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Den Nachmittag über begrüßten Hardrich und Wichard die ankommenden Gäste, während Gertraud mit von Trettin in ihren Gemächern auf den Abend wartete. Man hatte sie zum Mittag dort mit einem fürstlichen Mahl bewirtet und danach alleingelassen. Ein wenig verlegen saßen sie sich nun am Kamin gegenüber.
"Wie hat der Vater es denn aufgenommen?", fragte Gertraud schließlich beklommen.
"Er war so entsetzt, dass es ihm zuerst die Sprache verschlug. Wir wussten ja auch nicht, was der Ritter vorhatte. Wer hätte das ahnen können? Dann kamen ihm die Tränen und ich war froh, dass von Dühring mich alleine mit ihm hatte verhandeln lassen. Aber ich hatte mir schon die ganze Nacht über das Hirn zermartert und war immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass, was auch immer der Ritter im Schilde führen mochte, ich besser auf dich Acht geben könne als er. Und so redete ich ihm zu, und schließlich unterzeichnete er schweren Herzens das vorbereitete Dokument. Und ich versprach ihm, Dich wie mein eigenes Kind zu beschützen. Ach Gertraud, was wird er sagen, wenn ich ihm nun diese Neuigkeiten überbringe?", antwortete er seufzend.
Ihr liefen bei diesen Worten die Tränen über die Wangen.
"Richtet ihm bitte von mir aus, dass ich diese Entscheidung aus freiem Willen getroffen habe. Es gibt nichts, was er Euch vorwerfen könnte. Und so sehr es mich auch freut, dass man mir Euch als Vater gewählt hat, sagt ihm, dass ich im Herzen immer seine Tochter bleiben werde. Wie hat man es Euch denn angetragen?", wollte sie dann wissen.
Von Trettin erzählte ihr den Hergang der Dinge, wobei er aber sein Gespräch mit Wichard an jenem Abend außen vor ließ.
"Und jetzt bist du seine Frau. Gertraud von Aven! Kind, Kind, warum hattest Du es nur so eilig? Ich bin fast sicher, wenn Du ihn gebeten hättest, hätte er nicht auf eine sofortige Antwort bestanden und wir hätten alles in Ruhe bedenken könnten", schloss er besorgt.
"Es gab nur eine einzige mögliche Antwort auf seine Frage, Herr. Obwohl ich selber noch immer nicht recht glauben kann, was überhaupt geschehen ist", entgegnete Gertraud und schlug die Augen nieder.
Ihr Gegenüber sah sie nachdenklich an und sagte: "Du bist ihm wirklich zugetan, nicht wahr?"
Gertraud nickte.
Der Alte seufzte.
"Dann hat mich mein Eindruck bei unserem letzten Besuch doch nicht getrogen. Nun gut! Dann wollen wir jetzt auch alles daran setzen, dass Albertinus' Plan aufgeht. Du solltest besser gleich damit beginnen, mich 'Vater' zu nennen und mich so vertraut anzureden, als wäre ich es, auch wenn es dir vielleicht widerstreben sollte. Es wird zwar nicht lange verborgen bleiben, dass Du an Kindes Statt angenommen und nicht meine leibliche Tochter bist, aber wir wollen so gut es geht den Schein solange wahren wie möglich. Heute Abend beim Bankett wird es schon genug Getuschel geben. Du kennst die hohe Gesellschaft noch nicht. Besonders von Treptow, dessen Tochter der Ritter zurückgewiesen hat, wird Dich nur allzu genau begutachten", mutmaßte der alte Mann.
Gertraud sah ihn besorgt an und von Trettin beeilte sich, hinzuzufügen:
"Aber keine Angst! Du stehst den Damen an Geist und Anstand in nichts nach. Und ich bin bei dir und werde dir den Abend über zur Seite stehen. Sie sollen nur kommen. Die Männer dürftest Du eh bereits mit einem Blick aus deinen hübschen Augen für dich gewinnen."
Gertraud wurde rot und bemühte sich um ein tapferes Lächeln. Sie warf sich vor ihrem alten Freund auf die Knie und fasste seine Hände.
"Ihr seid so gut zu mir gewesen! All die Jahre lang. Daher fällt es mir leicht, Euch wie meinem Vater zu vertrauen und vertraut anzusprechen. Niemals würde ich heute hier sein, wenn Ihr mich nicht gelehrt und geprägt hättest, mit Eurer Weitsicht und Eurem Verstand. Es wird mir eine große Beruhigung sein, Euch neben mir zu wissen, heute Abend. Ich will mich nach Kräften bemühen, Euch heute und in Zukunft eine gute Tochter zu sein. Aber niemals aber werde ich wieder gutmachen können, was Ihr mir geschenkt habt mit diesem Schatz des Wissens. Welche Welt Ihr mir aufgetan habt!", sagte sie dankbar.
"Steh auf, Kind. Wenn Du wüsstest, wie viel Freude Du mir bereitest hast, seit wir uns kennen. Ich habe alles, was ich tat, sehr gern für Dich getan. Und, so leid es mir für Josef Kerner auch tut, muss ich doch gestehen, dass ich ein ganz klein bisschen stolz und glücklich bin, dass ich es sein kann, der diese Rolle spielen darf in Deinem Leben", entgegnete er lächelnd.
Sie plauderten noch eine Weile über Neuigkeiten aus dem heimatlichen Dorf und Gertraud erfuhr, dass Klemens Graum bereits vor zwei Wochen eine Sechzehnjährige aus einem benachbartem Dorf zur Frau genommen hatte.
 Dann aber kam ihr noch eine Frage in den Sinn, die sie schon seit langem auf dem Herzen hatte.
"Erinnerst Ihr Euch an das letzte Mal, als wir zusammen in der Schenke saßen und ich nach dem Ritter fragte? Ihr habt mir damals erzählt, wie er Euch das erste Mal bei der Schwertleihe begegnet war. Doch ein Teil der Geschichte steht noch aus, wenn ich mich recht entsinne", begann sie vorsichtig.
"Daran habe ich bereits so manches Mal zurückgedacht, das kann ich dir sagen, mein Kind. Doch weiß ich nicht so recht, ob ich gut daran täte, Dich heute zu aller Aufregung auch noch damit zu belasten. Denn ich fürchte, der Rest der Geschichte ist nicht allzu amüsant. Besonders nicht für seine jungvermählte Frau", wich ihr Gegenüber aus.
"Ich bitte Euch trotzdem, es mir zu erzählen, liebster Vater", sagte sie schmeichelnd und sah ihn mit einem solch bittenden Blick an, dass von Trettin lachen musste.
"Wer könnte Dir je einen Wunsch abschlagen? Also gut! Und vielleicht wird Dir die Geschichte ja Warnung und Lehre zugleich sein, nicht denselben dummen Fehler zu begehen, wie die andere junge Dame damals", sagte er.
Gertraud hob bei diesen Worten neugierig die Brauen und setzte sich erwartungsvoll in ihrem Sessel zurecht.
"Wo war ich damals stehengeblieben? Ach ja. Der Nachmittag vor dem Tag der Schwertleihe. Ich hatte Hardrich bei seinem Gebet im Rosengarten beobachtet und mir geschworen, ihn zu unterstützen, wo ich nur konnte und keinem der Gerüchte über ihn mehr Glauben zu schenken. Nun ja. Hardrich verließ also nach einer Weile den Altar unter uns und stieg die Treppen hinauf, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend. Ich hatte mich zum Schein auch schlafend gestellt und blinzelte unter meinen halb geschlossenen Lidern zum Weg hinüber. Er aber sah weder rechts noch links und entdeckte uns auf unserer versteckten Bank nicht. Gott sei Dank!
Ich wartete noch eine gute halbe Stunde und weckte dann meinen Begleiter, der von alledem nichts mitbekommen hatte und langsam kehrten wir zusammen zur Burg zurück. Wir erfrischten uns noch ein wenig am sprudelnden Wasser der Springbrunnen und bald war es Zeit, dass ein jeder in seine Gemächer zurückkehrte und sich für den festlichen Anlass am Abend umzog.
Neben der großen Gruppe Edler aus der Ostmark, zu denen auch ich gehörte, waren noch Dutzende Adelige und Ritter mit ihren Frauen aus anderen Landesteilen angereist, um den jungen von Aven mit eigenen Augen zu sehen. Sein Ruf war ihm wieder einmal vorausgeeilt. Heute Abend werden wir hier auf der Burg in großer Runde speisen und sicher vortrefflich bewirtet werden, aber das Mahl damals am Königshof übertraf alles, was ich bis dahin an Feierlichkeiten erlebt hatte. An schier endlosen Tischen, die sternförmig vom Tisch des Königs ausgingen, saßen wir in langen Reihen zusammen. Mir gegenüber hatte die Familie von Dühring Platz genommen. Und zwar mit dem damals sechzehnjährigen Knaben, der heute der erste Mann im Gefolge unseres Markgrafen ist. An dem runden Tisch in der Mitte des Saales saßen der König und die Königin, die elf Ritter und Hardrich.
Er trug als einziger in der ganzen, großen Gesellschaft den Helm auf dem Kopf. Und ich muss gestehen, selbst wir, die wir ihn ja nur so kannten, sahen ihn nun plötzlich mit den Augen der anderen Gäste und schämten uns unseres Lehnsherrn. Der ganze Saal starrte ihn an. Nur der König und seine Gemahlin gingen mit einer Gelassenheit darüber hinweg, um die ich heilfroh war. Ich saß so, dass ich der Königin ins Gesicht sehen konnte, die sich hin und wieder mit einer Frage oder Bemerkung an ihn wandte, um ihn ein wenig aus seiner wortkargen Einsamkeit inmitten all dieser Leute zu reißen. Und obwohl er offensichtlich nur recht einsilbig antwortete, wie es auch schon damals seine Art war, konnte ich von meinem Platz aus sehen, dass die Königin ihn anlächelte und ihm zunickte, wie um aller Welt zu zeigen, dass ihm der Platz zustand, der ihm morgen gegeben werden würde.
Ich hoffe sehr, du wirst Gelegenheit bekommen, diese Frau einmal kennenzulernen. Sie stammt aus einem vornehmen Geschlecht aus portugiesischen Landen. Eine sehr verständige, herzliche Frau. Klein von Wuchs und mit rundlichen Formen, aber mit leidenschaftlichen, dunklen Augen, schwarzem Haar und wachem Verstand. Der König ist ihr sehr zugetan, wie es heißt, und auch Hardrich wird ihr dieses Entgegenkommen so schnell nicht vergessen. Solange ich ihn kenne, hat er immer mit Hochachtung vom Königshaus gesprochen. Und er hat auch allen Grund dankbar zu sein."
Von Trettin räusperte sich.
„Ach Gertraud, hast Du denn nichts zu trinken für Deinen alten Vater? Meine Kehle ist schon ganz trocken vom Erzählen", fragte ihr Ziehvater und sah sie mit gespieltem Vorwurf im Blick an.
Gertraud sprang dienstfertig auf und wusste dann aber gar nicht, was sie tun sollte.
"Denkt Ihr, ich könnte einfach etwas zu trinken für Euch kommen lassen?", fragte sie zaghaft.
Er nickte und sagte:
"Na, aber sicher! Versuch es einmal, Kind."
Gertraud öffnete die Tür.
Sie sah, dass neben der immer noch anwesenden Wache ein Page an der Treppe stand, der, als die Tür aufging, Haltung annahm und sich in ihre Richtung verbeugte.
"Ich hätte gerne Bier für ... meinen Vater und mich, bitte", rief sie mit unsicherer Stimme.
Mit großer Erleichterung sah sie dann, dass der Junge nickte und ohne Widerworte die Treppen hinunterstürzte.
Sie kehrte ins Zimmer zurück und bemerkte von Trettins Lächeln.
"Siehst du? Es ist ganz einfach und man gewöhnt sich sehr rasch daran, Wünsche als Anweisungen zu äußern. Auch ohne zu bitten", sagte dieser.
Sie warteten, bis der Page die Krüge gebracht hatte.
Es war noch Bier aus der heimatlichen Brauerei und beide nahmen einen großen Schluck. Von Trettin strich sich den Schaum aus dem grauen Schnurrbart und fuhr dann fort.
"Der Abend verlief sonst ereignislos, aber man spürte bei vielen der Anwesenden wachsendes Unbehagen darüber, dass der König diesen wilden, jungen Mann, der des Mordes an seinem Onkel angeklagt gewesen war, zum Ritter schlagen würde. Ihn, der, wie es vielen wohl schien, mit kindlichem Starrsinn den Helm selbst bei Tisch und im Angesicht des Königs aufbehielt! Ich nehme an, dass der König weiß, was es mit dem Helm auf sich hat und es ihm aus gutem Grunde nachgesehen hat.
Aber unter den Rittern am Tisch machte sich bald Unmut breit, das spürte man deutlich. Ich fing mehr als einmal einen besorgten Blick von Wernherr von Harchow auf. Und als Hardrich bald nach dem Essen den König bat, sich zurückziehen zu dürfen, erhob auch ich mich und wie auf ein Zeichen hin, folgten bald alle Gefolgsleute der Ostmark und wir verließen geschlossen den Saal. Im Gehen hörte ich noch, wie Wernherr von Harchow hinter mir zu einem der anderen sagte: "Wir haben solange auf den morgigen Tag gewartet! Ich hoffe sehr, dass jetzt nicht noch kurz vor dem Ziel ein unbedachtes Wort von ihm oder von einem von uns, alles zunichte macht, wofür wir all die Jahre gekämpft haben. Gebe Gott, dass er sich morgen aus allen Händeln heraushält!"
Und es schien wirklich, als hätte Hardrich, vielleicht auf Drängen des Königs, diesen Ratschlag beherzigt, denn er ließ sich den ganzen nächsten Tag kaum sehen. Auch wir hatten Mühe, uns nicht von den Sticheleien und bissigen Bemerkungen reizen zu lassen, mit denen die Männer des Hofes uns bedachten. Wir blieben in Gruppen unter uns und stets war jemand der Älteren zur Stelle, wenn sich gerade jemand zu einem bösen Widerwort hinreißen lassen wollte. Besonders Wichard litt unter der gereizten Stimmung. Es gab mehrere andere Burschen in seinem Alter, die ihn Hardrichs wegen verspotteten und mehr als einmal musste sein Vater ihn von einer Rauferei abhalten. Die Zeit schleppte sich dahin, doch endlich, endlich riefen die Fanfaren zur Schwertleihe in den Thronsaal.
Alles drängte hinein und suchte einen möglichst guten Platz zu bekommen. Bald war nur noch der Mittelgang frei. Langsam verstummte die Menge. Wieder ertönten die Bläser und die Spannung erreichte ihren Höhepunkt. Hardrich kam herein, eskortiert von den elf ersten Rittern des Königs. Diese schritten im Halbkreis dicht hinter ihm her. Als sie gerade auf meiner Höhe, fast in der Mitte des Saales angekommen waren, bemerkte ich, wie derjenige, der direkt hinter Hardrich ging, ihm leise etwas zuflüsterte. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber es muss wohl irgendeine grobe Beleidigung gewesen sein, denn Hardrichs Gang stockte, sein Gesicht lief hochrot an und jeder Muskel in seinem Körper schien zum Zerreißen angespannt zu sein. Aber er ging weiter, als wäre nichts geschehen. Ich bin sicher, wenn er sich damals nicht beherrscht hätte, sondern sich umgedreht und zugeschlagen hätte, wie er es ohne Zweifel liebend gerne getan hätte, hätte ihm auch die Fürsprache des Königs nicht helfen können und alles hätte ein böses Ende genommen.
Ich habe schon so manches Mal darüber gegrübelt, ob nicht der König selber dieses als letzte Probe für ihn erdacht hatte. Aber wer weiß? Hardrich schritt also unbeirrt weiter und kniete vor dem Thron unseres Königs nieder. Auch hier behielt er wie selbstverständlich den Helm auf dem Kopf. Er empfing den Ritterschlag und der König überreichte ihm als Zeichen seines neuen Standes das väterliche Schwert, die Klinge unseres gerechten Markgrafen Otto.
Er war nun unser Lehnsherr, der Markgraf der Ostmark und jüngster Ritter des Königs. Der König umarmte ihn danach herzlich und ließ dann die Türen zum Festplatz hin öffnen. Hier waren unter freiem Himmel herrliche Büfetts, Tische und Bänke, Tanzflächen und Bühnen aufgebaut worden. Und alles strömte hinaus und wir waren froh, dass es vorüber war und hofften, dass die unheilvolle Stimmung der letzten Tage mit der Feier verfliegen würde. Ausgelassen aßen und tranken wir, mit Hardrich in unserer Mitte, der wie immer schweigsam und unnahbar das Geschehen um sich herum betrachtete.
Doch unsere Freude währte nur kurz. Das Unglück näherte sich bereits und zwar in Gestalt einer Hofdame aus dem Kreis der Frauen um die Königstochter. Kichernd und schnatternd, wie eine Schar Gänse standen sie zuerst in seiner Nähe herum und warfen ihm neugierige Blicke zu. Dann schwirrten sie plötzlich heran, herausgeputzt und mit Schmuck und vielerlei Zierrat beladen, wie ein Schwarm schillernd bunter Vögel. Und so zwitscherten und redeten sie alle durcheinander, gratulierten erst artig und schwatzten dann allerhand dummes Zeug. Du kannst dir vielleicht seine Verwirrung vorstellen. Er, dem so gar nicht der Sinn steht nach höfischer Plauderei. Er war dennoch bemüht, zumindest höflich zu bleiben. Er sagte 'Ja' und 'Nein' und 'So scheint es', doch die Weiberschar kannte keine Gnade. Eines der Mädchen, noch ein paar Jahre jünger als du, war ganz besonders vermessen und fasste ihn schließlich am Arm und wollte ihn zum Tanzboden ziehen.
Hardrich war des Geplänkels langsam überdrüssig und entzog ihr seinen Arm.
Er knurrte sie an: "Ich tanze nicht!", woraufhin einige der Mädchen, unter ihnen die Prinzessin, sich erschrocken zurückzogen. Ein solches Gebaren waren sie sicherlich nicht von ihren Kavalieren gewohnt.
Aber die dreiste, kleine Person, die sofort wieder an seinem Arm hing, lachte nur. Ich stand ganz in der Nähe und mir schwante nichts Gutes, als ich sie seine unmissverständliche Warnung ignorieren hörte. Sie zerrte weiter an ihm und bat und bettelte mit Unschuldsmiene, er möge doch mit ihr tanzen. Schließlich schmiegte sich die schamlose Person eng an ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während ihre Hand gleichzeitig nach der Schnalle seines Helmes langte. Sei es nun, dass er selber merkte, was sie eigentlich im Schilde führte, sei es, dass er den erschrockenen Blick von einem von uns gewahr wurde, jedenfalls packte er auf einmal wutentbrannt ihr Handgelenk und schleuderte sie, wie angewidert, zu Boden.
Vor Schmerz und Entsetzen stieß sie einen spitzen Schrei aus und landete genau zu meinen Füßen. Ihre Hand stand in einem unnatürlichem Winkel vom Körper ab. Als wäre ihr Knochen ein Stück Schilfrohr, hatte er ihr mit einer Hand den Arm gebrochen."
Von Trettin unterbrach seine Erzählung, lehnte sich erschöpft im Sessel zurück und nahm seinen Krug zur Hand.
"Sie hat tatsächlich versucht, ihm vor allen Leuten seinen Helm abzunehmen?", fragte Gertraud ungläubig.
"Ja, stell dir vor! Später sprach sich herum, dass die törichten Weibsbilder untereinander gewettet hatten, wer wohl den unheimlichen jungen Mann dazu bringen könnte, sich einmal ohne Helm zu zeigen", antwortete von Trettin kopfschüttelnd und fuhr fort: "Jedenfalls brach die ganze aufgestaute Abneigung gegen unseren Ritter nun mit einem Schlag über uns herein.
Das Mädchen war zwar, Gott sei Dank, nicht die Tochter eines hochrangigen Adeligen oder gar die Prinzessin selber, sondern nur die Schwester irgendeines jungen Hauptmanns am Hofe, nichtsdestotrotz gab der Vorfall den umher stehenden Männern eine willkommene Gelegenheit, sich mit dem unliebsamen Fremden anzulegen.
Einer der anderen elf Ritter, der ganz in der Nähe gestanden hatte, machte sich sogleich zum Wortführer. Es war Kuno de Kempervennen, dem weite Teile des Nordwestens als Lehen unterstehen. Er beschimpfte Hardrich und nannte ihn einen Feigling, dass er sich mit Frauen schlagen müsse und ähnliches mehr. Hier und da wurden Schwerter gezogen. Und mir zu Füßen wimmerte noch immer die junge Frau.
Hardrich stand wie angewurzelt da. Er rührte sich nicht, erwiderte nichts, stand da wie ein Felsbrocken. Und vielleicht war es besser so. Im Kreis unserer Leute dagegen, begann sich Unmut zu regen, und ich hörte, wie auch hier einige Klingen gezogen wurden. Ein Junge drängte durch die Reihen nach vorne. Wichard von Dühring!
Er hatte sein Kurzschwert gezückt und stellte sich breitbeinig und mit grimmigem Blick links neben Hardrich, der verwundert die Brauen hob und auf ihn herabsah. Und ich grübelte verzweifelt nach einer Lösung, zu der ich mich durch meinen gestrigen Schwur verpflichtet fühlte."
Gertraud hatte mit großen Augen seinen Worten gelauscht.
"Und? Was tatet Ihr?", fragte sie gespannt.
"Nun, was hättest Du getan?", fragte von Trettin schmunzelnd.
"Ich weiß es nicht. Was hätte ich schon ausrichten können? Oh bitte! Spannt mich nicht auf die Folter. Lasst mich wissen, was weiter geschah!", bat sie.
"Tja, um mein Vorgehen zu verstehen, musst Du wissen, dass Kuno de Kempervennen wohl einer der hässlichste Menschen unter der Sonne ist. Obwohl gerade fünf Jahre älter als Hardrich, ist sein Haar schon schütter. Zudem hat er eine spitze, überlange Nase, gar schiefe, gelbe Zähne und seine abstehenden Ohren sind so riesig, dass eine ganze Familie im Sommer darunter Schatten findet. Rote Flecken bedecken sein Gesicht, die Augen stehen dicht beieinander und stets trägt er ein etwas dümmliches Lächeln auf den Lippen.
Dabei ist er von recht stattlichem Wuchs und untadeligem Betragen, aber trotz seiner adeligen Herkunft und einem freundlichem Wesen, war es ihm aufgrund seines Äußeren bis zu jenem Tage nicht vergönnt, eine Frau als seine Gattin heimzuholen. Zweimal hatte er bereits vergeblich um eine Frau geworben und stets hatten die Damen unter irgendeinem Vorwand seinen Antrag abgelehnt.
Ich hatte bei einigen Gelegenheiten in den Tagen am Hof mitangesehen, wie sich die holde Weiblichkeit stets rasch und kichernd zurückzog, wenn er sich näherte.
Auch trägt er einen Eber im Wappen. Dieser kann sich zwar im Kampfe als recht gefährlich und nicht zu unterschätzender Gegner erweisen, aber genau genommen ist es eben doch nur ein Schwein. Der Arme kann einem wirklich leid tun!
Was ich also tat, war folgendes: Ich sprang zwischen die Fronten und begann laut zu schimpfen und mit den Armen zu fuchteln. Was den beiden einfiele, herumzustehen, während die zarte Frau verletzt am Boden läge! Was seien sie beide für Grobiane, nicht zuerst an die holde Dame zu denken, sondern sich in Angesicht ihrer Schmerzen die Köpfe einschlagen zu wollen! Alles starrte mich verblüfft an, während ich bei meinem Theaterspiel Blut und Wasser schwitzte. Und weiter gegen ihre Gefühllosigkeit wetternd, fasste ich alsdann den Ritter Kuno am Ärmel und zerrte ihn zu der Verletzten.
Ich forderte ihn auf, seine ritterliche Pflicht zu tun und sie auf seinen starken Armen zu einem Heiler zu tragen. Das ließ sich de Kempervennen dann auch nicht zweimal sagen, sondern steckte sein Schwert zurück und hob die verstörte Frau ganz behutsam vom Boden auf. Vor Schreck und Schmerz ganz benommen, schmiegte sich diese an ihn, was von Kempervennen mit einem Schlag, Hardrich und alles um ihn herum vergessen ließ.
