie kleinlaut und folgte mir ohne ein weiteres Wort zu sagen. So drängten wir uns durch die unzähligen Menschen. Plötzlich flüsterte Elly: »Vincent« und deutete mit einer unauffälligen Bewegung mit dem Kopf nach rechts. Mir wurde heiß und kalt.

Um zu flüchten, war es zu spät. Sie hatte uns bereits gesehen und lächelte in meine Richtung. Ein Mädchen mit hüftlangen rabenschwarzen Haaren, die sie seitlich offen trug, bahnte sich zielsicher einen Weg auf uns zu. Es war Grace Holmwood. Sie hatte schon lange ein Auge auf mich geworfen. Wir kannten uns seit unserer Kindheit und sie war fest davon überzeugt, in mir ihre wahre Liebe gefunden zu haben.

Ihre dunkelbraunen Augen funkelten wie Diamanten, als sich unsere Blicke trafen. Als sie mich erreichte, warf sie verführerisch ihre Haare nach hinten. »Wie geht's dir Vincent? Wir haben uns seit ein paar Tagen nicht gesehen. Ich habe mir Sorgen gemacht«, begann sie sogleich. »Es geht mir gut, ich war damit beschäftigt, meiner Mutter zu helfen« antworte ich mürrisch.

»Das kann doch deine Schwester auch alleine machen, oder?«, stichelte sie. Für diese Bemerkung erntete sie von Elly einen Blick, der selbst mir Angst machte. Das selbstsichere Lächeln von Grace verschwand dennoch nicht von ihren Lippen. Unruhig sah ich mich um. Hoffentlich sah uns niemand, der uns kannte.

Ich konnte mich nur allzu gut an die Unterhaltung zwischen ihrem Vater und mir zurückerinnern. Ich spürte immer noch die blauen Flecken am ganzen Körper, denn Grace gehörte einer der angesehendsten und wohlhabendsten Londoner Familien an. Ich selbst kam aus ärmlichen Verhältnissen.

Außerdem war sie, ohne es überhaupt zu wissen, bereits einem anderen Mann versprochen. Elly schnitt hinter ihrem Rücken eine Grimasse mit Kussmund. Auch ich konnte Grace Art nicht leiden. Geschweige denn, konnte ich etwas für sie empfinden. Ich atmete ein paar Mal tief durch. »Grace«, stammelte ich, um es ein für alle Mal klarzustellen.

Ihre Wangen wurden ein wenig rot. Und das war bestimmt nicht wegen der klirrenden Kälte. »Ich denke nicht, dass wir beide...« »Ist es wegen meinem Vater?« unterbrach sie mich bestürzt. Ihr Lächeln wich schlagartig aus ihren Gesichtszügen. Ich sah hinter mich, der Weg war frei. Ich öffnete den Mund, um etwas wie »Wir passen einfach nicht zusammen« zu sagen, aber es kam kein einziger Ton aus meiner Kehle.

»Es tut mir leid«, brachte ich noch halbwegs selbstsicher hervor, bevor ich mich einfach umdrehte und in der Menge verschwand. Ich habe Grace danach nie wieder gesehen. Ich erreichte den Rand des Platzes und lehnte mich erleichtert gegen eine Hauswand. Ich stellte den Korb ab, vergrub beide Hände in den Jackentaschen und hoffte, dass Grace nun endlich Ruhe geben würde.

Es dauerte nicht lange, da kam meine Schwester mit einem schadenfrohen Lächeln angerannt. Ellys Zöpfchen flogen durch die Luft, als sie den letzten Meter auf mich zusprang. Geschickt wich ich ihr aus und sie landete nur ein paar Zentimeter von der Hauswand entfernt auf den Füßen. »Ich dachte du fängst mich«, schmollte sie beleidigt.

Ich ließ meinen Blick über den Platz schweifen. Grace war mir nicht gefolgt. »Ihr neues Parfum bringt mich noch um«, murrte ich und sog einmal tief die Luft ein. »Ach was«, sagte Elly und stellte sich neben mich. »Ich finde, es riecht gut«, während sie sprach, sah sie zu mir hoch und grinste: »Irgendwann will auch so eins haben«

»Träum weiter, Elly«, ließ ich ihre Traumblase mit der spitzen Nadel der Realität platzen. »So etwas wirst du dir nie im Leben leisten können. Wenn du wirklich ein Duftwasser haben willst, dann geh zur Themse, dort gibt es genug von dem« Angewidert rümpfte sie die Nase. »Pfui Teufel«, fluchte sie, »da kann ich mir ja genauso gut...«, sie hielt abrupt inne. »Vincent, siehst du das auch?«

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt