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Liv:
Ich nahm irgendeine Wegkreuzung. Wie durch Zufall, entdeckte ich eine kleine versteckte Abzweigung und wählte sie. Hier wird mich hoffentlich niemand finden. Der Weg führte immer weiter ins Gebüsch hinein, bis man letztendlich an einem großen Felsen ankommt. Ich zögerte nicht lange und setzte mich hin. Ich ließ meine Füße baumeln und betrachtete mein Knie. Mittlerweile war die Wunde getrocknet, sie brannte aber immer noch wie Hölle. Täusche ich mich oder war mein rechtes Knie deutlich dicker als das linke? Ich holte mein Handy aus der Hosentasche. Fünf verpasste Anrufe von Disse. Ich weiß, dass sich die beiden nur Sorgen um mich machen und es eigentlich nur gut meinen, aber ich will jetzt einfach alleine sein. Ich wollte eigentlich erst gar nicht an ihn denken müssen, doch irgendwie war es unmöglich. Es hat alles so perfekt gewirkt und jetzt das. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er mir das angetan hat. Wieder rollten mir Tränen über die Wange. Ich wählte die Nummer meiner besten Freundin. Ich muss jetzt einfach mit jemanden reden. Ungeduldig wartete ich darauf, dass sie den Anruf entgegennimmt. Doch zu meiner tiefen Enttäuschung meldete sich nur die Mailbox. Sie müsste doch wieder aus Australien zurück sein? Ist sie sauer auf mich und ignoriert mich deswegen? Kann es sein, dass sie mich gar nicht mehr im Ystad haben wollen? Wütend warf ich das Handy ins Gebüsch. Sie können mich alle mal.

Gisli:
Ich hatte Kristín einfach am Sportplatz stehen lassen und war Liv hinterhergerannt. Trotz ihrer Verletzung hatte sie es geschafft mich abzuhängen. Ich war ihr bis zum Wald gefolgt, dann hätte ich ihre Spur verloren. Wütend trat ich gegen einen herumliegenden Stein. Ich bin auch einfach so ein Vollidiot. Wie konnte ich ihr das antuen? Sie hatte schon so viel Pech in ihrem Leben und ich Vollidiot verletze sie derartig? Sie hat mir eins ihrer größten Geheimnisse anvertraut, das sie zuvor niemanden erzählt hat und ich spiele derartig mit ihrem Vertrauen. Ich lief den Weg weiter, obwohl ich es eigentlich schon längst aufgegeben hatte. Auf einmal hörte ich ein Geräusch. Es klang wie ein Handyklingelton. Die Melodie kam mir bekannt vor. Könnte das Livs Handy sein? Jetzt erinnerte ich mich wieder. An dem Abend, an dem sie bei mir auf der Coach eingeschlafen war, hatte ihr Handy geklingelt. Damals hab ich mich gewundert, wer so einen außergewöhnlichen Klingelton hat. Liv! Ich folgte dem Geräusch, in der Hoffnung der Anrufer ist hartnäckig und legt nicht all zu schnell auf. Der Ton wurde immer lauter. Also war ich auf dem richtigen Weg. Erst jetzt fiel mir die kleine Abzweigung auf. Raffiniertes Versteck. Ich versuchte so leise wie möglich zu sein. Ich stolperte über einen Gegenstand. Liv's Handy! Es könnte ihr aus der Hosentasche gefallen sein, als sie hier langgegangen ist. Ich hob es auf und wischte den Dreck von Bildschirm. Dabei leuchtete es auf und ich sah, dass sie ihren Hintergrund geändert hatte. Das Bild war gestern morgen auf der Fähre entstanden, wo noch alles in Butter war. Ich seufzte. Vorsichtig ging ich den Weg weiter. Er führte immer weiter ins Gebüsch, sodass ich echt Zweifel hatte, dass dieser Weg der richtige war. Auf einmal öffnete sich eine Lichtung. Dort saß sie zusammengekauert auf einem Felsen und das alles nur wegen mir. Der Anblick zerbrach mir das Herz. Es fühlte sich gut an, dass ich sie gefunden hatte und wusste, dass sie nicht irgendwo zusammengebrochen im Wald liegt. Trotzdem entschloss ich mich wieder zu gehen. Es sieht nicht so aus, als wäre sie gut darauf mich zu sprechen. Auch wenn ich so gerne ihr alles erklären möchte und mich für mein Verhalten entschuldigen möchte, sie würde es eh nicht hören wollen. Ich entschied mich Lukas und Disse den Standort zu schicken, damit sie sie hier abholen können. Ich hatte gerade die Nachricht abgeschickt und warf ihr einen letzten sehnsüchtigen Blich zu, da drehte sie auf einmal den Kopf und ihre Augen schauten direkt in meine. Ich spürte wie mein Herz schneller zu schlagen begann. „Was willst du?", schluchzte sie und starrte mich wütend an. Was wollte ich eigentlich hier? Die Frage könnte ich selbst nicht beantworten. Ich bin ihr nachgelaufen in der Hoffnung, dass ich mit ihr reden kann. Jetzt hätte ich die Möglichkeit und ziehe den Schwanz ein. Ich starrte sie nur an und sagte nichts. Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Langsam rollte eine Träne nach dem anderen über mein Gesicht. Ich glaube ich bin jetzt an dem Punkt angelangt, an welchem mir bewusst ist was ich angerichtet habe. „Wenn du nichts zu sagen hast, dann bitte verschwinde", fauchte sie. Ich starrte sie weiterhin wortlos an. Ich war wie versteinert. „Wenn du nicht gehst, dann geh eben ich", beschloss sie, stand auf und wollte gerade an mir vorbei, den Weg zurückgehen, da fasste meine Hand automatisch nach ihrer Hand. Sie blieb ruckartig stehen. Ich erwartete alles mögliche. Das sie mich mit einem hasserfüllten Blick anstarrte, dass sie mir eine Ohrfeige verpasst, doch nichts von dem geschah. Sie drehte sich um und schaute mich mit ihren einblauen Augen an. Der kleine Teil von ihrem Auge, der sonst kastanienbraun schimmert, wirkte irgendwie dunkler. Ihre Augen waren gerötet. Ich spürte ihre Hand in meiner. Ich warf einen besorgten Blick auf ihre Handflächen. Sie waren leicht aufgeschürft. Das war alles meine Schuld. Ich spürte wie ihr Atem wieder schneller wurde. Wir standen beide wie angewurzelt da und schauten uns tief in die Augen.

Spiel um Spiel, Lüge um Lüge und wann sieht er es ein?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt