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Sie wollten gerade aufbrechen, als ihr etwas einfiel, an das sie seit Wochen nicht gedacht hatte.
„Einen Augenblick noch...", murmelte sie halblaut und ritt noch einmal zur Front des Hauses zurück.
Von ihrer erhöhten Position im Sattel aus, blickte sie in die Fensteröffnung des Raumes, der vormals das Studierzimmer des Gutsherrn gewesen war. Suchend glitt ihr Blick über die Trümmer im Innern. An der geschwärzten Innenwand ihr gegenüber erkannte Gertraud an der Wölbung des gemauerten Schornsteins noch die ungefähre Lage des Kamins. Doch der Schutt des oberen Geschosses, des Daches und des oberen Teils des Schlotes türmte sich vor der Stelle, an der sie das verborgene Fach in der Wand vermutete. Es würde Stunden dauern, alles fortzuschaffen und sich Gewissheit über der Verbleib des Goldes zu verschaffen, das dort für sie eingelagert worden war. Und sie beschloss, jetzt nichts weiter zu unternehmen. Wenn das Gold noch dort lag, konnte es genauso gut noch weiter dort liegen bleiben. Hier würde niemand mehr etwas Wertvolles vermuten. Und wenn es fort war? Wenn es fort war, konnte sie es auch nicht ändern und im Augenblick waren andere Dinge wichtiger, entschied sie.
Ihr leiblicher Vater, die Brüder... Und ihre kleine Schwester.
Sie warf einen letzten wehmütigen Blick über das zerstörte Anwesen. Dann riss sich los, richtete sich im Sattel auf und kehrte an Wichards Seite zurück.
„Wir können los", sagte sie entschlossen.

Sie hatte es befürchtet. Schon von dem Moment an, als sie das alte Siegel in Beats Hand gesehen hatte. Und doch war das, was sie wenig später im Dorf vorfanden und erfuhren, schlimmer als alles, was sich Gertraud in den Stunden, in denen sie wach gelegen und gegrübelt hatte, hätte ausmalen können.
Ihr Elternhaus war niedergebrannt. Schänke, Wohngebäude, Brauhaus und Mälzerei. Kein Stein stand mehr auf dem anderen. Vollkommen außer sich, war Gertraud ein paar Häuser weiter geritten. Bis zu dem niedrigen Katen, von dem sie wusste, dass ihre Küchenfrau Grete dort wohnte. Oder gewohnt hatte.
Gretes Tochter hatte auf ihr heftiges Klopfen hin geöffnet. Und als sie sie erkannte, hatte die Frau sich erst entsetzt bekreuzigt und sie dann unter zornigen Tränen beschimpft, sie trüge die Schuld an allem. Nur ihretwegen seien nun alle tot!Dann war ein Mann an der Tür erschienen, der die weinende Frau barsch zurück ins Haus schickte. Grußlos und mit verschränkten Armen stand der Mann in der offenen Tür und bedachte Wichard, der mit blanker Waffe in der Hand neben Gertraud stand, mit einem finsteren Blick.
Gertraud kannte ihn. Er und seine Frau betrieben eine kleine Landwirtschaft, wie so viele ihrer ehemaligen Nachbarn im Dorf.
„Was willst Du?", fragte der Mann endlich abweisend.
„Pass auf, wie Du redest!", bellte Wichard ihn an,doch Gertraud hob beschwichtigend eine Hand und sagte gequält:
„Bitte... Ich muss wissen, was passiert ist!"
Voller Argwohn sah der Mann auf den vermummten Bewaffneten, begann dann aber stockend zu erzählen.
Mitte Januar war urplötzlich ein Haufen dänischer Söldner in der Schänke aufgetaucht. Am Abend vor Kirchtag. Als der Schankraum voller Leute war. Und der Anführer hatte laut gefragt, ob dies nicht das Haus der Hexe von Aven sei. Alles hatte geschwiegen und die Fremden entgeistert angestarrt. Dann aber war ihr Vater vorgetreten, halbblind wie er da schon war.
„Wollte wohl mit denen reden. Aber sie haben ihn bloß herumgeschubst und verspottet. Bis Adam mit einem Feuerhaken auf sie los ist. Der Hitzkopf...", meinte der Mann düster und seufzte kopfschüttelnd.
Gertraud konnte kaum atmen.
Doch als der Mann nicht weitersprach, zwang sie sich, zu fragen:
„Und dann?"
„Und dann?", fragte der Mann aufgebracht zurück, „Was glaubst Du wohl? Erschlagen haben sie Deinen Bruder! Danach den Alten! Und damit ist es ihnen besser ergangen, als manchem der anderen!"
Wichard machte Anstalten, den Mann am Kragen zu packen, aber wieder unterbrach Gertraud ihn und sagte mit brüchiger Stimme:
„Falkon, bitte! Lasst ihn sprechen."
„Das soll er auch, aber mit dem nötigen Respekt! Weißt Du nicht, wen Du hier vor Dir hast, Mann?", fuhr Wichard den Dörfler an.
„Sie haben gesagt, Du – er nickte zu Gertraud hin – bist jetzt die Metze des Ketzerfürsten. Du liegst bei ihm, betest mit ihm die fremden Götter an und feierst schwarze Messen auf dem Grab des alten Markgrafen Otto..."
Diese boshaften Verleumdungen trafen Gertraud schmerzhaft tief. Tiefer als sie für möglich gehalten hätte. Verletzt keuchte sie auf. Bevor sie noch irgendetwas zu ihrer Rechtfertigung sagen konnte, hatte Wichard schon ein empörtes Knurren ausgestoßen und dem Bauern die Klinge an die Kehle gesetzt.
„Wie kannst Du es wagen, solche ungeheuerlichen Lügen auszusprechen!", zischte er ihn an.
„Albrecht!", beschwor Gertraud ihr verängstigtes Gegenüber, „Ich war deren Gefangene! Sie haben vor meinen Augen unseren guten Herrn von Trettin ermordet! Sie haben mir mein Kind aus dem Leib geprügelt! Niemals würde ich mit diesen Ungeheuern gemeinsame Sache machen! Du kennst mich seit wir beide Kinder waren! Das sind gemeine Lügen!"
Aus dem Hausinneren stürzte jetzt die Frau wieder zu ihnen und warf sich Wichard zu Füßen.
„Bitte, Herr! Ich flehe Euch an! Tut ihm nichts! Es sind doch schon so viele umgekommen! Achtzehn frische Gräber auf dem Friedhof! Achtzehn!", heulte sie und rang die Hände.
„Wir werden keinem hier irgendetwas tun, Berthe! Aber bei Gott! Was ist passiert? Was ist mit ... den anderen?", erwiderte Gertraud aufgelöst, jetzt selber fast am Schreien.
Die Frau kam wieder auf die Füße, Wichard ließ die Klinge sinken und sie erfuhren schließlich den Fortgang der Geschichte.
Die Dänen hatten alle anwesenden Männer in der Schänke halbtot geprügelt und die Frauen auf den hölzernen Dielen angepflockt, indem sie ihnen Messer durch die Handflächen getrieben hatten. Dann hatten sie sie vergewaltigt. Wieder und wieder. Und nachdem sie sich alle betrunken und das Anwesen geplündert hatten, war es in Brand gesteckt worden. Teilweise bei noch lebendigem Leib verbrannten die Verletzten im Innern.
Die übrigen Dorfbewohner hatten sich derweil in den Wald geflüchtet. Von dort aus hörten sie die grässlichen Schreie und sahen die Schänke in Flammen aufgehen.
Die Dänen waren anschließend zum Gut weitergezogen, wo sie die Nacht verbrachten. Und am nächsten Morgen schließlich, bevor sie endlich davon ritten, hatten sie auch dort noch das Feuer gelegt.
Gertraud suchte taumelnd Halt am Türrahmen.
Tot. Alle tot. Ausgelöscht. Für immer fort. So dröhnte es in ihrem Kopf. Ihre aufkommenden Tränen versiegten, denn das Entsetzen lähmte ihren Verstand und sie schien mit einem Mal nicht mehr fähig, überhaupt etwas zu fühlen. Sie schwankte. Ihre Knie gaben nach und Wichard konnte sie gerade eben noch auffangen.
Albrecht winkte sie nun doch hinein in die ärmliche Wohnküche, die sich hinter der Tür auftat und von Dühring half der Markgräfin zu einem Schemel am Feuer.
Gertraud suchte Berthes Blick und fragte kaum hörbar:
„Rike?"
Da sahen sich die Eheleute an und schwiegen. Gertraud bekam es mit der Angst zu tun. Hatte der Däne ihre kleine Schwester am Ende mit sich genommen? Wie Hildegard?
„Sag! Oh, Gott, sag! Was ist mit Rike?", schrie sie flehentlich.
Berthe sah die echte Verzweiflung in ihrem Gesicht und antwortete endlich. Sie schüttelte den Kopf und lächelte sogar ein wenig.
„Sie lebt. Sie ist davon gekommen."
Gertraud schloss die Augen und stöhnte auf, erfüllt von grenzenloser Erleichterung.
„Sie konnte fliehen. Sogar zusammen mit Sines Kleinem. Einer der Dänen hat ihr geholfen", erzählte Albrecht weiter.
„Was?", entfuhr es Gertraud heiser.
„Ja, stell Dir vor! Sie war oben mit dem Jungen. Sieben Wochen alt war der Wurm. Und der Kleine greinte und ließ sich nicht beruhigen. Das muss jemand von denen gehört haben. Denn einer kam die Stiege hoch. Rike hat erzählt, dass er sie sah, den Finger an die Lippen legte und sich kurz umschaute. Dann hat er rasch eine Öffnung ins Dach gebrochen. Ein paar Sparren hat er aufgehebelt mit seiner Klinge und mit ein paar Tritten das Reet entfernt, während unten seine Kameraden johlten. Dann hat er die beiden am Bettzeug nach draußen hinabgelassen und zu Rike hat er gesagt, sie soll mit dem Kind weglaufen und sich verstecken", berichtete Berthe eifrig.
„Weißt man den Namen?", fragte Gertraud und hatte bereits eine Ahnung, wer es gewesen war.
„Nein. So ein Dicker war es, hat sie gesagt. Mit Sommersprossen und ganz hellem Haar."
Gertraud nickte.
„Gott segne Dich, Kjeld", dachte sie dankbar.
Doch sie behielt den Namen für sich und sagte nur:
„Gott sei Dank! Wo ist sie jetzt?"
Aber Albrecht und Berthe warfen einen misstrauischen Blick auf den vermummten Soldaten an ihrer Seite und schwiegen eisern. Gertraud seufzte.
Sie vermutete, dass Sines Schwägerin die beiden zu sich genommen hatte. Sie wusste ja von Sine, dass deren Bruder mit den Kreuzfahrern gezogen war, aber dessen Frau und Familie lebte auf einem großen Hof ein gutes Stück außerhalb des Dorfes.Doch sie verstand die Sorge der Leute und drang nicht weiter in sie.
„Ist schon recht. Ihr müsst es nicht sagen. Aber ist sie dort, wo sie ist, in Sicherheit?", fragte sie deshalb.
Berthe nickte und antwortete:
„Ja. Es geht ihr gut dort."
„Danke. Oh, großer Gott...", hauchte die Markgräfin entgeistert und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
Einen Moment lang herrschte betroffenes Schweigen, bis Gertraud die Hände sinken ließ und leise bat:
„Wenn Du sie siehst, richte ihr von mir aus, dass sie nicht allein ist und ich jeden Tag an sie denke. Aber im Moment..."
Sie verstummte und sah Wichard fragend an. Der schüttelte den Kopf.
„Im Moment ist es an unserem Ende auch alles andere als sicher. Wir sind neulich nur knapp ihren Häschern entkommen. Aber ich werde mich ihrer annehmen, sobald die Zeiten wieder andere sind. Sagst Du ihr das?", fuhr Gertraud dann wie benommen fort.
Berthe versprach es und bot schüchtern etwas zu trinken an. Die Markgräfin nahm einen Schluck des angebotenen Bieres, doch Wichard lehnte ab.
Er räusperte sich und sagte ernst:
„Wir sollten uns bald auf den Rückweg machen, Frau von Aven."
„Ja... ja. Ihr habt recht. Nur eins noch... Ist denn auch Rupert hier irgendwo untergekommen?", fragte sie die Eheleute.
Da sahen sich die beiden Dörfler überrascht an.
„Nein. Den haben wir ewig nicht gesehen", brummte Albrecht nachdenklich.
„Bei der Messe an Heiligtag. Da war er hier. Saß ganz verloren auf seinem Platz. So ganz ohne den Herrn von Trettin... Das dachte ich noch so bei mir, als ich ihn sah. Hatte er nicht wegen des Daches mit Dir gesprochen?", fragte Berthe ihren Mann dann.
„Ja. Stimmt. Aber als wir nach den Feiertagen zum Gut kamen wegen der Arbeiten, öffnete niemand. Dann sprach sich herum, dass die Burg gefallen war und wir haben gedacht, dass er wohl in die Stadt zurückgekehrt sein muss", antwortete dieser und rieb sich das Kinn.
Wichard drängte zum Aufbruch. Er half Gertraud, die wie abwesend immer noch unsicher auf den Beine war, in den Sattel zu steigen.
Da fragte Albrecht:
„Herr... Stimmt es, dass es Widerstand gibt? Gegen die neuen Herrn, meine ich?"
„Ja. Im Nordwesten. Im Lehen von Meez fing es an. Und ich sage Euch noch etwas. Bald genug werden wir es nur noch mit den Dänen zu tun haben. Denn aus der Burg ist zu hören, dass die Kumanen abziehen werden, sobald das Frostwetter nachlässt. Jetzt, da der Khan tot ist."
Der Landmann riss die Augen auf und seine Stimme klang ungläubig, als er weiter fragte:
„Dann ist es wahr, was man aus der Stadt hört? Der Khan ist wirklich tot? Woher wisst Ihr das so sicher?"
„Ich weiß es sicher, weil ich ihn selber getötet habe, als ich die Markgräfin befreite", antwortete Wichard ruhig und schwang sich aufs Pferd.
Ehrfürchtig starrten die Dörfler ihn an.
Wichard reckte sich und sagte streng:
„Die Kumanen sind nun ohne Anführer. Welchem seiner Söhne es gelingt, seinen Platz einzunehmen, wird sich wohl erst in Monaten zeigen. Und es kann uns auch einerlei sein. Wichtig ist, dass die Ketzer jetzt nach Hause zurückkehren werden, um den Willen des nächsten Khan in Erfahrung zu bringen und zu erfüllen. Und ob der diesen Irrsinn hier in der Ostmark weiterführt, ist mehr als fraglich. Mit den Männern die de Allinge nach dem Abzug seiner Verbündeten bleiben, lässt sich bestenfalls die Burg und die Stadt halten. Vielleicht noch eines der Lehen, aber niemals die ganze Mark! Dann sind sie verwundbar. Wer weiß? Vielleicht gelingt es uns, die Mark zurückzugewinnen, noch bevor der Ritter mit unseren Leuten wiederkehrt. Und dies hier – er nickte in Richtung des abgebrannten Anwesens – wird gerächt werden. Darauf habt Ihr mein Wort. Erzählt das herum! Und keine Lügenmärchen mehr über meine Herrin!"
Betreten standen die Bauersleute vor dem Haus und verbeugten sich tief, als Wichard und Gertraud davon ritten.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt