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Zögerlich sah ich in die Richtung in die er deutete »Ja, ich sehe sie«. Jaronas zog an den Zügeln des Pferdes »Ich habe sie schon öfters hier am frühen Morgen herumschleichen sehen. Sie ist nie in Begleitung und scheint auch keine feste Bleibe zu haben«. Er sah mich auffordernd an »Sie gehört dir«. Widerspenstig schüttelte ich den Kopf »Ich kann sie nicht töten«.

Jaronas wollte nicht aufgeben und redete weiter auf mich ein »Sie ist ein gefallenes Mädchen, Vincent. Niemand würde sie vermissen«. Ich versuchte das brennende Gefühl in meiner Kehle mit Gedanken an eine Hölle zu ersticken. Der Durst packte mich schließlich dennoch und zerrte mich vom Pferd. Mit festem Schritt und ohne einen Gedanken an mein Gewissen zu verschwenden ging ich auf sie zu.

In meinem Rücken lag der zufriedene Blick von Jaronas. Ganz kurz schien ich wieder Herr meiner eigenen Sinne zu sein, doch im nächsten spürte ich wider den Schmerz in meinem Rachen. Das Mädchen saß regungslos auf der Stufe einer geschlossenen Taverne und hob erst ihren verschreckten Blick, als ich vor ihr stand. Ihre dunkelgrünen Augen waren leicht gerötet. Ich fühlte nicht wie erwartet Angst oder Reue, sondern sah nur ein rotes Rauschen von Leben das mich förmlich in den Wahnsinn trieb.

Jaronas hatte recht, wie ein wildes Tier ohne Gewissen sah ich auf meine Beute hinunter und fühlte nur diesen Durst der mich aufzehrte. Ich musste ihn stillen, schoss es mir durch den Kopf. Sie war tatsächlich ein gefallenes Mädchen und führte mich im nächsten Moment in eine entlegene Gasse. Gerade war sie dabei das Mieder ihres zerschlissenen Kleides aufzuknöpfen, als ich nach ihrer Hand griff und ihr so Einhalt gebot. »Sir...«, flüsterte sie verängstigt als ich sie im nächsten Moment sanft gegen die raue Steinwand stieß.

Zärtlich, als wäre sie aus Glas, strich ich ihre offenen, verfilzten Haare zurück und ließ das löchrige Tuch von ihren schmalen Schultern gleiten. Die zarten Hände des Mädchens versuchten mich wegzustoßen, doch sie war zu schwach. Mein freier Wille war abhandengekommen und nur noch dieses teuflisches Rot kontrollierte jede Bewegung und jede Gedanken. Meine bebenden Lippen legten sich auf ihre blasse Kehle.

Ohne das ich mir dessen bewusst war, senkten sich schon meine Fangzähne in die kalte, weiche Haut. Ich spürte das Blut meine Zunge benetzen. Die Flüssigkeit rann rasch aus der Wunde und füllte meinen Mund. Ich versuchte mich wegzureißen, aber ich konnte nicht. Ich war in diesem wilden, unbeschreiblichen Rausch gefangen. Es vergingen Minuten, bis ich es schaffte meine Lippen von dem Fleisch zu lösen.

Das Blut des leblosen Mädchens rann über mein Kinn, über den Hals und tränkte meine Kleidung. Jaronas hatte mich die ganze Zeit über wortlos beobachtet. Ich wich erschöpft zurück gegen die Wand. »Verflucht«, zischte ich leise »Es ist wie wenn man Feuer trinkt...«, schilderte ich meinen Eindruck über das gerade Geschehene. Mein Herz klopfte wie wild. Mein rastloser Blick fiel auf das Mädchen am Boden.

All das hatte ich schon einmal erlebt. Nur hatte ich mit Jaronas die Rollen getauscht: Ich war der geheime Zuschauer und er der ahnungslose Mörder. Die blassen Gesichtszüge des Mädchens wirkte so unendlich friedlich, das ich sogar darin eine Art makabren Trost fand.

Mit einer Zufriedenheit, die ich das letzte Mal vor Monaten verspürt hatte, betrat ich die Eingangshalle des Anwesens und spürte die angenehme Wärme auf meiner kalten Haut. Mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den halberfrorenen Lippen folgte ich Jaronas Beispiel und drückte Stephan, der in der Eingangshalle bereits auf uns wartete, meinen Umhang in die Hände.

Zum ersten Mal hörte ich den bisher stummen Unsterblichen sprechen. Mit ruhiger Stimme teilte er Jaronas mit: »Miss Winston ist vor wenigen Minuten eingetroffen. Sie wartet oben bei der jungen Miss Bates« »Ist sie bereit aufgewacht?«, wollte ich sofort darauf wissen. Meine Stimme überschlug sich fast, so aufgeregt war ich plötzlich. Stephan nickte nur leicht stumm in meine Richtung und wandte sich dann der Garderobe zu. Mit einem Schlag schoss ich schon auf die Treppe zu und flog förmlich die Stufen aufwärts.

Jaronas folgte mir mit seiner emotionslosen Gleichgültigkeit. Ich ignorierte die anderen Unsterblichen, die mich als Neuankömmling völlig verdutzt angafften, als ich wie ein Verrückter durch die Galerie hastete. Wahrlich kein bester erster Eindruck, wie ich später feststellen musste. Mit weit aufgerissen Augen stürzte ich in das Schlafzimmer von Elly.

Die junge Frau, die Miss Winston sein musste, sah erschrocken von dem Buch auf ihren Schoß auf. Meine Schwester beachtete mich jedoch gar nicht und forderte Miss Winston bittend auf weiter zu lesen. Erst als ich erleichtert »Elly«, seufzte musterte sie mich auf eine fragende Weise, die mir völlig fremd von ihr war. Mit leicht schiefen Kopf fragte sie schließlich Miss Winston »Blair, wer ist der Junge?«.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt