Sie aßen zusammen und danach kehrte Gertraud zurück in ihre Gemächer. Zum Abendessen ließ er sie wieder holen und auch an den folgenden Tagen sahen sie sich täglich, wenn auch immer nur für kurze Zeit.
Den einen Tag führte er sie über den Turnierplatz, wo die Vorbereitungen für das große Treffen bereits liefen. Die Tribünen wurden ausgebessert, Gras gemäht und Absperrungen für die Zuschauer errichtet. Auch die Bibliothek der Burg bekam sie zu sehen, etwas, was ihr besonders gefiel. Der Raum war mit wunderschönen, hohen Regalen aus einem fast schwarzen Holz ausgestattet. Sie ging langsam an den Wänden entlang und ließ die Fingerspitzen über die kostbaren Bände streichen. Zwei Titel kannte sie, doch die meisten waren Werke über das Kriegshandwerk, Waffenkunde und Rechtswesen.
In einer Ecke aber stand eine Sammlung von Liedern und Sagen aus dem Altertum.
Fragend sah sie ihn an und er sagte:
"Such dir eins aus. Du kannst es mit zu dir hinauf nehmen."
So verbrachte sie viel Zeit mit Lesen oder spielte mit dem Kätzchen, das Marianne ihr manchmal brachte.
Einmal führte er sie hinunter in die Verliese, tief unter dem runden Turm, wobei sie von dem fremdartig aussehenden Mann begleitet wurden, der den Ritter massiert hatte und den er Hassan nannte. Schweigend gingen sie immer tiefer hinab, dunkle Gänge entlang und düstere Treppen hinunter. Sie passierten mehrere Wachtposten, die dienstfertig immer neue Gittertüren vor ihnen aufsperrten. Gertraud hielt sich dicht hinter Hardrich, während der andere Mann ein paar Schritte nach ihnen folgte.
"In dem Trakt dort drüben sitzen die Diebe, Betrüger, Wucherer und Falschspieler, wenn sie den angerichteten Schaden nicht ersetzen können. Die Zellen sind eigentlich immer gut besucht. Dann haben wir noch Platz für Betrunkene und Schläger da hinten. Mörder verbringen meistens nur eine Nacht hier, oft nicht mal das, denn der Galgen steht direkt neben dem Gerichtsberg", erzählte der Markgraf.
Dann wies er noch einen Gang entlang, aus dem gellende Schreie und irres Gelächter gedämpft zu ihnen herüber hallte.
"Und das sind die Verrückten", erklärte er.
Viele der Zellen standen leer. Gertraud sah durch die offenen Türen in winzige, dunkle Kammern hinab, von deren Decken das Wasser tropfte. Fauliges Stroh bedeckte den Boden.
"Im Felde werden keine Gefangenen gemacht, sonst wäre hier sicher mehr los. Dies gilt bis auf eine einzige Ausnahme, die du gleich zu sehen bekommst", sagte Hardrich, als er ihren fragenden Blick bemerkte.
Je tiefer sie kamen, um so niedriger wurden die Decken und schmaler die Gänge. Es war Gertraud, als müsse sie unter den Tonnen von Stein und Felsen über sich und an der abgestandenen, uralten Luft ersticken.
Endlich bog der Ritter in einen Seitengang ab und kam in eine hell erleuchtete Wachstube. Die beiden bewaffneten Aufseher sprangen von ihrem Kartenspiel auf und grüßten ehrerbietig, als der Ritter eintrat. In einem angrenzenden, vergitterten Verlies lag ein Mann auf einer Pritsche. Die Zelle war sauber und hell, und es standen neben dem Bett auch Tisch und Stuhl, sowie ein Regal mit einigen Habseligkeiten dort. Im Vergleich zu den elenden Löchern, an denen sie vorbeigekommen waren, erschien Gertraud dies wie eine vornehme Herberge. Neugierig sah sie hinter dem Ritter hervor. Der Gefangene war aufgestanden. Er war kleiner als Gertraud, schlank, fast zierlich, und er mochte etwa in Hardrichs Alter sein. Als der Mann den Ritter erkannte, warf er verächtlich den Kopf zurück und sah ihn überheblich an. Seine glatten, pechschwarzen Haare waren im Nacken zu einem Zopf gebunden, und aus seinen dunklen Augen sprachen Stolz und Hass.
"Das ist Borsód Kunyol, Sohn des kumanischen Fürsten, den wir in der Schlacht im Frühjahr gefangennehmen konnten", sagte Hardrich und erwiderte den Blick des Prinzen gelassen.
Dann wandte er sich an Hassan:
"Sag ihm, dass wir heute Botschaft von seinem Vater erhalten haben."
Der Angesprochene nickte und übersetzte die Worte des Markgrafen in die abgehackt klingende Sprache des Fremden. Dieser umklammerte mit funkelnden Augen die Gitterstäbe, gab aber keinen Laut von sich.
"Sag ihm, dass sein Vater zahlen will. Allerdings hat er noch einmal um drei Monate Aufschub gebeten, um die Summe zu beschaffen. Ich habe ihm anderthalb Monate zugestanden. Mehr aber nicht. Wenn ich dann das Gold nicht habe, wird er sterben. Länger füttere ich ihn hier nicht durch", ließ er ihn durch Hassan wissen.
Der Mann hinter den Gittern lächelte kalt und erwiderte etwas.
"Er sagt, Ihr könnt beruhigt sein. Sein Vater wird eher alle seine Untertanen in die Sklaverei verkaufen, als seinen Sohn hier sterben zu lassen", übersetzte Hassan.
"Nun, wer weiß? Der Khan windet sich bereits eine ganze Weile um eine verbindliche Antwort herum. Vielleicht hat er inzwischen von seinen dreißig Frauen schon zehn andere Söhne. Das käme ihm wahrlich billiger! Los, sag ihm das", befahl Hardrich höhnisch.
Als der Prinz seine Worte vernommen hatte, warf er Hardrich einen hasserfüllten Blick zu und presste zornig eine Erwiderung hervor.
Als Hassan nicht sofort übersetzte, sondern den Gefangenen nur entsetzt anstarrte, fuhr Hardrich ihn an:
"Was hat er gesagt, verdammt?"
Mit niedergeschlagenen Augen antwortete Hassan endlich:
"Er sagt, dass ihm schon klar sei, dass Ihr das nicht verstehen könnt. Für Euch würde sicher niemand bereit sein, auch nur ein paar Kupferstücke zu geben."
Alle Farbe wich aus Hardrichs Gesicht. Gertraud, die direkt hinter ihm stand, hörte ihn leise keuchen und ahnte, wie entsetzlich tief diese Bemerkung ihn getroffen haben musste. Mit einem Mal griff der Ritter durch die Vergitterung nach dem Arm des Prinzen und riss den schmächtigen Körper mit aller Gewalt zu sich. Hart schlug das Gesicht des Gefangenen gegen die eisernen Gitterstäbe. Blut schoss ihm aus Mund und Nase. Im nächsten Moment aber hatte Hardrich ihn schon wieder losgelassen und stürmte wortlos aus dem Raum, die Treppen hinauf und fort. Gertraud blieb mit Hassan und den Wachen erschrocken zurück, während sich der Gefangene stöhnend das Gesicht hielt und auf sein Lager zurücksank.
Hassan führte Gertraud schließlich die verwinkelten Gänge wieder hinauf.
"Verzeiht meine Neugierde, aber wer seid Ihr, dass Ihr seine und unsere Sprache so gut sprecht?", fragte Gertraud schüchtern, während sie langsam nebeneinander die Stufen erklommen.
Der Mann sah sie scheu an und sagte:
"Mein Name ist Hassan und ich war lange Zeit leibeigener Masseur und Diener des Prinzen. Wir beide wurden Anfang dieses Jahres zusammen gefangen genommen. Mir schenkte der Ritter damals die Freiheit, doch wohin hätte ich gehen sollen? Niemals hätte ich es zu Fuß und ohne Geld bis in meine Heimat geschafft, denn das Land, aus dem ich ursprünglich stamme, liegt noch viel, viel weiter im Südosten. Und der Khan, obwohl er ja besiegt worden war, hätte einen Weg gefunden, mich töten zu lassen, dafür, dass ich gesund und munter aus dem gegnerischen Lager entkommen wäre, während man seinen Sohn als Geisel gefangen hielt. Und so bot ich meine Dienste dem Ritter an und dieser brachte mich mit hierher."
"Ihr seid also kein Landsmann des Prinzen?", forschte Gertraud weiter.
"Nein. Ich stamme aus der Nähe von Damaskus. Nachdem ich vor vielen Jahren dort als Badediener ausgebildet worden war, verkaufte mich mein damaliger Herr noch als Kind an einen reichen Händler. Ich bin durch viele Länder gereist, habe vielen Herren gedient und viele Sprachen gelernt. Und nun bin ich hier und spare meinen Lohn, um vielleicht eines Tages doch noch als freier Mann nach Hause zurückkehren zu können."
"Ich wünsche Euch von Herzen, dass Ihr nicht ewig darauf warten müsst. Ihr seid sicher sehr einsam hier, ohne Familie, ohne Freunde", sagte Gertraud mitfühlend.
"Ach, wisst Ihr, ich bin es nicht anders gewohnt. Und dies ist bei weitem nicht meine schlechteste Dienststelle. Ich massiere den Ritter manchmal, leiste Übersetzerdienste und kann sonst kommen und gehen, wie ich will. Ich habe mein eigenes Zimmer hier in der Kaserne, kann bei meinem Glauben bleiben und bekomme pünktlich meinen Lohn. Wenn es nur nicht so kalt wäre hierzulande. Aber wie man hier so sagt: Alles Gute ist nie beisammen", entgegnete er mit einem höflichen Lächeln.
Im Hof verabschiedete Gertraud sich von ihm. Sie ging die Treppen hinauf und klopfte zaghaft an Hardrichs Zimmertür. Doch sie bekam keine Antwort und wagte nicht, das Zimmer ohne Aufforderung zu betreten.
Am nächsten Morgen holte er sie zu einem Spaziergang ab und erwähnte den gestrigen Vorfall mit keiner Silbe. Nach und nach lernte sie so die gesamte Burganlage mit Ställen, Küchen, Gärten und Kellern kennen. Manchmal schlenderten sie auch durch die leeren Flure und Hardrich erzählte ihr die Geschichte zu einer der Abbildungen auf einem Gemälde oder einem der prächtigen Wandteppiche, dann wieder ritten sie zusammen aus oder saßen in der Bibliothek.Die Tage vergingen wie im Fluge. Auch am nächsten Sonntag besuchten sie morgens gemeinsam die Messe und saßen wie gewöhnlich abends beim Essen zusammen.
"Ach, da fällt mir ein... Eben spiele ich mit dem Kätzchen in meinem Zimmer. Da klettert es den Wandteppich in der Ecke hinauf. Ich kriege es gerade noch zu fassen und will es nehmen, doch seine kleinen Krallen verhaken sich im Stoff und ziehen ihn von der Wand ab. Und wisst Ihr, was ich dahinter finde?", fragte sie aufgeregt.
"Natürlich weiß ich das! Das hat ja lange gedauert, bis du endlich darauf gestoßen bist! Aber nur die Ruhe. Ohne den hier kommst du doch nicht da hinein", antwortete er mit einem Grinsen, zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und legte ihn betont langsam auf den Tisch.
Nach dem Essen, das Gertraud heute endlos lang erschien, sah sie ihn erwartungsvoll an. Sie hatte sich zurückgehalten und keine weiteren Fragen zu dem kleinen Türchen gestellt, das sie hinter dem Wandbehang entdeckt hatte. Hardrich hielt jetzt in einer Hand den Bierkrug und spielte mit der anderen mit dem Schlüssel. Eine Weile belauerten sie sich so gegenseitig, bis Gertraud aufstand und langsam am Tisch entlang auf ihn zuschlenderte. Mit Zeige- und Mittelfinger ihrer linken Hand spazierte sie dabei auf dem Tischtuch entlang. Er legte den Schlüssel auf den Tisch und ließ seine große Hand davor liegen. Dann stand sie vor ihm, ihre linke Hand verharrte in Reichweite des Schlüssels und ihre Finger trippelten auf der Stelle. Er sah ihr mit undurchdringlicher Miene in die Augen.
"Das wagst du besser nicht", warnte er.
Im nächsten Augenblick war vom Kamin her ein leises, schepperndes Geräusch zu hören. Hardrich wandte für einen Moment den Blick und sah einen Plaumenkern neben seinem dort abgelegten Harnisch über den Boden kullern. Bevor er noch recht begriff, was sie getan hatte, hörte er schon ihr helles Lachen und sah, wie sie mit dem Schlüssel in der Hand aus dem Raum lief. Er sprang auf, warf seinen Krug zurück auf den Tisch, so dass er umfiel und sich ein Fleck auf dem Tuch ausbreitet. Dann rannte lief er mit einem Grinsen auf den Lippen hinter ihr her. Die Bediensteten auf dem Gang hielten erschrocken inne und wichen zurück, als der Markgraf durch die Tür stürzte. Auf halbem Wege die Treppen hinauf hielten beide inne, sie eine Treppe höher als er, und sahen sich an. Gertrauds Wangen waren gerötet, ihre Augen blitzten und sie atmete mit offenem Mund.
Eine Wache kam gelaufen und wollte sich ihr in den Weg stellen, aber der Ritter brüllte:
„Lass sie, verdammt! Die kriege ich schon."
Dann nahm er die Verfolgung wieder auf. Sie hatte einen Vorsprung, aber er nahm mehrere Stufen auf einmal und holte er sie noch ein, als sie gerade den Schlüssel in das Schloss des kleinen Türchens steckte. Er stützte rechts und links ihrer Schultern seine Hände auf die Wand. So zwischen seinen Armen gefangen, ohne dass er sie berührte, drehte sie sich um, presste sich an die Wand und sah ihm in die Augen.
"Was fällt dir ein?", polterte er, aber sie war sich inzwischen sicher, dass dies nur ein Spiel war, das er es genauso genoss, wie sie.
So erwiderte sie mit Unschuldsmiene:
"Könnten wir vielleicht erst einmal hineingucken? Danach könnt Ihr mir dann ja immer noch böse sein."
Er sah sie an, als sei sie nicht ganz bei Trost und konnte dann aber ein Lachen nicht unterdrücken.
"Ich komme darauf zurück, verlass dich drauf", knurrte er grinsend, und sie drehte sich vergnügt um und schloss die Tür auf.
"Zusätzlich ist noch dieser Riegel vorgelegt, damit auch wirklich keiner hereinkommen kann, selbst wenn er einen Schlüssel hätte. Du musst also keine Angst haben, dass plötzlich hier jemand im Raum steht", erklärte er, hob den eisernen Barren an, der quer über der Tür gelegen hatte und packte ihn beiseite.
Dann fasste Gertraud in die Griffmulde und zog die Tür auf. Ein etwa quadratischer, kleiner Raum tat sich dahinter auf. Rechter Hand gingen Stufen hinab in eine tiefe Finsternis und links führte eine gewundene enge Steintreppe in die Höhe. Von dort schien ein schwacher Lichtschein zu kommen. Gertraud sah unentschlossen den Ritter an, der mit verschränkten Armen hinter ihr stand und sie beobachtete.
"Hinunter führt der Weg in die Gänge unter dem Schloss. Da runter solltest du niemals alleine gehen. Die Gänge sind zum Teil sowieso überflutet und die anderen Ausgänge auch mit verschlossenen Türen versperrt. So kommst Du mir also nicht davon, falls Du auf den Gedanken kommen solltest", sagte er endlich, „Aber hinauf kannst Du."
Er warf einen Blick aus dem Fenster und fügte hinzu:
"Eine Kerze brauchen wir nicht. Es ist noch hell genug."
Vorsichtig trat sie ins Innere des Treppenabsatzes. Sie sah sich noch einmal nach Hardrich um und begann dann vorsichtig, die schmalen Stufen, die kaum Platz für einen Fuß boten, hinaufzusteigen. Immer höher wand sich die steinerne Stiege. Handgroße Öffnungen gingen alle paar Schritt durch die dicken Mauern ins Freie. Man konnte wenig mehr sehen, als den Abendhimmel aber es fiel genügend Licht herein, um gerade noch die Stufen zu erkennen und ein leichter Luftzug kühlte ihr erhitztes Gesicht. Sie hörte, wie Hardrich hinter ihr über die winzigen Stufen schimpfte und stieg weiter. Mit einem Mal wurde ihr auch klar, wo sie waren.
"Der kleine Eckturm! Natürlich! Man sieht ihn doch von allen Seiten", rief sie und Hardrich spottete:
"Mein Gott! So ein kluges Kind."
Sie lachte und kletterte weiter, bis die Stufen endlich auf einer halbrunden kleinen Plattform endeten, von welcher eine hölzerne Tür hinaus führte. Sie drückte die verschnörkelte Klinke herunter, stieß die Tür auf und ging bis zu der gut hüfthohen Brüstung vor.
Der Anblick verschlug ihr die Sprache. So weit oben war sie noch nie in ihrem Leben irgendwo gewesen. Unter ihr breiteten sich die Häuser, Märkte, Schuppen und Gärten, die Kirche und das Kloster, Felder und Wiesen aus. Die ganze Stadt lag im flammenden Abendrot zu ihren Füßen. Bewegungslos stand sie eine ganze Weile still da und nahm die überwältigende Aussicht in sich auf. Dann sah sie sich nach Hardrich um. Im Licht der untergehenden Sonne stand der junge Landesherr da, das rechte Bein auf einen steinernen Sockel gestellt. Die linke Hand ruhte auf den Knauf seines Schwertes, die rechte lag entspannt auf seinem Knie. Er ließ den Blick ebenfalls über die Dächer der Stadt schweifen und Gertraud meinte auf einmal zu verstehen, wie schwer die Bürde der Amtsgewalt und Verantwortung auf ihm lasten musste. Und dieses Mal folgte sie ihrem Gefühl, trat zu ihm und legte ihm ihre Hand auf den Arm. Sie hörte, wie er nach Luft schnappte und fühlte, wie er sich unter ihrer Berührung anspannte.
Schweigend standen sie eine Weile so, bis sie leicht seinen Arm drückte und sagte:
"Wie friedlich alles da liegt. All die Seelen, unter all den Dächern dort unten. Dass sie alle heute Nacht in Frieden zu Bett gehen können, verdanken sie Euch."
Er seufzte, und sie spürte, wie ein Schauder durch seinen Körper lief.
Dann brach es verbittert aus ihm heraus:
"Ach, was! Niemandem macht man es je recht. Immerzu muss ich irgendwelche Entscheidungen treffen. Dutzende Entschlüsse fassen. Straßenbau, Sold, Steuern und Frondienste, Lehensvergabe, Ständeordnung, Abwässer, und, und, und... Ich muss Recht sprechen, Urteile fällen und Streit schlichten. Ausgerechnet ich! Und nie, nie kann ich mir sicher sein, richtig zu handeln. Und dann die vielen Toten! Weißt du, wie viele Menschen ich im Feld erschlagen habe? Wie viele ich zum Tode verurteilt habe? Wie viele ich eigenhändig mit diesem Schwert gerichtet habe? Alles für eine gerechte Sache natürlich. Pah! Für die Ostmark, für die Kirche, für den König! Wenn ich auch nur über einen einzigen dieser Toten nachzugrübeln begänne... Ich würde mich über kurz oder lang hier vom Turm stürzen. Manchmal ist mir, als ruft mich der Abgrund geradezu oder eine Stimme aus dem dunklen Wasser eines tiefen Sees: 'Komm nur, komm. Nur ein winziger Schritt und du bist aller Sorgen ledig.' Manchmal klingt das nur allzu verlockend, glaub mir."
Er schluckte und starrte weiterhin geradeaus über die Brüstung hinweg. Seine Linke umklammerte nun das Schwert.
Sie rückte noch näher an ihn heran, hakte sich sachte bei ihm unter und erwiderte nachdenklich:
"Aber Ihr handelt nach bestem Wissen und Gewissen. Das ist doch alles, was man verlangen kann von einem Menschen. Sei er nun Tagelöhner oder Landesfürst. Seht Euch doch um. Frieden herrscht und Wohlstand. Die Ernte wird gut werden. Gottes Segen liegt auf diesem Land. Es ist der rechte Weg."
Er sagte niedergeschlagen:
"Und doch hassen sie mich alle. Du hast doch gesehen, wie sie mich ansehen. Sie fürchten sich. Als sei ich der Teufel in Person. Und vielleicht haben sie sogar recht, wer weiß? Wenn mich diese furchtbare Wut packt, dann bin ich nicht ich selbst. Sie schlägt mich mit Taubheit und Blindheit. Ich habe so vieles zerstört..."
"Kämpft dagegen an, Herr. Ihr habt doch bereits so viele andere Kämpfe gewonnen. Ihr habt die Kraft dazu, da bin ich mir ganz sicher", sagte sie bestimmt.
Gehetzt sah er ihr kurz in die Augen und wandte sich rasch wieder ab.
"Ich bin mir da nicht so sicher. Ich fürchte mich davor, eines Tages auch noch das zu zerstören, woran mein Herz wirklich hängt", flüsterte er heiser und senkte den Blick.
Plötzlich schlug es vom Kirchturm, der den Turm noch um wenig überragte, dröhnend zum Beginn der Abendandacht und beide schraken zusammen. Erst jetzt wurden sie gewahr, dass es dunkelte und nur noch ein schwacher Lichtstreifen im Westen zu sehen war. Die Glocken rissen sie aus ihrer Vertrautheit und Hardrich löste sich von ihr.
Er räusperte sich und sagte:
"Wir sollten zusehen, dass wir hinunter kommen. Sonst müssen wir hier oben übernachten."
Gertraud nickte und wollte wieder vorangehen, doch er sagte:
"Lass mich vorgehen. Dann erschlage ich dich wenigstens nicht, wenn ich falle. Lass die Tür offenstehen. Dann fällt noch etwas Licht herein. Wir können sie morgen zuziehen."
"Ah, da spricht der Feldherr. Ein guter Plan", schmunzelte sie.
Er sah sich noch einmal halb missmutig, halb amüsiert zu ihr um und tastete dann mit seinem schweren Stiefel nach der ersten Stufe. Schritt für Schritt verschwand er vor ihr im Dunkel des Aufgangs. Sie folgte ihm. Durch die immer noch ungewohnten Schuhe, konnte sie die Stufen zum Teil nur erahnen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich der schwache Feuerschein des brennenden Kamins in Gertrauds Zimmer zu ihnen herauf leuchtete.
Sie hatten die letzte Biegung der Treppe erreicht und Gertraud dachte erleichtert: "Geschafft."
Im nächsten Moment verlor sie den Halt.
Mit einem erschrockenen Schrei fiel sie vornüber gegen Hardrich. Seine Hände suchten noch nach einem Halt an den rauen Wänden, aber vergeblich. Kopfüber stürzte er die letzten Stufen hinunter. Auf dem kleinen Absatz vor ihrem Zimmer schlug er hart auf und Gertraud landete auf seinem Rücken. Reglos lag er unter ihr. Sie rappelte sich auf, kniete sich in dem winzigen Raum neben ihn und rüttelte an seiner Schulter.
"Herr! Oh Gott! Kommt zu Euch! Was ist mit Euch?", flehte sie, doch er rührte sich nicht.
"Ich bin gleich wieder da. Ich hole Licht!", rief sie und kroch durch das Türchen ins Zimmer hinein.
Sie verhedderte sich in ihrem Kleid, fiel hin, stand hastig wieder auf und lief endlich zum Tisch auf dem ein dreiarmiger Leuchter stand. Dann rannte sie zum Kamin und entzündete mit zittrigen Fingern einen Kienspan. Doch die Dochte wollten und wollten nicht brennen. Sie entzündete schließlich zwei, verbrannte sich am glimmenden Rest Span die Finger und lief mit den zwei Lichtern zurück zum Ritter, der immer noch bewegungslos am Boden lag. Fahrig stellte sie den Leuchter auf die Treppe. Der Markgraf lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Sein Kopf hing über der Treppe, die in die Tiefe führte, und seine Füße lagen noch auf den untersten Stufen der anderen. Mit aller Kraft zog sie an seiner Schulter, um ihn umzudrehen. "Um Gottes Willen, Hardrich! Sag doch was! Bitte!", sagte sie völlig außer sich und die Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Auf einmal drehte er sich ächzend um und sagte trocken:
"Aua. Du reißt mir den Arm ab."
Erleichtert und gleichzeitig wütend, lachte und schluchzte sie:
"Was fällt Euch ein, mir so einen Schrecken einzujagen!"
Sie versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken und er beklagte sich:
"Und jetzt schlägt sie mich auch noch."
"Ach, Ihr!", rief sie erbost und griff nach dem Leuchter.
Er sah ihre tränennassen Wangen im Kerzenschein glänzen. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Augen und schlüpfte rückwärts aus der Tür.Während sie den Leuchter zurück auf den Tisch stellte und ihr Kleid glattstrich, kroch er auf allen Vieren aus dem Treppenhaus, verriegelte und verschloss die Tür hinter sich. Er streckte die Arme und reckte sich.
"Fehlt Euch auch wirklich nichts?", fragte sie besorgt, "Das war ein ganz schöner Sturz und ich bin auch noch obenauf gefallen."
"Es ist nichts", brummte er, "Erzähl keinem von der Tür, hörst du? Je weniger Leute von den Gängen wissen, um so besser."
Sie nickte.
Dann baute er sich breitbeinig vor ihr auf, stemmte die Hände in die Seiten und sagte grollend: "Und nun zu dir, Schlüsseldieb."
Langsam und drohend kam er auf Gertraud zu, die ihre Hände hob und zurückweichend sagte:
"Oh, nein! Nicht nachdem Ihr mich so erschreckt habt. Wir sind quitt. Allerdings..."
"Allerdings was?", fragte er lauernd.
"Allerdings habt Ihr zugegebenermaßen etwas gut bei mir, weil Ihr mich so sanft habt landen lassen auf Eurem Rücken", gab sie zu.
"Und?", fragte er rau, "Was meinst Du, könnte ich wohl wollen?"
Sie trat einen Schritt näher, um im Halbdunkel seine Augen unter dem Helm besser sehen zu können. Er hatte derart offen zu ihr gesprochen auf dem Turm und auch das Spielchen mit dem Schlüssel... Das alles fühlte sich so gut, so richtig und so vertraut an. Seine körperlich Nähe machte sie ein wenig trunken und sie ließ alle Zurückhaltung fahren.
"Einen Kuss vielleicht?", fragte sie leise.
„Frau...", ächzte er leise.
Da umfasste er behutsam, beinahe andächtig, ihr Gesicht mit beiden Händen und zog sie zu sich. Sie bot ihm ihren Mund und schloss die Augen, als er sich zu ihr herabbeugte. Dann spürte sie seine Lippen auf ihren. Überaus sanft küsste er sie und sie hatte den Eindruck, als hätte er Sorge, dass sie in seinem Griff zerbrach. So war am Ende sie es, die seine Küsse immer fordernder erwiderte, bis schließlich beide ihre Sehnen nach dem anderen fast verzweifelt in einem langen, gierigen Kuss zu stillen suchten. Wie zwei Verdurstende, die endlich das lebensrettenden Wasser erreichten.
Schließlich riss er sich atemlos von ihr los und hielt noch einen Moment ihre Schultern schmerzhaft fest umklammert. Dabei starrte er sie an, als wolle er für alle Ewigkeit ihr Bild in sich einbrennen und verließ fluchtartig und ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

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Die Tochter des Brauers
Romansa"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...