Mit hochrotem Kopf und einem seligen Lächeln im Gesicht trug er die Verletzte hinaus, ohne auch nur einen Blick von dem blutjungen, hübschen Ding zu wenden. Damit war, Gott sei Dank, der aufkommenden Empörung gegen unseren Markgrafen die Spitze abgeschlagen. Und obwohl einige der Umstehenden immer noch wütende Blicke auf Hardrich und mich warfen, sah ich doch auch den einen oder anderen verstohlen grinsen. Die Schaulustigen zerstreuten sich und langsam kehrte wieder Ruhe ein. Später am Abend kam der König mit seiner Gemahlin zu uns herüber. Sie gesellte sich zu Hardrich und beklagte mit lauter Stimme die Dreistigkeit des Mädchens und den unglücklichen Vorfall.
Der König dagegen nahm mich zu meinem Erstaunen beiseite und sagte: "Ihr seid ein Fuchs, von Trettin. Heute Abend habt Ihr Eurem Herrn einen großen Dienst erwiesen und zudem ein Anliegen verteidigt, welches mir sehr am Herzen liegt. Ich war Hardrichs Vater immer in Freundschaft verbunden und fühle mich in seinem Andenken auch seinem Sohn verpflichtet. Mit seiner Erhebung in den Ritterstand habe ich für ihn getan, was ich konnte. Und wenn ich sehe, was er für Freunde in den eigenen Reihen hat, bin ich getrost, dass alles sich doch noch zum Guten wenden wird."
Dann klopfte er mir auf die Schulter und ging.Anderntags fand noch ein großes Turnier statt. Und der junge von Aven, dem zu Hause bei allen Waffenspielen kaum einer wirklich die Stirn zu bieten wagte, musste kräftig Prügel einstecken. Hier wich keiner aus Furcht zurück. Im Gegenteil! Alle waren nur darauf aus, ihm noch einen mit auf den Weg zu geben. Er schlug sich dennoch tapfer und biss die Zähne zusammen. Zerschunden kehrte er hierher zurück, doch hat er sich seitdem bei anderen Turnieren und vor allem auf dem Schlachtfeld die Achtung seiner Mitstreiter verdient.
Besonders vertraut ist er übrigens mit de Kempervennen. Es scheint, als ob die körperlichen Makel der beiden sie auf irgendeine Art verbinden. Ich will nicht von einer echten Freundschaft sprechen, aber wenn der König seine Lehnsleute zu sich ruft, sind beide oft zusammen anzutreffen."
"Und danach hat er Euch zum Dank das Lehen überantwortet?", fragte Gertraud.
"Nun, er ließ mir mitteilen, dass ich in Zukunft für dies und das zuständig sei. Ein Wort des Dankes aber habe ich von ihm nie zu hören bekommen. Aber das soll mich nicht weiter kümmern", antwortete der alte Mann.
"Und das Mädchen? Wisst Ihr, was aus Ihr wurde?", wollte Gertraud wissen und nahm ihren Krug zur Hand.
Ihr Gegenüber trank auch einen Schluck und erwiderte belustigt:
"Nun ja. Der gute Kuno kehrte den ganzen Abend nicht zu den Feierlichkeiten zurück. Er hat, so heißt es, wie ein Luchs über die Arbeit des Heilkundigen gewacht und an ihrem Krankenlager gesessen. Hardrich ließ der Familie des Mädchens ein großzügiges Schmerzensgeld zukommen, was als Mitgift gerade gelegen kam. Denn kaum war der Knochenbruch verheilt, hielt de Kempervennen um ihre Hand an. Und wenn er auch diesmal eine Absage hätte einstecken müssen, wäre er wohl nicht wieder froh geworden. Er hatte sich Hals über Kopf auf das heftigste in die Kleine verliebt. Und auch sie entdeckte wohl, dass sich hinter seinem Aussehen ein gutes Herz und eine vorteilhafte Partie verbarg. Und drei Monate später wurde die Ehe geschlossen." Gertraud lachte und sagte:
"So eine schöne Geschichte!"

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Ich freue mich immer über Favs und Rückmeldungen! :)

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt