Gertraud erwachte. Frierend und zerschlagen.
Sie öffnete die Augen, doch es blieb genauso stockdunkel, wie es mit geschlossenen Lidern gewesen war. Nicht der kleinste Lichtschimmer war zu sehen.
Im allerersten Moment erschrak sie zutiefst. Fast hätte sie aufgeschrien. Sie war vollkommen orientierungslos, bis sich mit einem Schlag die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder einstellte.
Und in der erdrückenden Dunkelheit begannen sofort Trauer und Schrecken wieder auf sie einzustürmen, bis sie sich aufsetzte und ihren Verstand zur Ruhe zwang.
„Bleib ruhig! Denk nach", flüsterte sie und griff sich an die Brust, wo sie in ihrem Dekolletee den kleinen Bären versteckt hatte, damit er ihr im Dunklen nicht verloren ging.
Vergeblich versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen, aber nun da sie wach war, spürte sie ihre übervolle Blase.
Und dieses banale Bedürfnis ihres Körpers machte es schlicht unmöglich, sich auf etwas anderes zu besinnen. Als sie gestern Abend hierher gebracht worden war, hatte sie an so etwas überhaupt nicht gedacht. Und sie hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass man sie alleine und gänzlich ohne Licht hier unten ausharren lassen würde. Doch auch der Prinz musste seine Notdurft ja irgendwo verrichtet haben, überlegte sie. Missmutig und unentschlossen rutschte sie noch eine Weile auf ihrem Platz hin und her. Aber es nützte nichts. Sie musste sich erleichtern und es war das Klügste, sich möglichst umgehend um diese Notwendigkeit zu kümmern. Wahrscheinlich hatte es damals für den kumanischen Gefangenen zu diesem Zweck einen Eimer oder Kübel gegeben. Und vielleicht stand auch der hier noch irgendwo herum. Sie erhob sich, ging mit ausgestreckten Händen langsam bis an die Gitterstäbe vor und dann daran entlang weiter bis zur Ecke. Danach weiter zur hinteren Wand. Immer vorsichtig mit Händen und Füßen tastend.
Und tatsächlich fand sie, was sie suchte.
Unter einem einfachen Regal stand ein Holzeimer. Mit Deckel. Sie zögerte kurz, wappnete sich und nahm den Deckel ab. Der aufsteigende Gestank räumte letzte Zweifel aus.
Sie hatte Mühe, Mantel, Rock und Untergewand zu raffen und dann mit ihrem angewachsenen Bauch in die Hocke zu gehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Doch dann, endlich, konnte sie mit großer Erleichterung ihr Wasser lassen.
Als das geschafft war, erhob sie sich ächzend, schloss den Eimer und schob ihn zurück in den Winkel. Sie kehrte zum Bett zurück und setzte sich.
Jetzt konnte sie in Ruhe nachdenken.
Wie spät mochte es sein? Wie lange hatte sie geschlafen? Man konnte in den Verliesen weder ein Hahnenkrähen noch die Glocken hören. Über ihr konnte die ganze Stadt abgebrannt sein oder sich das Tor zur Hölle geöffnet haben. Hier unten würde sie nichts davon mitbekommen.
Ihrem knurrenden Magen nach, musste es bereits früh am nächsten Tag sein. Irgendwann würden sie kommen und nach ihr sehen. Offensichtlich wollten sie vorerst nicht ihren Tod, denn sonst wäre sie schon nicht mehr am Leben.
Sie und ihr Ungeborenes waren nun Geiseln. Und wahrscheinlich nicht in unmittelbarer Gefahr. Hoffte sie zumindest.
Aber de Allinge hatte ihr mit einer Audienz beim Khan gedroht. Ob das stimmte? Würde der kumanische Herrscher an ihr seine Rache nehmen für den Tod seines Sohnes? Ihr lief es kalt den Rücken herunter. Möglich war das natürlich.Doch an Flucht war nicht zu denken. Ohne Hilfe von außen würde sie hier niemals herauskommen. Jetzt war es an Rudolf von Walow, sich zu bewähren.
Wie schnell würden seine Truppen bewaffnet und kampfbereit sein können? Mehrere Tage würde es mindestens dauern. Und dann würden beide Heere auf freiem Felde aufeinandertreffen. Oder hatte von Walow möglicherweise schon früher vom Herannahen der Feinde erfahren und bereits Männer zusammengezogen? Würde sich das Schicksal der Ostmark, ihr Schicksal, womöglich schon heute oder morgen entscheiden?
Und bei dem Gedanken daran, konnte sie nicht umhin, mit Unbehagen an die Vision zu denken, die von Walow seit Wochen quälte.
Sie stöhnte. So viele offenen Fragen. Und keine Möglichkeit, Gewissheit über irgendetwas zu erlangen. Das hämische Grinsen des Dänen stand vor ihrem inneren Auge.
Sie fürchtete sich vor ihm, das war nicht zu leugnen.
Aber auch Abscheu regte sich in ihr. Er war an allem schuld! Wenn Hardrich ihn je zu packen bekäme, würde er ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen!
Ja. Wenn.
„Oh, Hardrich... Komm zurück!", hauchte sie und Tränen brannten hinter ihren Augen.
Wenn sie ihn nur mit ihren Gedanken herbeirufen könnte! Damit er zurückkehrte. Ihre Feinde hinwegfegte. Und sie alle rettete.
Seit sie denken konnte, hatte sie die Leute über den Markgrafen herziehen hören. Böse Gerüchte und Schauergeschichten hatten die Runde gemacht, wann immer die Sprache auf den Landesherrn kam. Daran erinnerte sie sich nur allzu gut. Sein entsetzlicher Jähzorn und der düstere Helm hatten Angst und Misstrauen unter den Menschen gesät und waren immer wieder Anlass zu üblen Nachreden gewesen. Ihr hatte er sein Geheimnis anvertraut.
Sie allein kannte ihn wirklich und wusste auch um seine eigenen Zweifel und inneren Kämpfe. Er war beängstigend in seiner Wut. Das hatte sie selber oft genug selbst erfahren und doch war da im Augenblick sicher niemand ihrer Landsleute, der sich den Ritter jetzt nicht zurückwünschte, dachte sie nicht ohne Bitterkeit.
Die Worte ihres Ziehvaters kamen ihr in den Sinn. Ihr Gespräch über Hardrichs Strenge, Kraft und Lauterkeit, das sie erst gestern in der Kirche geführt hatten. Es schien Jahre zurückzuliegen. Und da drängten wieder die Bilder des gestrigen Abends in den Vordergrund. Und mit ihnen der Schmerz über den Verlust ihres väterlichen Vertrauten.
Nie hatte sie seinen Beistand und Trost so sehr vermisst wie jetzt. Und der arme Rupert, der nun irgendwo dort draußen in Rettow weilte und die schlimme Nachricht erst noch erfahren musste! Von Walow musste es einfach schaffen. Für sie alle.
Besonders aber für ihr Kind. Noch neun Wochen. Dann würde sie es im Arm halten. Hardrichs Kind. Dieses Wissen hielt sie aufrecht.
Und im Moment gab es nur eines, das sie tun konnte.Sie faltete die Hände und begann zu beten:
„Salve, Regina, mater misericordia..."

DU LIEST GERADE
Die Tochter des Brauers
Romance"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...