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Irgendwann später lichtete sich für einen kurzen Moment der Schleier ihrer Besinnungslosigkeit und sie erkannte, immer noch betäubt, dass sie zurück in ihre Zelle gebracht worden war und unter mehreren Fellen und Decken warm zugedeckt auf ihrer Bettstatt lag. Aus einem der Nebenräume drang ein schwacher Lichtschein zu ihr herein. Alles war still und niemand zu sehen. Sie wollte den Arm heben und nach ihrem Kind fühlen, aber sie konnte keinen Muskel rühren. Sie stöhnte.
Undeutlich nahm sie wahr, dass sich ihr jemand näherte. Es war der bleiche Mann. Er hob ihren Kopf an, flößte ihr einen Schluck zu trinken ein, fühlte ihren Puls und fragte etwas.
Doch seine Worte drangen nicht zu ihr durch und im nächsten Moment driftete sie erneut hinab in verworrenen Träume.

Als sie das nächste Mal erwachte, war ihr Kopf wieder klar und als sie versuchte, sich aufzusetzen, schoss scharfer Wundschmerz durch ihren Unterleib. Schlimmer, viel schlimmer, war allerdings der Schmerz, der in ihrer Seele brannte, als die Erinnerung zurückströmte und sie mit Wucht niederwarf.Der alte Mann, den sie von Kindesbeinen an verehrt und zum Schluss wie einen Vater geliebt hatte, war vor ihren Augen ermordet worden. Von Walow, der ihr fast ein Freund geworden war, war gefallen, enthauptet worden und die Ostmark mit all seinen Menschen den Feinden ausgeliefert.
Und ihr Kind... Ihr Kind war fort. Ihr gemeinsames Kind, das sie all die Wochen und Monate so sehr herbeigesehnt hatte. In ihren Armen hätte es bald liegen sollen, warm und geborgen. Immer wieder hatte sie sich erträumt, wie sie es ansehen würde und dabei in Hardrichs Augen blickte. Und all die überbordende Liebe, die sie in sich trug, hätte sie ihm geschenkt.
All diese Liebe hätte ein Ziel in diesem Kind gehabt. Es wäre die Krönung ihrer Liebe zu Hardrich gewesen. Und nun hatte sich alles in einen entsetzlichen Alptraum verwandelt.
Sie wusste nicht einmal, was aus dem toten Kind geworden war. Hatte es womöglich noch kurz gelebt? Gelitten? Nach ihr geschrien? Lag der kleine, nackte Körper jetzt vielleicht in Stücke gerissen draußen im Hof? Im Schnee? In irgendeine dunkle Ecke geworfen? Irrte seine arme Seele ungetauft und auf ewig verdammt durch die Finsternis?
Doch der bloße Gedanke daran war so entsetzlich, dass sie es nicht ertrug, ihn weiter zuzulassen. Sie schlug in höchster Verzweiflung immer wieder die Fäuste an ihre Stirn und riss sich an den Haaren wie um den inneren Schmerz mit einem äußeren zu betäuben.
Ein furchtbarer Klagelaut entfuhr ihr und das steinerne Gewölbe, das sie umschloss, warf ihr den Ton verzerrt zurück an ihr Ohr. Es klang wie das Heulen eines Tieres und es graute ihr vor ihrer eigenen Stimme. Sie vergrub das Gesicht in den Kissen und erstickte ihr Wehklagen. Ihr Mann war fortgeritten, ohne einmal zurückzublicken. Er hatte ihren Worten nicht geglaubt und sie allein gelassen mit diesem Ungeheuer.
Ihr Kummer und die Leere in ihr waren so allumfassend, dass sie nun auch Hardrich tot glaubte. Sie sah ihn im Geiste zu Boden sinken unter der glühenden Sonne in irgendeiner fremden Wüste am anderen Ende der Welt. Nie würde sie erfahren, was aus ihm geworden war. Wo er seinen letzten Atemzug getan hatte, vielleicht mit ihrem Namen auf seinen Lippen.Sie sah keinen Grund mehr, weiter zu kämpfen und fand keine Kraft mehr, weiter zu hoffen. Da war nichts, was ihr noch Halt gab.
Dies war ihre dunkelste Stunde.
Wenn Leben bedeutete, diesem Leid Tag für Tag, Stunde um Stunde weiter ausgesetzt zu sein, wollte sie lieber tot sein. Und sie flehte zu Gott, sie zu sich zu nehmen.

Sie blutete noch immer. Und am Tag darauf kam Fieber dazu. Der Medicus sah nach ihr und sie fragte ihn nach ihrem Kind, doch er schüttelte nur stumm den Kopf.
Der Heiler war besorgt. Er bereitete ihr aufwändige Heiltränke zu. Einen gegen das Fieber. Einen anderen, der ein Zusammenziehen der Gebärmutter bewirken sollte, um die Blutung endgültig zum Stillstand zu bringen und einen, der die Bildung von frischem Blut anregte. Er erklärte ihr das alles ausführlich.
Doch sie verweigerte seine Arzneien und aß und trank auch nicht. Eine Weile saß er noch bei ihr und redete auf sie ein, sie möge wenigstens etwas trinken, doch sie wandte sich ab von ihm und der Wand zu.
Einigermaßen ungehalten musste er einsehen, dass seine Patientin nicht genesen wollte und ließ sie schließlich ärgerlich mit der Wache allein. Wenn Gertraud nicht weinte, lag sie teilnahmslos auf ihrem Lager.
Noch immer in den blutdurchtränkten Kleidern, die sie an dem schrecklichen Abend getragen hatte. Selbst zum Waschen und Umziehen fehlte ihr jeglicher Wille und Antrieb. Sie war so geschwächt, dass sie sich nach dem Wasserlassen kaum von ihrem Eimer erheben konnte. Als sie schließlich stand, wurde ihr nach einem Schritt zurück zu ihrem Lager schwindelig und schließlich schwarz vor Augen. Sie fiel und schlug mit dem Kopf gegen die steinerne Wand. Stöhnend lag sie danach am Boden und hielt sich das Gesicht.
Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen rannte die Wache hinaus und kurz darauf stürzte der Medicus herein. Er kniete sich neben sie, richtete sie halb auf und untersuchte die fast besinnungslose Frau. Da war eine beträchtliche Schürfwunde an ihrer rechten Wange und morgen würde die Gesichtshälfte sicher geschwollen und blutunterlaufen sein. Doch Auge und auch Knochen waren unversehrt.
Erleichtert atmete er auf. Noch immer rührte sie sich nicht und lag schlaff in seinem Arm. Geistesabwesend betrachtete der bleiche Mann sie. Er warf einen raschen Blick durch den Wachraum und vergewisserte sich, dass der Soldat noch nicht wieder auf seinem Posten war. Dann fuhr er mit seinen schmalen, weißen Fingern behutsam über Gertrauds unversehrte Wange und strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Doch die zarte Berührung schreckte sie aus ihrer Benommenheit auf und er zog rasch und wie ertappt seine Hand zurück.
„Fasst mich nicht an!", fauchte sie kraftlos, wand sich aus seinem Griff und kroch ein Stück weg von ihm.
„Ach, das Ungeheuer mit dem Helm lässt Du an Dich heran, aber vor mir graut es Dir?", zischte er beleidigt und erhob sich.
„Mein Mann ist kein Ungeheuer", widersprach sie ihm matt und zog sich an ihrer Bettstatt auf die Füße.
„Sag, was verbirgt er eigentlich unter seinem Helm? Sind es in der Tat Hörner? Oder weißt selbst Du es nicht?", fragte der bleiche Mann gehässig.
Gertraud antwortete nicht. Deutlich spürte sie den wachsenden Groll ihres Gegenübers.
„Wie lebt es sich denn mit solch einem Scheusal? Aber als Kind aus der Gosse, bist Du wahrscheinlich Abschaum wie ihn gewohnt, was?", fauchte er boshaft.
„An Euren Fingern klebt das Blut meines Kindes. Wer also ist das Scheusal hier?", fragte sie kalt zurück.
Er wich ihrem anklagenden Blick aus und erwiderte gereizt:
„Dein Sohn war schon vor Monaten todgeweiht. Und zwar von genau dem Augenblick an, da Sören de Allinge dem Khan seine Dienste anbot! Bedanke Dich folglich bei ihm."
Gertraud starrte ihn an.
De Allinge war demnach tatsächlich der Urheber all des Schreckens um sie her. Und noch etwas hatten ihr seine Worte verraten.
„Es war also ein Junge?", flüsterte sie, wieder den Tränen nahe.
Der bleiche Mann schwieg ärgerlich. Offensichtlich war ihm bereits mehr herausgerutscht, als er hatte preisgeben wollen.
Barsch fuhr er sie an:
„Nimm die Arznei und iss etwas! Sonst werde ich Dich morgen noch einmal unter Drogen setzen. Und wenn es mir in den Sinn kommt, mische ich Dir etwas, das Dich vor zärtlicher Liebe zu mir vergehen lässt!"
Damit drehte er sich um und ging. Gertraud sah ihm nach und ihr fiel wieder ein, was sie vor Monaten über diesen Mann gehört hatte. Er könne Tränke brauen, die jede gewünschte Art von Träumen und Rauschzuständen verursachten, hatte Hardrich ihr erzählt.
Sie ächzte und zog die Decken wieder über sich.
„Oh, Conrad...", murmelte sie unglücklich.
Ihr Gesicht schmerzte pochend und sie wünschte einmal mehr, zu sterben. Sie wollte nichts mehr denken und erst recht nichts mehr fühlen.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt