Wichard und Beat kamen langsam heran geritten und hielten auf den halb verfallenen Stall zu. Wie gestern war die Nacht wieder eisig und sternenklar. Der halbe Mond stand hoch am Himmel und sein Widerschein auf dem schneebedeckten Boden spendete genug Licht, um sicher ihren Weg zu finden.
Kaum dass sie abgestiegen waren, hörten sie hastige Schritte auf sie zukommen. Von Dühring zerrte seine Kapuze tief ins Gesicht, zog den Dolch und stellte sich vor seinen Neffen.
„Herr? Ich bin's!"
Es war Lienhards Stimme. Wichard atmete auf. Doch dann spürte er die Aufregung des Jungen, der rasch herankam.
„Was ist passiert?", fragte er beunruhigt.
„Sie ist schon oben! Seit heut' Mittag schon!"
Wichard stöhnte auf.
„Tut mir leid! Ich... ich hab's eben erst mitbekommen", stammelte Lienhard entschuldigend.
„Schon gut. Das ist nicht Deine Schuld. Ohne Dich wüssten wir überhaupt nichts von da drinnen", erwiderte von Dühring und wandte sich dann seinem Neffen zu, der mit beiden Tieren am Halfter hinter ihm stand.
„Du hast alles im Kopf, was wir besprochen haben?", fragte er ihn besorgt.
„Ja, Onkel", kam es gedämpft durch Beats dickem Schal hindurch.
Melli hatte ihm alles angezogen, was nur immer um ihn herumpasste. Zumindest er würde heute nicht frieren, dachte Wichard und musste ob der überbordenden Fürsorglichkeit seiner Frau kurz lächeln.
„Gut. Dann sehen wir uns später. Mit der Markgräfin, so Gott will", fuhr Wichard fort, klopfte ihm auf die Schulter und holte rasch das zusammengerollte Seil und noch eine Decke aus seiner Satteltasche.
„Dann los. Verlieren wir keine Zeit", raunte er Lienhard zu und sie machten sich rasch auf den Weg zu ihrem versteckten Einstieg über die alte Zisterne.
Nur wenig später standen die beiden am Rand des überfluteten Ganges. Wichard band das eine Ende des Seils an der alten Eisenöse fest und schlang sich das andere um den Leib.
„Etwa auf der Hälfte da unten ist eine Art eiserne Pforte. Das hat Till noch erzählt", sagte Lienhard, während Wichard an den Knoten zerrte und den Halt prüfte.
„Eine Pforte?", fragte von Dühring gequält.
„Wohl ein Gitter im Tunnel mit einer Tür drin", antwortete der Junge zögerlich.
„Aber offen oder was?", ächzte Wichard.
„Ja, denk ich... Jedenfalls war es damals offen. Und wer sollte es zugemacht haben da unten?", meinte Lienhard.
„Sonst noch was?", fragte von Dühring leicht gereizt.
„Nein. Das ist alles, auf das ich mich besinnen kann", murmelte Lienhard kleinlaut.
Wichard starrte auf das Wasser, das schwarz und still unter ihm lag.
„Herr, ich...", begann der Junge noch einmal, verstummte aber wieder.
„Na?", fragte Wichard, während er Stiefel und Strümpfe auszog.
„Ich würd' mitkommen, wenn ich schwimmen könnt, Herr. Aber so...? Ich trau mich nicht", gestand er endlich verlegen.
„Hör zu, Lienhard. Niemand macht Dir einen Vorwurf. Ganz gleich, wie das hier heute ausgeht. Ich bin Dir von Herzen dankbar für Deine Hilfe. Und glaub mir, mir graut es auch davor, da runter zu müssen", sagte Wichard ehrlich.
Wichard konnte schwimmen. Doch er hatte es nie so geliebt, wie sein Herr. Der hätte hier jetzt nicht gestanden und gezögert, dachte er beschämt.
Und ihm war klar, dass er nicht zaudern durfte. Er würde mit all seiner Kraft hindurch tauchen müssen. Es würde ein Punkt kommen, an dem es kein Zurück gab. Nur noch ein Voran.
Wenn er soweit tauchte, dass seine Luft nicht mehr für den Weg zurück reichte, war er dazu verdammt, sich weiter zu kämpfen. Bis er auftauchte. Oder ertrank.
Er ächzte.Ein letztes Mal kontrollierte er den Inhalt seiner Umhängetasche, atmete tief durch und machte einen Schritt die erste Stufe hinunter und hinein ins Wasser. Es war so kalt, dass er den probehalber angehaltenen Atem keuchend wieder ausstieß.
Ein äußerst derber Fluch entfuhr ihm.Er warf noch einmal einen Blick zurück zu Lienhard, der das Seil in Händen hielt, dann drehte er sich um und tastete sich weiter hinab.Gertraud saß derweil noch immer am Feuer und hing düsteren Gedanken nach. Durst quälte sie inzwischen. Gerade überlegte sie, ob sie auf den Flur hinaus gehen und um etwas zu trinken bitten sollte, als sie forsche Schritte hörte, die sich ihrem Zimmer näherten.
Ein tiefes, gutturales Lachen erklang. Der Khan. Er war auf dem Weg zu ihr. Sie wusste es einfach.
Ihr Herz begann wie wild zu klopfen. Sie erhob sich und starrte auf die Tür. Ohne ein Klopfen öffnete diese sich im nächsten Augenblick und ein Kumane in der Uniform der Leibgarde kam herein. Er sah sich kurz um und hielt dann mit einer Verbeugung die Tür für seinen Herrn weit auf.
Der trat ein. Heute in eine elegante, glänzende, türkisfarbene Seidenrobe gekleidet und gefolgt von ihrem Sardori und einem Pagen, der ein Tablett trug.
Kerzengerade stand Gertraud da und blickte dem kumanischen Herrscher voller Abscheu entgegen.
„Nun, hohe Frau, wie geht es Euch heute?", fragte der Khan ungerührt und kam auf sie zu.
Doch ihr hasserfüllter Blick musste ihn wohl doch ein wenig verunsichert haben, denn er blieb mit einigem Abstand zu ihr stehen.
Dann rollte er die Augen, schnalzte unmutig mit der Zunge und sagte schließlich verdrießlich und kopfschüttelnd, ganz so als spräche er zu einem eigensinnigen, unvernünftigen Kind:
„Frau von Aven, ich bitte Euch! Lassen wir das Geschehene jetzt ruhen. Kommt und setzt Euch. Wir sollten uns unterhalten."
Damit machte er es sich in einem ihrer Sessel bequem, schnippte mit den Fingern und wies auf den Tisch.
Beflissen setzte der Page das Tablett ab. Darauf stand allerlei Geschirr. Unter anderem ein kunstvoll gearbeitetes, gusseisernes Stövchen mit brennender Kerze darin. Darauf ein schwarzer, ebenfalls eiserner kleiner Wasserkessel, aus dem es kräftig dampfte. Der Khan saß entspannt zurückgelehnt da, die Fingerspitzen zusammengelegt und beobachtete, wie der Page nun mit geübter Hand und fließenden Bewegungen ein Döschen öffnete, zwei Löffelchen getrocknete, schwarze Kräuter in die zart hellblau bemalte Porzellankanne maß und sie mit dem heißen Wasser aus dem gusseisernen Kessel übergoss. Dann deckte er den Tisch für sie beide. Flache, weite Tassen aus dem gleichen hauchzarten Porzellan, Unterteller und zierliche Silberlöffelchen. Daneben stellte er noch ein weiteres Töpfchen mit Deckel, einen Teller mit einem feinen Sieb darauf und eine Schale mit Gebäck.
Der Kanne entströmte bald ein verlockender Duft. Ganz ähnlich dem blumigen Geruch ihres Bades heute.
„Das ist Chai. Die Blätter dazu kommen weit aus dem fernen Osten und sie sind mit den Blüten des Jasmin verfeinert. Eine ausgesprochen erlesene Mischung. Lasst uns eine Tasse zusammen trinken und in Ruhe darüber sprechen, wie es mit diesem Land und mit Euch weitergeht", schlug er mild lächelnd vor und wies einladend auf ihren Diwan.
Die Markgräfin betrachtete seine Freundlichkeit mit Argwohn, doch sie konnte nicht länger stehen und ging schließlich stumm hinüber und setzte sich steif.
Der Soldat der Leibwache und ihr Sardori standen rechts und links der Tür, breitbeinig und mit den Händen auf dem Rücken, den Blick unverwandt geradeaus gerichtet.
„Sardori Onjuk erzählte mir, er wäre neulich heftig mit dem Herrn de Allinge aneinandergeraten. Euretwegen", begann der Khan und nickte zu seinem Hauptmann hinüber.
Der warf ihr einen ganz kurzen, eindringlichen Blick zu, den Gertraud nicht recht zu deuten vermochte und wandte sich rasch wieder ab.
Im Plauderton fuhr der kumanische Anführer dann fort und versprach, dass es nicht wieder zu einem solchen Zwischenfall kommen werde. Der Däne wohne jetzt im Winter mit seinen Männern auf seinem Gut und kümmere sich von dort aus um seine Aufgaben. Außerdem stünde sie ja unter seinem persönlichen Schutz.
Er lächelte väterlich und sie spürte, dass sie sich zusammennehmen musste, um sich von seiner angenehmen, tiefen Stimme nicht einlullen zu lassen.
Betö Kunyol gab dem Pagen ein Zeichen und dieser rührte noch einmal den heißen Aufguss in der Kanne um und goss ihnen durch das Sieb davon in ihre Tassen. Es duftete wunderbar. Der Junge verbeugte sich noch einmal und verließ lautlos den Raum.
Der Khan seufzte. Er griff nach dem kleinen Topf, nahm sich einen Löffel daraus und stellte ihn zurück auf den Tisch in ihre Reichweite.
„Das ist Honig. Bitte. Bedient Euch", bot er ihr höflich an.
Dann nahm er seine Tasse auf, rührte in aller Seelenruhe langsam um und trank einen Schluck mit sichtlichem Genuss.
Gertraud war misstrauisch. Sie wollte nichts von diesem Mann annehmen und schon gar nichts zu essen oder zu trinken, denn sie fürchtete die magischen Tränke des Medikus durchaus. Doch sie hatte zuletzt heute in der Früh einen Schluck Wasser getrunken, ihre Mittagsmahlzeit war ungewohnt salzig gewesen und auch der süße Honigkuchen schien ihr fast noch am Gaumen zu kleben. Ihr Mund war inzwischen wie ausgetrocknet.
Der Khan hatte aus derselben Kanne seine Tasse gefüllt bekommen wie sie. Und er hatte auch vom Honig genommen, dachte sie. Es musste demnach unbedenklich sein, den Tee zu trinken. Und es duftete so verführerisch. Zudem erfüllte sie hier in ihren eigenen Gemächern ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit.
Sie griff zögerlich zum Honig, nahm sich einen halben Löffel voll in ihre Tasse, rührte um und sog den Duft in sich ein. Sie beobachtete erst noch, wie der Khan seine Tasse ganz leerte und sich dann eine zweite einschenkte.
Es war ungefährlich, entschied sie. Sie schnupperte noch einmal und nippte vorsichtig. Da war die Süße des Honigs, ein kräftiges Aroma von den fremden Kräutern und Blüten und eine ganz leichte Bitterkeit.
Es war absolut köstlich. Und sie trank in großen Schlucken, schwenkte den Rest herum, um den Honig ganz zu lösen und leerte ihre Tasse. Wie gut das tat, dachte sie aufatmend und leckte sich die Lippen.
Sie überlegte gerade, sich ebenfalls gleich nachzuschenken und blickte auf. Da sah sie die Miene ihres Sardori und erste Zweifel kamen ihr. Denn der Mann versuchte zwar, gelassen dazustehen, doch sie konnte ihm seine Bestürzung trotzdem ansehen. Ganz kurz nur sah er traurig zu ihr herüber und schlug dann die Augen nieder, um seine Gefühlsregung zu verbergen.
Der Khan hingegen sah sehr zufrieden aus. Und er lächelte noch immer. Doch sein Lächeln war nun nicht mehr väterlich. Im Gegenteil. Fast körperlich, fühlte sie seine Blicke über ihren Leib gleiten. Begehrlich und siegesgewiss.
Mit nur einem Wink schickte er dann die beiden Wachmänner aus dem Zimmer und beobachtete sie mit einem raubtierhaften Glitzern in den Augen.
Gertraud erschrak bis ins Mark.
„Habt Ihr nicht Sorge, ich gehe Euch mit einer Scherbe an, wie den Dänen?", fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme fest und angriffslustig klingen zu lassen.
So fest und angriffslustig, wie sie sich gerade nicht im mindestens fühlte.
Doch das spöttische Lächeln des Khan wurde nur noch breiter.
„Nicht nachdem Ihr so brav ausgetrunken habt, meine Liebe", antwortete er.
Er würde die Männer nun nicht mehr brauchen, um seinen Willen zu bekommen.Sie hatte einen Fehler gemacht.
„Die Tasse...", dachte sie noch voller Entsetzen und spürte im nächsten Augenblick, wie ihr Denken sich vernebelte, während es in ihrem Schoß dumpf zu pochen begann.
Glühende Hitze stieg in ihr auf.Mit ohnmächtigem Schrecken versuchte sie, dagegen anzukämpfen. Der letzte, halbwegs klare Gedanke, den Gertrauds zu fassen bekam, war Verwunderung darüber, dass die Hände des alten Mannes plötzlich genauso aussahen, wie Hardrichs. Hardrichs große, warme, wunderbare Hände...
„Hardrich? Du...?", stammelte sie.
„Oh ja. Hier bin ich", raunte der Khan süffisant und erhob sich schwerfällig.
Da entglitt Gertraud die kostbare Tasse, die sie noch immer umklammert hielt, und zerbrach klirrend auf dem Boden.
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Die Tochter des Brauers
Historische Romane"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...