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Zwei Tage später lebte der Gefangene immer noch. Er schien starke Schmerzen zu haben und hatte sich mehrfach erbrochen, doch er lebte.
Wichard war maßlos verärgert, denn nun sah er sich doch gezwungen, den Mann wenigstens mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Christenpflicht gebot es. Er konnte den Verletzten nicht einfach verdursten und verhungern und auch nicht im Erbrochenen und in seiner Notdurft liegen lassen. Damit der Mann eigenständig essen und trinken konnte, entschied Wichard auch, ihm die starre Handgelenksfessel wieder abzunehmen.
Allerdings nicht, bevor man ihm statt dessen eine eiserne Halsschelle angelegt hatte, die mit einer Kette an der Wand befestigt wurde. Mit Stricken gebunden an Händen und Füßen und mit vor Schmerzen trübem Blick hatte Onjuk es über sich ergehen lassen müssen und er sah nun mit an, wie Josef und einer der anderen Knechte im Licht einer Talglampe die letzten Kettenglieder mit Hammer und Zange verschlossen. Ein weiterer Knecht hielt zudem eine Fackel und einen Knüppel griffbereit, während Wichard mit dem Schwert in der Hand ruhig und achtsam von der offenen Tür aus die Arbeiten überwachte.
Auch Beat war mit hinuntergekommen. Mit klopfendem Herzen stand er hinter seinem Onkel und lugte neugierig an dem vorbei ins Innere des Kerkers.
Der Kumane blickte auf und sah den bewaffneten Mann direkt an. Beide Männer beäugten sich aufmerksam und maßen sich mit Blicken.
Dies also war der märkische Soldat, der seinen Khan erdolcht und seine Gefangene fast unter seinen Augen befreit hatte, dachte Onjuk. Das Frettchen, wie er ihn verächtlich genannt hatte. Ein Krieger, wie er. Hatte er ihn im Hof erwischt?
Onjuk hob mühsam die gefesselten Hände, wies auf seine Verletzung und dann mit fragendem Blick auf Wichard. Von Dühring grinste und schüttelte den Kopf.
Dann rief er seinen Neffen nach vorne:
„Beat, komm einmal vor."
Der Junge trat langsam neben seinen Onkel und Wichard wies mit einem Kopfnicken auf ihn, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Erstaunt musterte der Sardori den Knaben. Das Kind? Das Kind hatte ihn niedergeschlagen?
Seine Miene blieb zunächst unergründlich, bis er sah, was Beat am Gürtel trug. Es war sein Dolch. Und sein Säbel.
Ein zorniges Grollen entfuhr ihm und er bäumte sich in seinen Fesseln auf. Beat stolperte drei Schritte rückwärts und Wichard hob seine Waffe. Doch Josef, der direkt neben dem Gefangenen kniete, war schneller. Er hatte, mehr vor Schreck als aus Furcht heraus, mit der schweren Zange ausgeholt und zugeschlagen, bevor Wichard noch etwas sagen konnte.
Onjuk sackte in sich zusammen.
Als er später langsam wieder zu sich kam, lag er erneut in tiefer Finsternis auf seinem Strohlager unter einer Wolldecke. Trotzdem fror er bis auf die Knochen. Ihm war übel und sein Kopf fühlte sich an, als wäre eine Herde Rinder darüber hinweg getrampelt.
Durst quälte ihn zudem. Er versuchte sich aufzurichten, schaffte es aber nur auf Hände und Knie. Schwankend umher kriechend tastete er den Boden seiner Zelle ab. Hatten die Männer vorhin nicht ein Gefäß, einen Krug, mit herunter gebracht? Da stieß er mit dem Knöchel gegen etwas und hörte ein leises Scheppern. Der Krug!
Ächzend fuhr er herum, fand den umgekippten Wasserkrug, roch kurz daran und setzte ihn an die Lippen. Es war kaum mehr genug Wasser darin, um sich Mund und Kehle einmal zu befeuchten. Dafür war sein Lager jetzt nass. Zermürbt stöhnte er auf.
Neben dem Krug fand er einen Holzteller mit ein paar Stücken alten Brotes darauf. Seiner Übelkeit zum Trotz zwang er sich, alles Stück für Stück herunterzuwürgen, was ihm mit seiner ausgedörrten Kehle schwer fiel.
Danach lehnte er sich erschöpft an die Wand, befühlte die Eisenschelle um seinen Hals und zerrte an der Kette herum. Doch er hatte die Männer bei ihrer Arbeit gesehen und wusste, es war aussichtslos. Das Eisen würde sich nur mit Werkzeug wieder lösen und öffnen lassen. Die Anstrengung aber hatte seinen Kopf vor Schmerzen fast zerspringen lassen.
Mühsam zog er die Decke heran, wickelte sich darin ein und ließ sich ächzend wieder zu Boden sinken.
„Der Junge...", dachte er zähneknirschend und wieder kochte Zorn in ihm hoch.
Nicht einmal seine treuesten Untergebenen hatten je seine kostbaren Waffen berühren dürfen und jetzt trug der elende Frettchenwelpe sie an seinem Gürtel. Wie eine Trophäe! Nichts als ein dummer Zufall war es gewesen! Ihr Glück. Sein Pech.
Der Junge hatte ihn hinterrücks niedergeschlagen. Nur deshalb hatte er den Schlag überhaupt überlebt. Hätte ein erwachsener Gegner den Schlag geführt, wäre er schon tot. Aber warum hatte der Mann – war es der Vater des Jungen? – ihn anschließend nicht getötet? Er war ihnen zu nichts nütze. Das ergab doch keinerlei Sinn!
Er stöhnte. Was würden seine Kameraden jetzt nur von ihm denken? Ob sie vermuteten, er sei geflohen? Zurück nach Hause?
Schmerzhaft krallten sich seine vor Kälte steifen Finger in die Kette, die ihn hielt, während er an seine so furchtbar weit entfernte kleine Familie dachte. An seine Frau. Irini. Seine wunderbare, stolze Irini. An seine Tochter und an seinen kleinen Sohn.
Was würde mit ihnen geschehen, wenn er nicht zurückkehrte? Er wusste es schlichtweg nicht. Es mochte so oder so ausgehen. Es hing davon ab, wer der neue Khan werden würde. Und in welcher Laune der Fürst sich gerade befand, wenn diese Entscheidung anstand.
Und vielleicht, so hoffte Onjuk inbrünstig, ging ja auch all dies in den wohl zu erwartenden Thronfolgestreitigkeiten unter.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt