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Die allerletzten Stunden, die Gertraud an Hardrichs Seite verbrachte, ohne ihm wirklich nah sein zu können, hatten sie fast zerrissen.
Auf das letzte Frühstück mit den Gästen in der Burg, bei dem fast niemand ein Wort sprach, folgte ein gemeinsamer Ritt durch die Stadt hinunter zum Lager. Die Hebamme hatte gemeint, ein kurzer Ausflug bei dem die Pferde nur im Schritt gingen, würde ihr nicht schaden. Und so ritt sie langsam neben Hardrich an der Spitze des Zuges durch die Stadt. Rechts und links die jubelnde Menge. Sie nahm lächelnd die guten Wünsche mit entgegen, die ihnen zugerufen wurden und gab sich beherrscht und zuversichtlich, obwohl alles in ihr hätte schreien mögen.
Im Lager angekommen verschlug ihr der Anblick des versammelten Heeres den Atem.
Die vielen, vielen Männer! Sie kannte ja die Zahl. Es waren knapp 3.700 Mann, die allein die Ostmark insgesamt stellen würde. Hier vor ihr standen heute etwa 2.800 Soldaten. Dazu kamen noch die Edelleute, von der Weiles großer Verband, der ab morgen dabei sein würde und der kleine Teil allerletzter Nachzügler, der in drei Wochen nachfolgte.
Und doch. Es war etwas ganz anderes die Zahl zu kennen und dann all die Menschen dort tatsächlich zu sehen. Soweit das Auge reichte in mehr oder weniger ordentlichen Reihen aufgestellt, teils im Gras sitzend, teils stehend mit ihrem Marschgepäck neben sich, erwarteten sie die Ankunft des Heerführers.
Das Murmeln und die Gespräche aus hunderten von Kehlen drang wie ein unterschwelliges, gewaltiges Brausen an ihr Ohr, als sie in die Flussniederung hinabritten.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Hardrich sah ihr fassungsloses Gesicht und raunte leise:
„Ja. So viele."
Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, sprach von der erdrückenden Verantwortung und es tat ihr in der Seele weh.
Nur zu gerne hätte sie ihn umarmt oder wenigstens seine Hand gehalten, aber so beugte sie sich im Sattel nur leicht zu ihm hinüber und sagte leise:
„Ich bin froh, dass Du es bist, dem sie anvertraut sind und nicht irgendjemand anders. Du wirst gerecht und umsichtig sein. Denn Du bist der Landesvater."
Er sah sie einen Moment lang verblüfft an. Aber dann lächelte er. Ein wunderbares, warmes, dankbares Lächeln, das sie erwiderte. Und sie war von Herzen froh, die richtigen Worte gefunden zu haben.
Sie erreichten ihr Ziel.
Der Markgraf saß ab, half seiner Frau vom Pferd und führte sie an seinem Arm weiter zu ihrem Platz auf der Tribüne.
Dies waren die letzten Schritte an seiner Seite, dachte sie unglücklich. Fast war sie versucht, sich einfach fallen zu lassen, damit er sie fing und aufhob. Und von hier fort trug. Irgendwohin, wo sie alleine waren und sie ihn noch einmal im Arm halten konnte.
Doch es waren die Augen von fast dreitausend Menschen auf sie gerichtet und sie tat, was von ihr erwartet wurde. Hoch aufgerichtet und voll vornehmer Gelassenheit schritt sie neben ihm her und setzte sich.

Auf einer Anhöhe vor einem schlichten, riesigen Holzkreuz stand auf einem Podium der vorbereitete Altar. Ein behelfsmäßiger Glockenstuhl ein paar Schritte entfernt. Der Bischof und eine ganze Reihe der höchsten Geistlichen warteten bereits unter einem offenen Zeltpavillion und erhoben sich nun. Auch die ankommenden Adligen nahmen mit ihren Familien auf der Tribüne Platz und auf Hardrichs Wink hin begann der Gottesdienst mit dem Geläut der kleinen Glocke.
Die Menschen verstummten und erhoben sich und der Bischof trat auf das Podium, küsste den Altar und begann die Messe. Während die feierliche Zeremonie ihren Verlauf nahm, zogen dutzende Mönche und Priester gemessenen Schrittes durch die Reihen der Soldaten, in den Händen Sprengel und weihwassergefüllte Gefäße.
Männer, Waffen und Rüstzeug wurden besprengt. Die Markgräfin konnte von ihrem erhöhten Platz ganz vorne auf der Tribüne die ersten Reihen gut übersehen und beobachtete, wie einige der Männer Kreuze hervorholten, die sie an Schnüren oder Ketten um den Hals trugen. Einfache, aus Holz geschnitzte, eiserne und hin und wieder eines, welches silbern oder sogar golden glänzte. Auch diese wurden von den Priestern gewissenhaft mit Weihwasser benetzt.
Als Kind kam Gertraud die Messe so manches Mal endlos vor, aber heute wünschte sie, der Bischof möge nie zum Ende kommen.
Das Heer würde gleich nach Abschluss des Gottesdienstes aufbrechen, denn sie hatten heute noch einiges an Wegstrecke zu bewältigen.Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Ohne den Kopf zu drehen, blickte sie unauffällig hinüber zu Hardrich und sah seine Hand auf der schön geschnitzten Armlehne liegen. Seine schwere, warme Hand. Sie wollte hinüberfassen. Ihn noch ein paar Augenblicke lang festgehalten. Doch ihr herrschaftlicher Polsterstuhl stand einen guten Schritt weit von seinem entfernt und es war unmöglich, ihn zu berühren, ohne sich weit hinüber lehnen zu müssen.
Sie seufzte tief und versuchte, sich wieder auf die Worte des Bischofs zu konzentrieren. Der Liturgie folgend, erhob sich die versammelte Gemeinde zum Evangelium. Und wieder war sie beeindruckt vor dem eigentümlichen Dröhnen, das entstand, als die riesige Menschenmenge zeitgleich aufstand. Im selben Moment nahm sie plötzlich eine Bewegung neben sich wahr und als sie sich überrascht umdrehte, sah sie, dass Hardrich mit einem resoluten Handgriff ihre beiden Stühle zusammengeschoben hatte.
Er richtete sich wieder auf und warf einen kurzen, grimmigen Blick auf den versammelten Adel, der hinter ihnen auf der Tribüne saß und stellte sich dann wieder vor seinen Stuhl, jetzt dicht neben ihr.
Gertrauds Herz schlug heftig in ihrer Brust vor heißer Freude und sie versuchte aus den Augenwinkeln heraus, Hardrichs Gesicht zu sehen. Doch er stand dort und verzog keine Miene. Wie stets.
Trotz seines warnenden Blickes von eben, hob hinter ihnen leises Gemurmel an. Allerdings klang es für Gertraud nicht entrüstet, sondern im Gegenteil, ein wenig belustigt.
Als sie sich wieder setzten, legte sie ihre Linke auf die nun zusammenstehenden Lehnen und er legte schweigend seine Rechte darauf und umfasste ihre Hand.
Sie fühlte Tränen in ihren Augen aufwellen und zwang sie zurück.
„Danke", hauchte sie und fühlte als Antwort seinen Daumen über ihr Finger streichen.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt