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Als Gertraud am anderen Morgen erwachte, war es bereits hell. Blinzelnd sah sie auf hohe weiß getünchte Wände und einen großen Kamin. Es dauerte eine Weile, bis ihr die Geschehnisse des gestrigen Tages wieder bewusst wurden und sie erkannte, wo sie war. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie bemerkte, dass sie in das weiche Fell eingekuschelt gewesen war und sah sich um. Das Bett neben ihr war leer, aber die Kissen waren zerwühlt. Hatte sie sich derart hin und her gewälzt? Dann fiel ihr Blick auf das Paar Stiefel und den Harnisch, der auf der Bank lag und sie erschrak. Er war hier gewesen! War es möglich, dass er ihr im Schlaf etwas angetan hatte? Hastig untersuchte sie ihr Kleid und befühlte ihren Leib. Aber es schmerzte nichts. Alles war wie gestern. Sie stand auf und warf vorsichtig einen Blick ins Schreibzimmer. Dort war alles unverändert. Dann kehrte sie grübelnd ins Schlafzimmer zurück und begann, die Betten aufzuschütteln und in Ordnung zu bringen. Plötzlich stieg ihr ein fremder Geruch in die Nase, und eine dunkle Ahnung überkam sie. Sie drückte das Kissen vors Gesicht und schloss die Augen. Zuhause konnte sie allein am Geruch der Wäschestücke erkennen, wer diese getragen hatte. Und was sie hier roch, war durchdringend und wild, Schweiß und Rauch, fremd und streng und doch auf eine seltsame Art unwiderstehlich. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass er hier in diesem Bett, neben ihr gelegen hatte! Ihr wurde schwindlig. Sie stieß das Kissen von sich und taumelte auf die Bank hinter sich. Dabei stieß sie den schweren Harnisch um. Scheppernd landete er neben den Stiefeln am Boden.
"Na?", tönte es im nächsten Moment aus der Badestube, "Endlich aufgestanden?"
Sie zuckte zusammen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Tür zum Zimmer auf der anderen Seite nur angelehnt war. Sie hörte leise Wasser plätschern. Er war hier. Im Nebenzimmer.
"Na, Gertraud Kerner, hat es dir die Sprache verschlagen? Komm nur herein", hörte sie seine Stimme herausfordernd von nebenan.
Sie klopfte sachte, ergriff die Klinke und schob die Tür schließlich langsam auf. Feuchtwarme Luft schlug ihr entgegen. Vorsichtig reckte sie den Hals und lugte um die Türkante. Er saß zurückgelehnt in dem hölzernen Bottich, bis zu den Achseln im dampfenden Wasser, den Helm auf dem Kopf.
"Herr ...", erschrocken zog sie sich zurück, "Ihr seid im Bade. Ich kann doch nicht..."
"Doch, doch, du kannst. Setz dich dort auf den Tisch. Nun mach schon!", erwiderte er mit befehlsgewohnter Stimme.
Die Augen niedergeschlagen, betrat sie den dunstigen Raum und ging zu dem halbhohen länglichen Tisch hinüber. Sie setzte sich und sah ihn dann scheu an. Schweigen kehrte ein. Er musterte sie weiter und ihr wurde unbehaglich zumute. Scheu sah sie im Raum umher. Jetzt im Tageslicht sah man die feine Oberfläche und grau geäderte Beschaffenheit der Wände noch besser.
"Ist das Marmor, Herr?", entfuhr ihr die Frage.
"Ob das Marmor ist?", fragte er verdutzt zurück, "Bist du eigentlich noch ganz richtig im Kopf? Jedermann in diesem Lande wirft sich vor Angst schlotternd zu Boden, wenn er mich sieht und Du sitzt hier vor mir und fragst mich allen Ernstes, ob das Marmor ist?"
Gertraud konnte ein schelmisches Lächeln nicht unterdrücken.
"Etwas in der Art hat mich mein Bruder auch gefragt, nachdem Ihr fortgeritten wart, neulich. Aber nein, ich denke, mit meinem Kopf ist schon alles in Ordnung."
"Dann bist Du also ganz besonders tapfer, was? Vielleicht auch einfach schlecht erzogen, dass Du nicht weißt, was sich gehört? Oder Du hast am Ende immer noch nicht begriffen, wen Du hier vor dir hast?", fragte er lauernd und tauchte bis zum Mund im Wasser unter.
"Ich hoffe nicht, dass ich es irgendwann an Höflichkeit und Respekt Euch gegenüber habe mangeln lassen, Herr von Aven. Doch sind mir die städtischen Gepflogenheiten fremd, das ist wahr. Nie hätte ich mir träumen lassen, Euch beim Bade Gesellschaft leisten zu dürfen", antwortete sie mit einem unschuldigen Lächeln.
Prustend tauchte Hardrich auf. Wasser schwappte über den Wannenrand.
"Weib!", hustete er, "Es sind schon Köpfe gerollt aus weit geringerem Anlass in diesem Haus!", fuhr er fort, immer noch hustend.
Es lag aber kein wirklicher Unmut in seiner Stimme. Gertraud sah ihn verschmitzt an und baumelte mit den Beinen. Gerade wollte sie noch etwas erwidern, als es an der Tür zum Gang klopfte.
Eine Stimme mit ungewöhnlichem Klang sagte:
"Herr, ich bin es. Hassan."
Mit einer Handbewegung scheuchte Hardrich Gertraud zurück ins Nebenzimmer. Sie sprang auf, war mit ein paar Schritten aus der Tür und zog diese hinter sich zu.
Sie hörte Hardrich rufen:
"Komm rein."
Jemand trat ein und sie vernahm Gesprächsfetzen, gedämpft durch die schwere Tür, hinter der sie stand. Wasser plätscherte. Sie überlegte noch einen Moment und sah dann mit klopfendem Herzen durchs Schlüsselloch. Hardrich legte sich gerade bäuchlings und mit einem Tuch um die Hüfte auf den länglichen Tisch, auf dem sie gesessen hatte. Ein fremdartig aussehender Mann trat heran und goss sich aus einer grünlichen Flasche eine ölige Flüssigkeit in die hohle Hand. Während er dann begann, den Ritter zu massieren, betrachtete Gertraud ihn. Er trug ein Paar weite, weiße Beinkleider, ein eben solches langes Hemd und geflochtene Sandalen. Die Farbe seiner Haut hatte nicht das Schwarz der Mohren, die Gertraud auf manchen Abbildungen in Büchern gesehen hatte, war aber dunkler als gewöhnlich. Sein Kopf war kahl rasiert und in einem Ohr trug er einen dicken, goldenen Ring. Augen und Brauen waren so schwarz wie die Nacht. Schweißperlen begannen auf seiner braunen Haut zu glänzen, je länger er den Körper des Ritters bearbeitete. Fasziniert sah Gertraud, wie er mit geschmeidigen Bewegungen routiniert Muskeln und Gewebe walkte und knetete. Hin und wieder keuchte der Ritter auf unter den kräftigen Händen des Masseurs, der aber unbeirrt fortfuhr und sich nur manchmal mit einem um die Schultern gelegten Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. Rhythmisch griffen und klatschten die dunklen Finger den Rücken entlang, dehnten und lockerten Arme und Beine. Besonders eingehend bearbeitete er Hardrichs Nacken und Schultern und rieb am Ende den ölglänzenden Körper mit einem frischen Tuch ab. Hardrich setzte sich auf und streckte wohlig die Arme. Der Mann stand noch vor ihm und rieb auch seine öligen Hände mit dem Tuch ab. Er sagte leise etwas, das Gertraud nicht verstand.
Daraufhin hörte sie den Ritter antworten:
"Schick in herein, wenn Du gehst."
Der Mann verbeugte sich wortlos und verschwand aus Gertrauds Gesichtskreis. Sie hörte die Tür gehen, konnte den Eintretenden aber nicht sehen.
Dann sagte eine ihr bekannte Stimme:
"Guten Morgen, Herr."
"Morgen, Wichard. Was gibt es denn schon wieder Wichtiges, dass ich nicht einmal in Ruhe baden kann?", fragte der Ritter gutgelaunt.
"Verzeiht die Störung. Es ist auch nicht so wichtig, aber ich dachte nur... Ich wollte...,dass heißt, wenn Ihr mich entbehren könnt, nach Hause zur Familie und... Nun ich dachte, auf dem Wege könnte ich vielleicht die junge Frau, mit zurück bringen. Ihr wisst schon. Die, die ich gestern mit hierher nahm", hörte sie ihn verlegen sagen.
Sie sah, wie alle gute Laune von Hardrich abfiel. Er erstarrte.
Und seine Stimme war kalt, als er von Dühring ins Wort fiel:
"Sie bleibt. Und zwar so lange, bis ich sage, dass sie gehen kann und nicht früher. Du magst nach Hause zurückkehren. Bis eine Woche vor dem Herbstturnier. Sonst noch was?"
"Nein Herr, das wäre alles. Dann werde ich mal reiten. Ich... äh. Bis in vier Wochen also. Auf Wiedersehen, Herr", verabschiedete sich der junge Hauptmann betreten.
Gertraud riss sich von der Tür los, lief eilig ins Nebenzimmer, zog leise die Tür zu und setzte sich auf die Bank unter den Fenstern. Im nächsten Moment hörte sie nebenan die Tür auffliegen und krachend an die Wand schlagen.
Sie hörte ihn gedämpft etwas fluchen und dann laut sagen:
"Ich werde mich jetzt ankleiden. Du wartest da drüben!"
Wenig später trat er ein. Er trug schwarze Beinkleider, schlichte braune Schuhe und ein hellbraunes Wams mit einer schwarzen Lederweste darüber. Eine schwere silberne Kette lag ihm um die Schultern. Und er hatte sein Schwert umgegürtet.
Er ging zur Tür, schloss auf und brüllte den Gang entlang:
"Wo bleibt das Frühstück?"
Nur wenig später hasteten ein Diener und eine Magd herein. Sie räumten den Tisch leer und stellten ein abgedecktes Tablett ab. Das Mädchen sah Gertraud mitleidig an, als es die Tür hinter sich zuzog.
"Nun setz dich und iss", forderte er sie auf.
Sie setzte sich und sah ihn fragend an.
"Kümmere Dich nicht um mich. Ich esse später unten. Das ist alles für dich. Nun iss", sagte er und ließ sich im Sessel ihr gegenüber nieder.
Gertraud faltete die Hände, dankte und hob dann das Tuch vom Tablett.
"Oh, wie schön", entfuhr es ihr.
Schüsseln und Teller waren nicht aus demselben schlichten Steinzeug wie gestern Abend, sondern schneeweiß mit blauer Malerei und dem Wappen am Rande. Sie fuhr mit dem Finger den glatten, schmalen Rand eines Milchkruges entlang, lächelte und begann mit Appetit zu essen.Stumm beobachtete Hardrich sie.
Zwischen zwei Bissen fragte sie:
"Ist es nun Marmor? An den Wänden, meine ich."
Seufzend schüttelte Hardrich den Kopf.
"Du bist unglaublich, Weib! Ja, es ist Marmor. Und zwar aus der Nähe von Verona, wenn Du es ganz genau wissen willst. Mein Onkel hat ihn noch kommen lassen. Er wollte damit den großen Saal auskleiden lassen, aber soweit ist es dann, Gott sei Dank, nicht mehr gekommen. Unten soll alles so bleiben, wie es auch unter meinem Vater war. Ach, übrigens... Wer hat dir gestern Abend zu essen geschickt? War es der Mann, der dich hergebracht hat?"
"Nein, der Junge. Till. Er brachte die Bücher herein und fragte mich, ob ich hungrig sei. Und das war ich. Und dann hat er selber mir etwas heraufgebracht und war danach so schnell verschwunden, dass ich mich nicht einmal bedanken konnte", antwortete sie.
"Schmeckt Dir eigentlich unser Bier nicht? Der Krug von gestern Abend war auch kaum angerührt", fragte er, als er sah, wie sie verstohlen am Bierkrug roch und diesen zurück auf den Tisch stellte.
"Nehmt es mir nicht übel, Herr. Aber es ist so sauer. Ihr solltet das Helle kosten, das mein Vater braut. Das ist süffig!", sagte sie mit leuchtenden Augen.
"Ach ja?", brummte der Ritter mürrisch und lehnte sich zurück.
"Wir hatten gerade gestern früh sechs Fass vor der Stadtgrenze abgeliefert, als wir auf dem Rückweg auf Euch trafen. Vielleicht erinnert Ihr Euch an die Schenke. Wir sind auf dem Weg hierher dann wieder daran vorbeigekommen gestern Nacht. Die mit dem gelben Lamm im Schild. Stimmt es eigentlich, dass sich das Kloster einen lebendigen Bären hält? Es heißt ja, dass sie ihr Bier mit echtem Bärengeifer vergären?", fragte sie und trank einen Schluck Milch.
"Ja, so ist es wohl. Doch sieht das Tier schon ziemlich räudig aus. Wer kann schon wissen, ob nicht statt seiner einer der Brüder in den Sud spuckt", antwortete er gelassen.
Gertraud verzog angewidert das Gesicht, musste dann aber doch lachen.
Nach einem kurzen Schweigen fragte der Ritter:
"Sag, warum bist Du eigentlich noch nicht unter der Haube? Dich will wohl keiner? Zu frech, was?"
Gertraud sah ihn verschmitzt an und antwortete:
"Nein, nein. Tatsächlich habe ich schon mehrere Bewerber abgewiesen. Ich habe nämlich vom Vater das Versprechen, mir meinen Zukünftigen selber wählen zu dürfen. Und bislang steht er noch zu seinem Wort, auch wenn es ihm wohl manchmal schwerfällt, dem Armen. Er fürchtet wohl, dass er mich ewig am Halse haben wird."
Der Ritter sah sie weiter ungerührt an und sie erzählte, wie es damals zu diesem Versprechen gekommen war.
Schließlich erhob der Markgraf sich. Gertraud steckte sich noch rasch ein Stück des weißen Brotes in den Mund und sprang auf.
"Lass dir Zeit", sagte er und ging zur Tür.
"Herr?", rief sie ihm nach.
Seine Stimme klang verärgert, als er sich umdrehte und schroff fragte:
"Was?"
"Wann... . Ich meine... Soll ich hier warten, Herr?", fragte sie schüchtern.
Er sah sie ungerührt an und sagte dann tonlos:
"Genau das sollst du."
Dann verließ er das Zimmer und sie hörte, wie sich seine schweren Schritte auf dem Gang entfernten. Seufzend fiel sie zurück auf den Stuhl und zog die kalten Füße an. Grübelnd und verzagt saß sie eine Weile so da. Dann stand sie auf und ging ins Bad. Hier war es immer noch feuchtwarm und ein herber, frischer Duft hing im Raum. Sie durchsuchte die Schränke und fand schließlich die Flasche, die der Mann, Hassan hatte er sich genannt, in der Hand gehabt hatte. Weitere Glasflaschen in anderen Farben standen noch daneben, alle mit unbekannten Zeichen beschriftet. Sie nahm die grüne Flasche von ihrem Platz und roch vorsichtig am Korken. Der gleiche Geruch, der die Luft erfüllte, stieg ihr scharf in die Nase. Nacheinander roch sie an den anderen Gefäßen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, doch konnte sie nichts, was sie roch, benennen. Fremd und eigenartig waren einige, andere blumig und wieder andere erinnerten entfernt an Fruchtsüße. Einer der Düfte gefiel ihr besonders. Er war schwer und lieblich, doch nicht süß. Warmes, frisch gedarrtes Malz kam ihr in den Sinn. Sie stellte alles behutsam zurück auf seinen Platz, schloss den Schrank und wusch dann Gesicht und Hände im großen Holzbottich. Sie überlegte kurz und hielt dann auch ihre eiskalten Füße ins lauwarme Wasser. Gerade trocknete sie sich mit einem der benutzten Leintücher ab, als die Tür zum Flur geöffnet wurde.Ein Mädchen mit flachsblonden, dünnen Zöpfen und mit einem Eimer und Lappen im Arm kam herein und erschrak genau wie ihr Gegenüber, als sie einander sahen.
Schließlich lächelte Gertraud und sagte:
"Nur keine Angst. Ich beiße nicht. Mein Name ist Gertraud Kerner. Und wer bist du?"
Schüchtern und unschlüssig stand die Magd in der Tür und sagte:
"Ich heiße Marianne. Ich soll sauber machen. Ich kann aber auch später noch mal wiederkommen..."
"Nein, nein, komm nur herein. Ich bin heilfroh, wenn ich nicht so alleine bin! Außerdem kann ich dir ja helfen. Sag mal, war die Tür gar nicht verschlossen?", fiel Gertraud ihr ins Wort.
"Nein, sie war offen. Ich habe auch gar keine Schlüssel, aber der Herr von Aven hat am Ende des Ganges zwei Wachen postiert. Weit kämt Ihr also nicht", antwortete das Mädchen mitfühlend.
"Nein, nein, keine Sorge. Ich werde Dir schon nicht weglaufen. Also sag mir, Marianne, was ist zu tun?", fragte Gertraud.
Gemeinsam schöpften sie das Wasser aus dem Bottich und gossen es in einen Ausguss in der Ecke, in der auch das Nachtgeschirr stand. Die Abflussöffnung verschlossen sie danach mit einem Stopfen, damit keine unangenehmen Gerüche aufsteigen konnten. Dann schrubbten sie den Bottich sauber, rieben ihn trocken, schlugen die Matten aus und legten sie hinein. Sie wischten den Boden und polierten die Wände. Während der gemeinsamen Arbeit plauderten sie miteinander und Gertraud erfuhr, dass Marianne sechzehn Jahre alt war und dass ihre ganze Familie in der Burg arbeitete. Ihre Schwestern in der Küche und im Waschhaus, Vater und Brüder in den Gärten und Stallungen. Sie selber hatte einen Schatz bei der Wache und zeigte, nachdem sie ihre anfängliche Scheu überwunden hatte, ein fröhliches, redseliges Wesen.Der Vormittag verflog. Sie öffneten die Fenster, machten die Betten und fegten die Zimmer aus. Als sie fertig waren, raffte Marianne noch die schmutzigen Tücher zusammen und legte frische zurecht.
"Ich bin gleich wieder da und bringe noch frisches Wasser. Der Herr Ritter hält sehr viel auf Reinlichkeit. Soviel Wasser, wie er an einem Tag verbraucht, braucht meine Familie nicht in einer Woche!", sagte die sie lachend.
Sie ging und Gertraud blieb in der offenen Tür stehen und sah den Gang entlang. Wie Marianne gesagt hatte, standen dort zwei Männer von der Wache. Sie erkannte erschrocken den Wachmann wieder, der sie gestern Abend so grob behandelt hatte und wich ins Zimmer zurück. Nach einer Weile schleppte die junge Magd zwei volle Eimer Wasser herein.
"So, das wär's. Ich muss gleich wieder runter. Danke für Deine Hilfe. Vielleicht sehen wir uns später noch. Lass die Türen und Fenster ruhig noch ein wenig offen. So zieht vielleicht doch etwas Wärme in diese kalten Mauern. Draußen kann es noch so heiß sein, hier drinnen ist es immer grabeskalt", sagte sie.
Dann nahm sie das Frühstückstablett auf, lächelte Gertraud noch einmal an und ging.Gertraud erwiderte ihr Lächeln tapfer, musste aber schlucken. Denn als Marianne gegangen war, kam ihr das Alleinsein doppelt so schrecklich vor. Zuhause konnte sie selten einmal für sich sein, auch wenn ihr danach war. Es wurde von früh bis spät zusammen gearbeitet. Beim Essen, ja selbst zur Nacht, immer waren Menschen um sie und wenn es nur Rike war, die ihr am Rockzipfel hing. Sie stieg auf die Bank, legte zwei Kissen in die Mauernische, lehnte sich darauf und sah hinunter. Warmer Wind strich ihr ums Gesicht. Unten wurden gerade die Zelte abgebaut und sie sah Till mit zwei Pferden am Zügel den Hof überqueren. Sie hörte einen Schmied bei der Arbeit. Rhythmisch schlug Metall auf Metall und sie musste an Klemens denken. Jetzt würde er sie wohl nicht mehr wollen.
"Keiner wird mich mehr wollen", dachte sie bitter, "Wer weiß, wie lange es dem Ritter noch gefällt, mich hierzubehalten? Wer weiß, ob es ihm nicht plötzlich in den Sinn kommt, über mich herzufallen und mich vor die Tür zu setzen? Aber wieso hat er das nicht schon längst getan? Was hat er nur vor mit mir?"
Und so hing sie ihren düsteren Gedanken nach und sah dabei dem Treiben im Hof zu.Auf einmal fühlte sie sich an den Knöcheln gepackt und von den Füßen gerissen. Hart stießen ihre Knie auf der Bank auf. Vor Schmerz und Schreck sprachlos taumelte sie herum und blickte in die gierigen Augen der Wache, die breitbeinig vor ihr stand. Sie roch seinen fauligen Atem.
Er wog ein abgenutztes, kurzes Messer in der Hand und sagte krächzend:
"Na, Du Hexe? Was hast Du mit dem Ritter getrieben, dass er Dich gar nicht wieder fortlässt? Hm? Willst mich um meinen Anteil bringen, was?"
Gertraud sah, wie er sich an ihrem Entsetzen weidete und nahm allen Mut zusammen.
Sie reckte stolz den Kopf, bemühte sich um eine feste Stimme und fauchte:
"Du belästigst einen Gast des Ritters. Das kommt Dich teuer zu stehen!"
Der Mann stutzte verunsichert und kniff die Augen zusammen. Ganz kurz huschte ein Anflug von Furcht über seine Züge.Doch im nächsten Moment traf sie sein Schlag schallend ins Gesicht. Gertraud flog benommen zur Seite und fiel vor der Bank zu Boden.
"Du verdammtes Drecksstück! Du wagst es, mir zu drohen? Ich werde Dir Manieren beibringen, lausige Hure!", presste er zwischen schwarzen Zahnstummeln hervor. Sie schmeckte Blut und hob schützend die Arme vor den Kopf. Sofort war er über ihr. Schwer setzte er sich rittlings auf sie und drückte die Messerspitze an ihren Hals.
Er rieb sich stöhnend auf ihr und sagte, heiser vor Gier:
"Du wirst Dich jetzt schön umdrehen und brav stillhalten. Und wehe, Du sagst einen Ton. Sonst schneid ich Dir die Kehle durch. Dem Ritter erklär'n wir das schon, keine Sorge. 'Ein bedauerlicher Unfall, Herr. Sie wollte fliehen'. Los! Umdreh'n!"
Schmerz, verzweifelte Wut und das furchtbare Gefühl des Ausgeliefertseins trieben Gertraud die Tränen in die Augen. Sie schluchzte, biss aber die Zähne zusammen und schüttelte trotzig den Kopf.Plötzlich wurde der Mann über ihr aschfahl und sein Gesicht verzog sich zu einer angstverzerrten Grimasse. Durch den Schleier ihrer Tränen sah Gertraud eine Gestalt hinter ihrem Peiniger auftauchen. Und es dämmerte ihr langsam, dass das Geräusch, welches sie gerade gehört hatte, das Ziehen eines Schwertes gewesen war.
Hardrich packte den Mann bei den Haaren, bog seinen Kopf zurück und hielt ihm die Klinge an die Kehle.
"Lass das Messer fallen oder ich ziehe dir die Haut in Streifen vom Leibe", zischte er mit vor Zorn bebender Stimme.
Klappernd fiel das Messer neben Gertrauds Ohr zu Boden.
"Auf! Hoch mit dir!", befahl der Ritter weiter und riss den Mann an dessen Haaren in die Höhe. Dieser kam stolpernd auf die Beine, weiß wie die Wand vor Furcht jetzt. Hardrich stieß ihn von sich und drückte ihm die Schwertspitze in den Rücken. Dann trieb er ihn vor sich her, fort von der am Boden liegenden Frau, bis er vor der Truhe stand.
"Sieh mich an!", herrschte ihn der Ritter an.
Schlotternd vor Angst drehte sich die Wache um und hob die Hände. Hardrich setzte ihm die Klinge auf die Brust.
"Herr, ich flehe Euch an! Es ist nicht wie Ihr denkt, Herr! Sie hat mich verhext! Die Tür stand offen... und ich... ich wollte nur eben nach dem Rechten schauen. Und plötzlich weiß ich gar nicht mehr, was ich tue. Herr!... Sie hat mich verhext, Herr! Habt Erbarmen! Ich... Es ist nicht meine Schuld! Sie ist eine Hexe!", stammelte er.
"Verschone mich wenigstens mit Deinen Lügen, Dreckssack", knurrte ihn der Ritter angewidert an und stieß ihm das Schwert bis zum Heft durchs Herz.
Mit einem erstickten Laut sackte der Gerichtete in sich zusammen. Hardrich zog die Klinge aus seinem Leib, wischte sie am fleckigen Wams des Toten ab und steckte das schwere Schwert zurück in die Scheide.Dann ging er zur Tür. Erst jetzt bemerkte Gertraud, die immer noch verstört am vor der Bank lag, dass mehrere Männer im Gang standen und mit offenem Munde das Geschehen verfolgt hatten.
"Ihr wartet hier!", bellte der Ritter sie an und schlug die Tür krachend zu.
Dann drehte er sich zu Gertraud um, kam zu ihr und kniete sich neben sie. Immer noch fassungslos starrte sie auf den leblosen Körper.
"Ist... ist er tot?", flüsterte sie entsetzt und wischte sich mit zitternder Hand Blut und Tränen aus dem Gesicht.
"Sicher", antwortete Hardrich schlicht, holte tief Luft und seine Stimme versagte ihm fast, als er heiser sprach: "Niemand wird dir jemals wieder etwas zuleide tun in diesen Mauern. Darauf hast Du mein Wort."
Dann hob er sie vom Boden auf.
Gertraud schlang die Arme um seinen Nacken und schloss die Augen. Ihre Stirn stieß leicht an die Unterkante seines Helms, worauf Hardrich ruckartig seinen Kopf hob. Dann schmiegte sie sich an ihn und fühlte sein Herz heftig schlagen. Er trug sie nach nebenan, legte sie behutsam auf das Bett und stand dann verlegen vor ihr.
"Ich werde Albertinus holen lassen. Er soll sich das ansehen", sagte er und wollte gehen.
Doch sie fasste seinen Arm und bat: "Lasst mich mit dem Toten nicht allein, ich bitte Euch! Wenn Ihr nicht hier sein könnt, so kann vielleicht Marianne solange bei mir bleiben?"
"Wer?", fragte Hardrich und runzelte die Stirn.
"Das Mädchen, das saubergemacht hat. Marianne heißt sie wohl", antwortete sie.
"Gut", antwortete er nickend und verließ das Zimmer.
Gertraud hörte, wie er draußen Anweisungen gab. Wenig später stand Marianne in der Tür, noch ganz außer Atem. Sie hatte den Toten im Nebenraum gesehen und blickte bestürzt auf Gertrauds aufgesprungene Lippe.
"Kaum bin ich weg, gibt's hier Tote und Verletzte!", hauchte sie, setzte sich neben Gertraud auf die Bettkante und tätschelte ihre Hand.
"Ich habe mich zu Tode erschrocken, als der Herr von Aven in die Küche gestürmt kam und nach mir rief. Ich dachte, oh Gott, jetzt ist es aus mit mir. Und dann hat er mich zu dir geschickt. Jesus, Maria und Josef! Was ist denn passiert?", fragte sie.
Allein ihre Anwesenheit beruhigte Gertraud bereits ein wenig und sie erzählte. Mit großen Augen hörte Marianne, was geschehen war. Dann lief sie, befeuchtete ein sauberes Tuch und wischte Gertraud behutsam das Blut aus dem Gesicht. Sie hörten, wie nebenan der Leichnam hinausgetragen wurde.
Die Frauen bekreuzigten sich, aber Marianne flüsterte:
"Um den ist es nicht schade. Ein widerlicher Kerl! Wenn er irgendwo zu sehen war, bin ich möglichst immer Umwege gegangen. Einmal hatte er mich zu packen gekriegt und hat mir die Brust fast zerquetscht. Alles was einen Rock trägt, hat er angegrapscht. Mach dir bloß nicht zuviele Gedanken um den. Sogar seine Frau wird froh sein, dass er tot ist, glaub ich. Er hat sie oft noch weit schlimmer zugerichtet als dich. Grün und blau geschlagen hat er sie. Du kannst froh sein, dass der Herr rechtzeitig zur Stelle war. Wenn ich das unten erzähle! Das glaubt mir kein Mensch! Was man so hört, ist der Ritter ja selber auch nicht grad zimperlich, was die Frauen angeht."
Sie blickte Gertraud stirnrunzelnd an und wisperte:
„Gestern Abend hat er einer Hure in der Stadt eine Brust abgeschnitten, heißt es. Sie hatte sich geweigert, mit ihm zu gehen."
Gertraud sah sie verwirrt an. Ergab das irgendeinen Sinn?
Und sie erwiderte fragend:
"Gestern Abend? Bist Du sicher?"
Die Magd nickte.
„Was erzählt man sich denn noch so?", fragte ihr Gegenüber ratlos.
Marianne blicke sich vorsichtig um und schloss die Tür.
Dann setzte sie sich bequem auf dem Bett zurecht, grinste sie breit an und fragte:
"Was genau willst Du denn wissen?"

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt