Am Ende war Gertraud so laut geworden, dass Ännlin anfing zu weinen.
„Ich werde nicht hier sitzen und zusehen, wie das Schwein weiter Frauen und Männer der Mark ausbluten lässt! Ich kann kein Schwert führen! Aber ich kann die Zauderer überzeugen. Ich komme mit!"
„Das kommt nicht in Frage! Willst Du dem Verbrecher wieder in die Fänge geraten?"
„Nein, das will ich nicht. Und genau deshalb müssen wir endlich etwas gegen ihn unternehmen!", fauchte sie.
„Dein Mann bringt mich um, wenn Dir etwas geschieht."
„Sei ehrlich, Wichard. Du rechnest nicht damit, dass er noch lebt."
Von Dühring widerstand dem Drang hinzuzufügen, dass auch er nicht wollte, dass ihr etwas geschah, denn er fürchtete, Melli könnte mehr in diese Aussage legen, als ihm lieb war. Doch dann war gerade sie es, die aussprach, was er dachte.
„Gertraud, geh nicht. Ich bitte dich! Das ist zu gefährlich. Ich fürchte jede Stunde, die Wichard unterwegs ist. Wenn ihr nun beide aufbrecht, werde ich hier vor Sorge irre."
„Ach, Melli, ich kann nicht länger bloß die Hände in den Schoß legen."
„Was ist mit Ännlin?"
„Du weißt doch, was zu tun ist. Du bist die Mutter. Und wir haben es mit dem Horn versucht. Das ging doch gut. Damit kannst Du den Tag überbrücken. Und ich bin abends wieder zurück, um zu stillen. Ich werd ja nicht tagelang fort sein."
Es war jetzt Ende November und Ännlin damit fast zwei Monate alt. Sie gedieh prächtig und war rosig und gesund. Und sie hatte die warme Ziegenmilch, die sie ihr probehalber in einem durchstoßenen Trinkhorn angeboten hatten, ohne viel Aufhebens angenommen. Es würde sicher einen halben Tag ohne Gertraud gehen.
Seit die Männer ihren Plan mit dem Tunnel aufgegeben hatten, drängte Wilhelm darauf, Leute für einen Angriff zu rekrutieren. Wichard hatte wiederholt eingewendet, dass sie auch mit einer ganzen Armee die Besatzer hinter den Burgmauern nicht zu packen bekämen. Eine List müsse her. Trotzdem war es nicht von der Hand zu weisen, dass sie Unterstützung brauchten, selbst wenn es ihnen gelänge, das Burgtor zu öffnen.
Nach schier endloser Streiterei willigte Wichard schließlich zermürbt ein, sie auf ihren nächsten Streifzug mitzunehmen. Noch gab es zwar keinen konkreten Plan, doch hier ging es auch darum, Präsenz zu zeigen und zu ermitteln, wie die Bereitschaft zum Handeln in der Bevölkerung aussah.
So machten sie sich früh am Tage zum ausgemachten Treffpunkt auf, wo Wilhelm von Meez mit einer Handvoll Bewaffneter bereits wartete. Gemeinsam ging es dann weiter. Wilhelm behandelte sie mit solch vollendeter Höflichkeit, dass sie ein wenig argwöhnte, er sähe sie nicht als Gemahlin des Landesherrn, sondern als Witwe und gute Partie. Doch ihre anfängliche Verstimmtheit verflog bald. Zu sehr genoss sie es, aus dem Haus zu kommen und mit den Männern unterwegs zu sein. Es war aufregend und wenn sie ehrlich war, mochte sie Wilhelm und seine lockere, leicht spöttische Art. Wichard hingegen hielt sich den Tag über vermummt im Hintergrund, denn er wollte so wenig wie möglich mit der befreiten Dame von Aven in Verbindung gebracht werden. Sollte jemand der Dörfler sie verraten oder sich verplappern, wäre es für alle auf dem heimatlichen Gut von Dührings verheerend. Es sollte vielmehr überall der Eindruck entstehen, als sei die hohe Frau selbstverständlich auf dem wehrhaften Anwesen der Familie von Treptow untergebracht. Denn dass dort die Aufständischen um Wilhelm von Meez ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, war ein Gerücht, dass überall kursierte.
Insgeheim hoffte von Dühring, dass Gertrauds Mitwirkung keinen Unterschied machen würde und dass die Strapazen des Ritts und die winterlichen Bedingungen ihr weitere Ausflüge dieser Art verleiden würde.
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Die Tochter des Brauers
Romantik"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...