Es fror Stein und Bein.
Wichard vergrub die behandschuhten Hände unter seinen Achseln und trat von einem Bein aufs andere. Neben ihm in der ausgetrockneten Zisterne stand die hölzerne Leiter, über die er heruntergeklettert war. Finsternis umgab ihn.
Das einzige, was er sehen konnte, war das in etwa quadratische und mit Sternen übersäte Stück Nachthimmel, das die Schachtöffnung über ihm freigab. Das verfallende Wasserreservoir gehörte zu einer uralten, längst aufgegebenen Stallanlage, die einst dem ältestem Teil der Burg angeschlossen war und etwas abgelegen am Beginn der Gärten und direkt am Fundament der Mauern lag. Er lehnte sich an die bröckelnde, aus Feldsteinen grob gemauerte Wand, legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Firmament hinauf. Direkt über ihm leuchtete das Sternbild des Orion.
Für einen Moment vergaß er die Kälte und Dunkelheit um sich her und betrachtete die schimmernden Lichter.
Entrückt und erhaben blickten sie voller Gleichmut auf sie alle herab. All die Sorgen und Gewissensnöte, die ihn hier unten quälten, all das bedeutete den Gestirnen dort oben in der ewigen Unendlichkeit des Himmels weniger als ihm der Staub unter seinen Stiefeln. Er seufzte tief und wünschte nur ein wenig dieser Gelassenheit würde sein Innerstes zur Ruhe kommen lassen.
Er dachte an Melli.Wichard sah ihr an, dass sie jedes Mal, wenn er das Haus verließ, vor Angst um ihn verging. Aber sie wusste, dass er gehen musste und würde. Und so lächelte sie tapfer, wenn er sie sanft auf die Stirn küsste und sagte, er wäre bald wieder da und ließ ihn ohne Widerworte gehen.Sie war trotz ihrer körperlichen Schwäche so unglaublich mutig gewesen in den letzten Wochen und Monaten. Seinetwegen hatte sie ihr behütetes Elternhaus verlassen und war ihm in die Fremde gefolgt. In Feindesland zum Schluss. Und sie bemühte sich nach Kräften, sich einzuleben und ihren Platz zu finden. Das Gesinde im Haus seiner Eltern nahm sie nicht recht für voll, hatte er den Eindruck. Doch sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Vater zu pflegen und diesem ein Trost in diesen dunklen Zeiten zu sein. Und der alte Herr hatte sie schon bald ins Herz geschlossen.
Seit Wichard da war, schien es, als ließe sein Vater endgültig alle Zügel fahren. Als ließe er sich mit einem Seufzen zurücksinken, unendlich froh, die erdrückende Verantwortung für Heim und Hof an seinen Sohn abgeben zu können. Und so lag er dieser Tage meist in Decken gehüllt in seinem Sessel am Feuer, während seine Schwiegertochter ihn unterhielt, ihm vorlas oder auch einfach, mit einer Handarbeit auf den Knien, seinen Worten lauschte.
Sie reichte ihm Essen und Trinken an den Mund, wenn seine Hände zu sehr zitterten und versuchte, ihm alles so angenehm wie möglich zu machen.
Manchmal spielte sie auch eine Weile etwas auf der Laute für ihn.
Melli hatte das Lautenspiel als junges Mädchen zwar gelernt, wie es sich für junge Damen ihres Standes gehörte, dann aber irgendwann vernachlässigt. Nach ihrer Hochzeit damals hatte ihr Mann sie ermuntert, wieder damit zu beginnen. Weil er es so gerne hörte, hatte er gesagt. Und natürlich hatte sie sich mit Feuereifer daran gemacht, um ihm zu Gefallen zu sein.
Doch wenn er sie dasitzen sah mit ihrem Instrument im Arm, hatte er nicht nur der Musik gelauscht, wenn er ganz ehrlich war, sondern an die Stunden mit Gertraud zurück gedacht. Jedes Mal, wenn er sie jetzt spielen hörte, nagte das schlechtes Gewissen an ihm.
Sollte ihr irrwitziger Plan wirklich aufgehen und sie die Markgräfin befreien können, würde er die Gemahlin seines Herrn natürlich mit bei sich im Hause aufnehmen. Und beim Gedanken daran, zog sich ihm das Herz im Leibe zusammen.
Fast wünschte er, er würde beim Versuch sein Leben lassen, um nicht in Mellis Augen sehen zu müssen, wenn sie mit Gertraud zusammentraf.
Gerade jetzt, dachte er ächzend. So viele Wochen lang waren sie auf engstem Raum zusammen unterwegs gewesen und vertraut miteinander, wie er es noch nie zuvor mit jemandem gewesen war.
Es war nicht nur Dankbarkeit, dass sie sich mit solcher Hingabe seinem Vater zuwandte. Er hatte sie liebgewonnen. Und um nichts auf der Welt wollte er ihr Leid zufügen. Doch genau das würde passieren.Ein Geräusch schreckte ihn aus seinen Gedanken. Und da war auch ein schwacher Lichtschimmer, der plötzlich durch eine Ritze in der Burgmauer fiel. Etwa in Bauchhöhe. Er kniete sich auf den Boden und hörte jetzt deutlich ein Knarzen und Schaben im Innern der Steinwand.
„Herr?", drang Lienhards Stimme dumpf zu ihm heraus.
„Hier! Ich bin hier. Ich seh das Licht!", raunte Wichard zurück und untersuchte die Fugen, durch die der schwache Schein von Lienhards Laterne leuchtete.
Sie hatten die morsche Stelle in der Mauer, von der ihm der Junge erzählt hatte, also in der Tat gefunden.
Wie vereinbart, begannen sie, mit den mitgebrachten Haken und Stemmeisen den Mörtel aus den Ritzen zu kratzen und die Steine zu lockern. Der Junge von innen und er von außen. Es war eine mühselige, kräftezehrende Arbeit und anfangs schienen sie nicht einen Deut voranzukommen.
Ihre Füße waren bald taub vor Kälte, ihre Nägel blutig und die Hände voll Quetschungen und Schrammen. Verbissen schabten und hebelten sie an den eisigen Steinen und dem gefrorenen Putz herum und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich der erste große Stein endlich knirschend löste und auf den Boden der Zisterne plumpste.
Durch die kleine Öffnung, die entstanden war, konnte er Lienhards erleichtertes Grinsen sehen.Danach ging es etwas einfacher. Nach und nach erweiterten sie den Durchgang, bis Wichard sich ins Innere zwängen konnte. Damit war die erste Hürde genommen. Sie hatten einen Weg gefunden, wie er ungesehen in die Burg gelangte.
Neugierig sah von Dühring sich um. Der Gang war geräumiger, als er erwartet hatte. Sie konnten sogar leicht gebückt darin stehen. Bald schon würde der nächste Tag anbrechen und für heute mussten sie Schluss machen. Doch bevor Wichard nach Hause zurückkehrte, wollte er sich zumindest kurz noch selber ein Bild von der Stelle machen, die Lienhard ihm geschildert hatte. Eilig huschten die beiden leise und vorsichtig durch das dunkle Labyrinth, das der Junge wie seine Westentasche zu kennen schien.
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Die Tochter des Brauers
Historical Fiction"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...