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Tage verrannen. Zäh schleppte sich die Zeit dahin, ohne dass sie irgendetwas über die Ereignisse in Erfahrung bringen konnte, die sich gerade irgendwo dort oben über ihren Köpfen zutragen mussten.
Der Sardori kehrte nicht zurück und sie blieb mit den wechselnden Wachen allein zurück. Ständig zwischen Hoffen und Bangen. Tag und Nacht ließen sich nur grob an den Mahlzeiten und Ruhepausen der Soldaten ausmachen.
Sie bemühte sich, sich auch mit diesen Männern zu verständigen. Einen kleinen Brückenschlag zu schaffen zwischen ihnen. Doch ihre Bemühungen wurden mehr oder wenig unwirsch mit einem Kopfschütteln im Keim erstickt.
Dennoch konnte sie nicht über ihre Behandlung klagen. Niemand belästigte sie, Eimer und Waschwasser wurden täglich gewechselt und auch ihre Mahlzeiten waren frisch und reichhaltig. Doch die mangelnde Bewegung in ihrem Gefängnis und das lange, stille Sitzen ließen ihre Beine schmerzhaft anschwellen. Sie versuchte, auf und ab zu gehen, aber die Zelle bot kaum Platz für mehr als drei oder vier Schritte. Schließlich hatte sie sich hingelegt, damit nicht noch mehr Blut und Wasser in ihre Füße sackte. Aber ruhig liegen zu bleiben, wurde ihr auch zunehmend zur Qual. In keiner Lage schien ihr Rücken mehr als eine kurze Zeit lang ausharren zu wollen, ohne sich unangenehm bemerkbar zu machen.
Sie betete fast ohne Unterlass und die formelhaften Worte füllten die langen Mußestunden mit zumindest der Vorstellung von etwas Sinnhaften. Wenn sie nicht betete, dachte sie an die bevorstehende Geburt.
Jetzt war schon Januar und es waren nur noch Wochen bis sie in den Wehen liegen würde. Vielleicht war sie gezwungen ihr Kind hier unten und ganz ohne jede Hilfe auf die Welt zu bringen, überlegte sie. Jetzt war es von Vorteil, dass sie keine verzärtelte, unbedarfte Adelstochter war, dachte sie mit einem Hauch von Bitterkeit.
Damals in Rettow hatten alle Mädchen und jungen Frauen die Geburten im Dorf miterlebt. Sie hatten geholfen und zugesehen. Damit auch die Jüngsten schon wussten, was auf sie zukam. Gertraud hatte die Hand ihrer Freundin gehalten und ihrer Mutter beigestanden, als ihre kleine Schwester zur Welt kam. Sie kannte die Abläufe.
Doch es waren damals meistens ältere, erfahrene Frauen dabei gewesen. Die Rat wussten und die nötige Ruhe mitbrachten. Oder trösteten, wenn es trotz aller Anstrengungen eine Totgeburt war oder die Mutter starb. Auch das hatte sie erlebt, aber sie schob alle Gedanken an so etwas beiseite.
Und wenn nachts in schwerem Wetter niemand Hilfe holen konnte, brachten die Frauen auf den abgelegenen Höfen ihre Kinder auch alleine zur Welt. Es war also möglich.
Ihre eigene Schwangerschaft war bisher ohne Schwierigkeiten verlaufen und sie war zuversichtlich, es zur Not auch alleine zu bewältigen.
Sie freute sich so sehr auf dieses Kind. Und vielleicht machte sie sich unnötigerweise Sorgen und man stand ihr sogar eine Hebamme zu, wenn es soweit war. So lag sie da und grübelte.
Des nachts schlief sie schlecht und träumte schwer. Und jedes Mal, wenn sie hörte, dass sich Schritte dem Wachraum näherten, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Doch dann war es doch wieder nur die Wachablösung oder eine Magd mit dem Essen oder frischem Wasser.
Die Ungewissheit wurde immer schwerer zu ertragen. Sie sehnte eine Entscheidung herbei. Und fürchtete sich im gleichen Moment genauso sehr davor.
So manches Mal, wenn sie sich schlaflos im Dunkeln hin und her wälzte, stellte sie sich vor, wie Rudolf von Walow mit dem ihm eigenen leicht überheblichen, spöttischen Lächeln plötzlich im Eingang stand, den Wachmann gefangen setzte und ihr mit einer galanten Verbeugung die Gittertür öffnete. Und wie sie ihm lächelnd und mit leichtem Vorwurf in der Stimme fragen würde, wieso das so lange gedauert hatte.
Doch das würde ein schöner Wunschtraum bleiben, wie sie sehr wohl wusste. Denn selbst wenn es von Walow und seinen Leuten gelang, die Kumanen im Felde zu besiegen, musste danach erst noch die Burg eingenommen werden, die inzwischen fest in Feindeshand war. Das, auf was sie bestenfalls hoffen konnte, war ein Austausch ihrer Person gegen freien Abzug der Kumanen hier in der Burg. Immer vorausgesetzt, Hardrichs Lehensmann gelang ein Sieg über das feindliche Heer. Und wieder drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Immer aufs Neue. Immer und immer wieder.
So vergingen elf lange Tage. Das Mittagsgeschirr war schon vor einer Weile abgeräumt worden und der Wachmann döste vor sich hin, während er sich mit seinem Messer den Dreck unter den Fingernägeln hervor kratzte. Gertraud aber war angespannt und ruhelos. Sie hatte mit Gesten darum gebeten, sich ein Buch bringen lassen zu dürfen. Oder ihre Laute. Irgendetwas. Um sich abzulenken.
Aber man hatte sie nicht verstanden. Oder nicht verstehen wollen. Wahrscheinlich wagten die Wachleute es ohne die Weisung des Sardori nicht, der Gefangenen Zugeständnisse über das hinaus zu machen, was mit ihm vereinbart war.
Seufzend ging sie die wenigen Schritte, die der knappe Raum ihr ließ, hin und her. Da klangen Gesprächsfetzen von der Treppen zu ihr herunter. Es war noch zu früh für die Abendmahlzeit und der letzte Wachwechsel hatte erst mittags stattgefunden.
Wer immer dort kam, kam außerhalb des gewöhnlichen Tagesablaufes. Auch der Wachmann blickte jetzt stirnrunzelnd auf, steckte sein Messer weg und nahm Haltung an. Mit klopfendem Herzen starrte Gertraud den Gang entlang.
Zwei Männer traten ein. Es waren zwei Kumanen, die sie bisher noch nicht hier unten gesehen hatte. Der Art und Weise nach, wie ihr Wachmann sie grüßte, waren es keine Vorgesetzten. Eher Gleichrangige. Und das obwohl beide auffällig prächtige Uniformen trugen. Ihre Kleider waren aus buntem, besticktem Tuch, die Ärmel mit üppigem Faltenwurf gearbeitet und die Westen mit allerlei Zierrat und dicken Bronzeknöpfen geschmückt. Dazu Stiefel aus rotgefärbtem Leder mit hohem Schaft und glänzenden Schnallen. So ausstaffiert würden sie sicherlich nicht in die Schlacht ziehen, obwohl beide auch bewaffnet waren. Es schien vielmehr eine Art Livree zu sein. Für eine ausgewählte Einheit.
Gertrauds Verstand schlussfolgerte den Zusammenhang und ihr Magen verkrampfte sich. Dies mussten Männer der Leibgarde des Khan sein. Und er schickte nach ihr.
Die drei Soldaten hatten sich derweil gut gelaunt unterhalten und sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob die Männer nicht viel zu fröhlich waren, als dass sie eine Schlacht verloren haben könnten.
Dann wandten die drei sich der Zelle zu. Während ihr Wachmann die eiserne Gittertür aufschloss, musterten die beiden anderen sie unverhohlen herablassend. Der eine machte eine Bemerkung, die deutlich abschätzig klang und sie lachten. Kalter Schweiß brach Gertraud aus und als man sie herauswinkte, vermochte sie sich einen Augenblick lang nicht zu rühren. Sie war wie festgefroren.
Endlich riss sie sich aus ihrer Starre, sah den Männern reihum in die Augen und trat heraus. Sie beschwor sich immer wieder, ruhig zu bleiben, denn sie wusste schließlich noch überhaupt nicht, was sie erwartete.
Doch ihr Bauchgefühl sprach eine eindeutige Sprache. Ihr war übel vor Angst.
Und das Kind in ihr, auf das sich ihre Anspannung wohl übertrug, begann heftig zu strampeln. Sie gingen hinauf. Einer der Männer vorweg. Der andere dicht hinter ihr. Als sie auf den Burghof hinaus traten, atmete sie im ersten Moment befreit tief durch. Die Luft war nach dem langen Aufenthalt untertage wohltuend frisch. Und eisig kalt.
Es hatte geschneit.
Im letzten Tageslicht der untergehenden Januarsonne lagen das Kopfsteinpflaster des Hofes, die Treppen und Dächer unter einer dicken, fast unberührten, weißen Schneedecke da. Wie verzaubert.
Nur von der Wachstube am Tor klangen gedämpfte Stimmen an ihr Ohr und ein Lichtschimmer war zu sehen. Ansonsten war alles still. Und menschenleer. Jedermann hielt sich bei diesem Wetter tunlichst drinnen auf und auch sie zog ihren Mantel fester um sich. Die schmucken Kleider ihrer beiden Wächter schienen nicht für diese Kälte ausgelegt zu sein. Offensichtlich frierend und mit eingezogenen Köpfen eilten sie, Gertraud zwischen sich führend, dem Haupteingang entgegen, um rasch zurück ins geschützte Innere zu gelangen. Das Portal schlug hinter ihnen zu und die Männer führten sie ohne Umschweife weiter in Richtung des großen Saales.
Gertraud erkannte in der schlecht erleuchteten Halle zwei Mägde, die ihr verstohlen bange Blicke zuwarfen und weiter in die Küche hasteten. Je näher sie dem Saal kamen, umso stärker hatte sie das Gefühl, geradewegs in ihr Verderben laufen. Doch ihr Verstand hielt dagegen. Sie und des Markgrafen Kind waren wertvolle Geiseln, sagte sie sich immer wieder. Kein Anführer würde ein solches Faustpfand leichtfertig opfern. Nur deswegen war sie schließlich überhaupt noch am Leben.
Sie gingen auf die Tür des Saales zu und sahen, wie eine der Wachen, die davor postiert waren, hineinschlüpfte, um ihr Kommen zu melden. Wortlos warteten sie auf die Aufforderung, einzutreten.
Gertraud hatte hier schon einmal voller Angst gestanden. An Hardrichs Arm. Damals vor Monaten am Tag ihrer Vermählung. Und er hatte ihr gesagt, sie müsse sich nicht fürchten, denn niemand dort drinnen würde ihr etwas anderes als vorzügliche Hochachtung entgegenbringen. Beim Gedanken daran, huschte ganz kurz ein wehmütiges Lächeln über ihre Züge. Was war nicht alles geschehen seitdem. Und er hatte gewollt, dass sie mit hoch erhobenem Kopf hineinging.
Und genau das würde sie auch heute tun, dachte sie und reckte sich. Für ihn.
Die Türen wurden geöffnet und sie wartete nicht, dass die Männer sie hineinführten, sondern ging voraus, ohne weiter auf sie zu achten.
Verdutzt beeilten die Wachmänner sich, ihr zu folgen.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt