118

324 14 1
                                    


SAMU

Ich fühle, wie mir gerade zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit der Boden unter den Füßen weg gezogen wird. „Was?" frage ich mit belegter Stimme, obwohl ich weiß, dass es völlig blödsinnig ist, denn ich habe genau verstanden, was Mikko mir gerade gesagt hat. Die schmerzliche Information, die in diesen Worten steckt ist nur noch nicht wirklich bis in mein Bewusstsein vorgedrungen. „Es tut mir sehr leid, Samu", schiebt Mikko hinterher und ich glaube ihm das sogar. Ein wenig hilflos und auch unsicher, was jetzt passiert, beobachtet er jede meiner Bewegungen. Wahrscheinlich wartet er auf irgendeine Reaktion, auf einen Ausbruch, einen Zusammenbruch oder was auch immer, aber ich bin unfähig, mich zu bewegen. Ich stehe da wie eine Statue und starre ins Leere. Erst, als mir etwas auf meinen Arm tropft, erwache ich aus meiner Trance und stelle fest, dass es Tränen sind, die von meinem Gesicht heruntertropfen. Ich sacke auf den Boden zusammen und schluchze jetzt richtig, wie ein Kind. Sami kommt sofort und hockt sich zu mir. Er nimmt mich in den Arm, weil er spürt, dass das jetzt wohl das einzig Richtige ist, was man tun kann, denn keine Worte der Welt können mich trösten. Beruhigend streicht er mir immer wieder über den Rücken und hält mich fest, bis ich mich endlich wieder ein wenig beruhigen kann. „Kannst du aufstehen, mein Großer?", fragt er mich fürsorglich. Ich nicke und er zieht mich an seinen starken Armen hoch, bis ich wieder aufrecht stehe. Mir ist ein bisschen schwindelig. Jukka hält mir ein Taschentuch unter die Nase. Dankbar nehme ich es und wische mir damit die Tränen weg. Alle Augen sind auf mich gerichtet und mir wird bewusst, dass wir ja proben wollten. Deshalb sind wir hier. Ich versuche, meine Gefühle und meinen Kummer für einen Moment abzustellen und atme einmal tief ein. „Los Jungs, lasst uns proben. Wir haben eh schon nicht viel Zeit bis zu den ersten Konzerten." Schweigend schnappt sich jeder sein Instrument, Sami setzt sich hinter sein Schlagzeug, lässt mich aber keine Sekunde aus den Augen. Ich kann seine Sorge darin erkennen. Wir versuchen, erstmal ein paar von den alten Songs zu spielen, die wir wohl auch nach Jahren in- und auswendig können, wie Fairytale gone bad, Hollywood Hills und Lifesaver, einfach um wieder das Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist oder war, miteinander zu spielen, sich aufeinander abzustimmen und aufeinander zu hören. Wir bringen es irgendwie über die Bühne, aber es klingt nicht gut, wir patzen oft, es ist kein Leben und keine Seele in den Songs, das merkt vor allen Dingen an meinem Gesang und daran, dass nicht Riku an der Leadgitarre steht, sondern Jukka. Ich mein, ich bin ihm total dankbar, dass er uns hilft und er ist ein brillianter Musiker, aber wenn Rick spielt, dann klingt es anders, runder, gefühlvoller, jeder Ton sitzt da, wo er sitzen muss. Ich kann das schwer beschreiben. Wenn ich singe, richte ich mich vor allen Dingen nach ihm, nach seinem Spiel. Wir verstehen uns blind, wenn wir zusammen Musik machen und ich fühle mich ohne ihn nicht komplett. Nach ein paar Songs hat Mikko glaub ich, die Schnauze voll von unserem dilettantischen Versuch, dem Namen „Sunrise Avenue" wieder Leben einzuhauchen. „Ok Jungs, lasst es gut sein für heute, wir proben morgen weiter. Ich glaube, wir brauchen alle erstmal eine Pause. Geht nach Hause, schlaft euch aus und dann geht es morgen weiter." Ich gucke auf die Uhr. Es ist später Nachmittag und soeben habe ich einen Entschluss gefasst. Wenn ich Glück habe, dann klappt mein Plan, auch wenn Mikko mir wahrscheinlich für meinen Alleingang den Kopf abreißen wird. Ich packe meinen Kram zusammen und verabschiede mich von den anderen. „Können wir dich wirklich allein lassen?", hakt Osmo nochmal besorgt nach. „Ja, geht schon. Ich mach keinen Scheiß. Versprochen." Er seufzt. „Na gut, wenn du mich brauchst, dann ruf mich an oder einen von uns, ok?" Ich rolle mit den Augen. „Ich verspreche es." Ungern lässt er mich jetzt ins Autosteigen. Als ich endlich die Tür geschlossen habe, verbinde ich das Handy mit meiner Freisprecheinrichtung und suche die Nummer heraus. Schon klingelt es. Ich hoffe so sehr, dass alles glatt geht, sonst habe ich wirklich ein großes Problem. 

Do we love it enough to come back home?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt