Das Krankenzimmer, in dem er gelegen hatte, besaß ein kleines Giebelfenster. Gestern, bei Tage, hatte er das Stroh aus der tiefen Fensteröffnung entfernt, die Holzklappe aufgeschoben und hinausgesehen, um sich zu orientieren, bevor er sorgfältig alles wieder verschloss. Heute früh, noch im Dunkeln, hatte er das Fenster dann erneut geöffnet und das kostbare Kleiderbündel nach draußen geworfen. Und er hoffte inständig, dass es dort jetzt noch lag, dass er es fand und dass niemand ihn aufhielt, wenn er es holte. Nervös blickte er sich immer wieder um.
Als man sie vom Tor aus nicht mehr sehen konnte, raunte er:
„Warte mal eben."
Er bog vom Wege ab und verschwand um eine Hausecke. Der Schwede nahm an, sein Freund wolle sich hinter einem der Gebäude noch einmal erleichtern und wunderte sich, dass dieser das nicht auf den Aborten des Klosters getan hatte. Doch als Hardrich wieder zur Straße zurückkehrte, trug er ein großes Stoffbündel im Arm. Überrascht riss der andere die Augen auf und pfiff dann anerkennenden durch die Zähne.
„Na, sieh mal einer an. Was hat denn der Herr Markgraf da Schönes gefunden?"
Hardrich, der sich in Grund und Boden schämte, funkelte ihn ungehalten an, erwiderte aber nichts, sondern beschleunigte lediglich sein Humpeln.
„Woher hast Du das denn?", fragte der Schwede, immer noch grinsend.
„Gehörte dem Toten. Der braucht's nicht mehr.", brummte der Ritter wie zu seiner Rechtfertigung.
Kurz fragte er sich, was er tun würde, käme jetzt jemand hinter ihnen hergelaufen und forderte ihn zur Herausgabe der Kleider auf. Würde er darum kämpfen? Töten? Würde er eines Mantels wegen jemanden erschlagen? So wie er Männer für das Land, die Kirche oder aus einem bloßen Anfall von Wut heraus getötet hatte?
Doch hier stand er nicht über dem Gesetz und man würde ihn gewisslich zur Rechenschaft ziehen. Und wie ein Mord aus Habgier bestraft wurde, stand außer Zweifel. Der Galgen bestenfalls. Sein Innerstes krampfte sich zusammen, doch er hielt seinen Schatz weiter fest umklammert und schlug sich die bedrückenden Gedanken aus dem Kopf. Wenn das Fehlen der Sachen bis hierhin nicht aufgefallen war, war es unwahrscheinlich, dass gerade jetzt jemand danach suchte. Und ob man das Verschwinden mit ihm in Verbindung brachte, war auch nicht sicher. Schließlich hatte man sie ohne Gepäck aufbrechen sehen.
Doch erst als sie Kloster und Städtchen ein gutes Stück hinter sich gelassen hatten, wagte von Aven innezuhalten. Er setzte sich auf einen schneefreien Felsen und nahm seine Lumpenwickel ab. Dann zog er die fremden Sachen über seine eigenen. Lange, wollene Strümpfe, dichte Beinkleider mit Ledergürtel, eine Wolltunika und eine Weste. Dann die Stiefel. Zuletzt warf er sich den Umhang um, band sich sein altes Kopftuch um den Hals und setzte die speckige Fellkappe auf den Kopf. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass eine stinkende Arbeiterkluft wie diese, imstande war, ihm ein solch berückendes Glücksgefühl zu vermitteln. Aber so war es. Noch einmal blickte er den Weg zurück, den sie gekommen waren und als er weiterhin niemanden sah, der ihnen nacheilte, breitete sich endlich ein beinahe seliges Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Torbjörn schmunzelte, wies dann auf die Lumpenwickel und fragte:
„Kann ich die haben?"
„Na, sicher."
Während sein Weggefährte sich die Stoffstreifen als zusätzliche Kleiderschicht um die Waden wickelte, untersuchte von Aven die Taschen in Mantel und Weste und fand ein Paar Fäustlinge, ein Klappmesser und sogar noch einen kleinen Lederbeutel mit einigen Münzen. Er konnte sein Glück kaum fassen.
Gut gelaunt und mit frischer Zuversicht ging es danach weiter. Nach einigen Meilen war das Stechen in Hardrichs Füßen zwar nicht verschwunden, aber seine Glieder waren jetzt warm. Und von Avens Hoffnung wuchs, dass alles vielleicht doch abheilen würde. Auch der strenge Geruch der Sachen, der ihm anfangs noch unangenehm in die Nase stach, ließ langsam nach. Hardrichs Gang sah man die Folgen des Schlaganfalls noch immer recht deutlich an, aber er hatte sich einen festen Wanderstab gesucht und kam mit seinen langen Beinen leidlich im Schnee voran. Der Weg führte sie zudem ohne großen Steigungen entlang der Etsch. Immer weiter nach Norden.

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Die Tochter des Brauers
Romance"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...