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Zum dritten Advent hatte sich Rudolf von Walow angekündigt. Er wolle Bericht erstatten und sich mit von Trettin in einigen Dingen abstimmen, hieß es.
Gertraud freute sich darauf, ein wenig Klatsch und Tratsch aus den Lehen zu hören und auf die Abwechslung, die der Besuch mit sich brachte. Sie ließ die Unterkunft für ihn und seine Leute vorbereiten und als ihr die Ankunft gemeldet wurde, warf sie sich ihren Pelz um und ging hinaus in den Hof.
Ihr Gast war mit nur drei Mann Begleitschutz unterwegs. Alle waren schon abgesessen und von Walow löste gerade seine Satteltaschen, während ein Junge sein Pferd am Zügel ruhig hielt.

Es war Tills jüngerer Bruder Lienhard, der wie dieser im Pferdestall arbeitete. Er hatte die gleichen rotblonden, dünnen Haare und die gleichen, leicht vorstehenden Schneidezähne mit einer auffälligen Lücke dazwischen.
Gertraud mochte ihn.
Er hatte ein freimütiges, verschmitztes Lächeln und war noch eine Spur aufgeweckter als sein großer Bruder.
Vor ein paar Wochen war sie darauf zugekommen, wie er versuchte, die Aufschrift auf einer der kleinen Glasflaschen zu lesen, die sein Vater in einem Schränkchen im Stall verwahrte. Diese enthielten kostbare Arzneien für die Pferde. Sie hatte ihn eine Weile beobachtet, war dann zu ihm gegangen und hatte ihm das Etikett vorgelesen. Ganz langsam. Und mit ihrem Finger unter dem jeweiligen Buchstaben.
„Argentum colloidale. Das dürfte gelöstes Silber sein. Aber ich kann Dir leider nicht sagen, wofür das verwendet wird. Das steht hier nicht geschrieben", sagte sie freundlich.
Lienhard hatte nach dem ersten Schreck über ihr Erscheinen aufmerksam zugehört und antwortete schüchtern:
„Das ist gegen Entzündungen der Augen. Das weiß ich, Herrin. Es werden zweimal am Tag drei Tropfen ins untere Lid gegeben. Ich kenn ja die Flaschen."
Er hielt eine andere Phiole aus stark geriffeltem, grünem Glas hoch und sagte eifrig:
„Das hier ist giftig, wenn man zu viel gibt. Das hat diese Rillen, die man fühlen kann. Damit man es nicht aus Versehen gibt. Im Dunklen. Oder wenn man nicht lesen kann. Das ist zur Stärkung. Es macht, dass sie gut fressen und das Fell glänzt. Das fängt auch mit Ar an..."
„Arsenik", las Gertraud ihm vor und war beeindruckt von den Kenntnissen und dem Lernwillen des Jungen.
Sie hätte ihm nur zu gerne geholfen. Am liebsten hätte sie selber ihn unterwiesen. Doch als sie ihrem Ziehvater davon erzählte, hatte dieser wohl Verständnis für ihren Wunsch, konnte es aber nicht gutheißen. Es war zwar genau dieser Wissensdurst und Eifer gewesen, den er selber in ihr damals gefördert hatte, allerdings musste er einwenden, dass es in ihrer jetzigen Stellung als Markgräfin ganz und gar nicht schicklich sei, Stallburschen das Lesen beizubringen.
Das Gleiche hätte Hardrich ihr sicherlich auch gesagt. So verwarf sie den Gedanken mit einigem Bedauern.
Trotzdem hatte sie Lienhard zumindest ein klein wenig unterstützt. Auf ein altes Stück Pergament hatte sie in großer, deutlicher Schrift seinen Namen und das Pater Noster geschrieben.
Auch wer nicht lesen konnte, kannte natürlich dieses Gebet vom Wortlaut her auswendig. Und vielleicht konnte er sich anhand dieser Vorlage das eine oder andere selber beibringen. Sie hatte ihm den Zettel mit ein paar Worten heimlich zugesteckt. Lienhard war da zu überrascht gewesen, um etwas zu antworten. Aber als sie zwei Wochen später ihre Stute für einen kurzen Ritt in die Stadt von ihm vorgeführt bekam, fand sie in die Mähne geknotet einen winzigen Streifen Pergament, auf dem in ungelenker Schrift ein Wort stand.
"Danke".
Sie war gerührt und glücklich gewesen und es wurde zu ihrem kleinen Spiel. Sie schrieb ein kleines Kinderrätsel auf Pergament, das sie ihm bei ihrer Stute hinterließ oder versteckt übergab. Das musste er zunächst einmal lesen und dann lösen. Dann übte er das Schreiben, indem er ihr die Antwort aufschrieb. Und zwar mit Kreide in handgroßen Lettern auf der Stalltür, sodass sie es von weitem sehen konnte.
Einmal hatte sie geschrieben:
„Rate, was ich weiß: Sie brennt und ist nicht heiß."
Anderntags stand auf der Stalltür:
„bren nesel."
Irgendwann war Rupert ihnen auf die Schliche gekommen und war von da an ihr Mitspieler und Nachrichtenüberbringer geworden. Und er kannte noch hunderte weitere wunderbare Rätsel, als Gertraud schon lange keine mehr einfielen. Auch von Trettin erfuhr auf diesem Wege natürlich von ihrem Treiben, doch er ließ sie gewähren. Ihm lag die Rolle des gestrengen Vaters überhaupt nicht und in diesen trüben Zeiten war er dankbar für alles, was Gertraud aufmunterte und Freude bereitete.
Erst gestern hatte Rupert Lienhard und ihr ein neues Rätsel aufgegeben:
„Ich hab zwei Flügel und kann nicht fliegen, hab einen Rücken und kann nicht liegen."

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt