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Mit Snö an ihrer Seite begleitete Ubald sie zum Anleger auf der Nordseite der Insel, von wo aus regelmäßig Schiffe die kurze Strecke zum Festland hin und her pendelten. Pilger und Reisende ohne großes Gepäck konnten mit etwas Glück mit übersetzen und sie fanden dann auch eine Fähre, die sich gerade zum Ablegen bereit machte. Es war Hardrich ein Bedürfnis, Ubald wissen zu lassen, wie sehr er ihn schätzen gelernt hatte. Ihn und seine Geschichten. Sein Geschenk der fremden Sprache. Doch wie so oft fand er keine rechten Worte.

„Danke für alles", murmelte er.

Ubald verstand. Er lächelte, nickte und umarmte sie beide.

„Gottes Segen auf den Weg!", rief er ihnen nach und winkte noch lange, während ihr Boot langsam davon glitt.

Das Wegenetz durch die Ebene nordwestlich von Venedig war gut ausgebaut und es war viel Volk unterwegs. Die erste Nacht bekamen sie einen Platz am großen Feuer eines Handelstrupps und schliefen unter einem der Wagen. Gerne hätten sie sich dem Tross angeschlossen, doch zu Fuß konnten sie nicht mithalten und ohnehin war dessen Ziel das westlich gelegene Mailand.

Je weiter sie nach Norden kamen, umso leerer wurden die Straßen. Den Weg in die Berge nahmen um diese Jahreszeit nicht mehr viele Leute. Lediglich einige Reiter überholten sie noch. Zunächst hatten sie weiter Glück mit dem Wetter und kamen recht ordentlich voran. Hardrich bemerkte erfreut, dass er beim Wandern immer weniger auf seine Krücken angewiesen war. Er hatte deutlich an Kraft und Kontrolle gewonnen in den letzten Wochen, was ihn mit Erleichterung erfüllte. Noch mochte er sich aber nicht von seinen kostbaren Gehhilfen trennen, auch wenn er sie streckenweise eher als Wanderstäbe nutzte.

Auf diesem Wegstück fanden sie Unterschlupf in einem leerstehenden Viehschuppen und hinter diesem entdeckte Snö einen zerrissenen Getreidesack, den sie mit hoch erhobenen Kopf heranschleppte und Torbjörn zu einem Zerrspielchen aufforderte. Mit ihm tobte sie herum und zwickte ihn im Überschwang auch schon einmal in den Finger. Hardrich hingegen begegnete sie deutlich unterwürfiger, wenn auch nicht weniger freudig. Als dieser sie jetzt heran rief, gehorchte sie nach nur kurzem Zögern und gab auch ihr Spielzeug ohne Widerstand an ihn ab. Mit Torbjörns Messer schnitt Hardrich den groben Stoff in Streifen und umwickelte damit seine bloßen Füße. Es wurde nun immer kälter und trotz des Feuers, das sie dank Torbjörns Feuerschläger beim Dunkelwerden entzündeten, froren sie nachts empfindlich.

Am nächsten Morgen passierten sie ein einsam gelegenes Gehöft und Torbjörn wies mit einem Nicken hinüber. Dort hing Wäsche zum Trocknen auf der Leine. Neben Laken und Hemden auch ein Mantelumhang. Sehnsüchtig blickte Hardrich auf das unscheinbare Stück Stoff und es erschien ihm gerade kostbarer als ein Dutzend goldener Pokale. Es war vielleicht das einzige, was ihn vor dem Kältetod bewahrte und seine Heimkehr ermöglichte. War es nicht legitim, es einfach zu nehmen? Er hatte Menschen erschlagen, ohne nur halb soviel darüber nachzudenken.

Doch ihr Interesse war nicht unbeobachtet geblieben. Während von Aven noch auf die Leine starrte, traten vier Männer aus dem Haus. Wahrscheinlich der Bauer und seine Söhne oder Knechte. Alles handfeste Kerle, die ihnen klar und deutlich zu verstehen gaben, dass es hier nichts zu holen gab. Hardrich und Torbjörn waren beileibe nicht wehrlos, doch auf eine körperliche Auseinandersetzung wegen eines Mantels würden sie sich nicht einlassen. Ihre Kräfte waren kostbar und eine Verletzung in ihrer ohnehin prekären Lage war das Letzte, was sie jetzt riskieren durften. Rasch zogen sie weiter.

In den Dörfern, durch die sie kamen, bettelten sie an den Türen um etwas zu essen und bekamen hier und da etwas zugesteckt. Einmal passten sie mit Glück einen Gottesdienst ab und stellten sich in die Reihe der Bittsteller am Ausgang. Noch immer kostete dies von Aven große Überwindung. Aber sie hatten die kleinen Münzen, mit denen sie Nahrung kaufen konnten, bitter nötig und Torbjörn war nicht wenig beeindruckt, als Hardrich ihm die Bettelratschläge weitergab, die er von Jean Philipe erhalten hatte.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt