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Lienhard hatte den ganzen Vormittag mit Bangen auf den zu erwartenden Aufruhr in der Burg gelauscht. Es zerrte an seinen Nerven, dass es solange ruhig blieb und als dann plötzlich ein Rufen laut wurde und jemand hereingerannt kam, um nachzusehen und zu fragen, ob der Khan hier gesehen worden sei, war er fast erleichtert, dass es endlich soweit war.
Nur wenig später sprach sich wie ein Lauffeuer herum, dass man den kumanischen Herrscher tot aufgefunden hatte und alles schien starr vor Entsetzen und Ratlosigkeit. Lienhard beobachtete mit klopfendem Herzen die Vorgänge im Hof und lauschte den Gesprächen der einfachen Soldaten bei der Essensausgabe und im Speiseraum.
Der Tote war kein beliebter, gütiger Machthaber gewesen und kaum einer trauerte wirklich um den Menschen, hatte Lienhard den Eindruck. Die meisten schienen sich jetzt vielmehr beunruhigt zu fragen und zu mutmaßen, wie es für sie weiterging.
Nach der Mittagsmahlzeit ging Lienhard zurück an seine Arbeit. Er war immer noch nervös, doch man hatte ihn bisher völlig außer Acht gelassen und er atmete ein wenig durch. Ein Gähnen unterdrückend, griff er sich die Forke aus der Werkzeugecke, die ihm am besten in der Hand lag, und machte sich ans Ausmisten. Nachdem er ein paar Gabeln voll auf die Schubkarre geschaufelt hatte, hielt er inne und musste verschnaufen.
Die schlaflos durchwachte Nacht voller Angst und Strapazen forderte ihren Tribut. Er war todmüde.
Da hörte er, wie jemand hereinkam und mit Wucht die Tür hinter sich zuwarf. Mehrere Tiere wieherten erschreckt auf und auch Lienhard fuhr zusammen und wandte den Kopf. Und als er erkannte, wer da auf ihn zukam, blieb ihm vor Schreck fast das Herz im Leibe stehen.
Es war Sardori Onjuk.
Leicht gebückt und die schwarzen Augen starr und drohend auf ihn gerichtet, ganz wie ein angreifender Wolf, durchmaß er zielstrebig den Stall. Lienhards Herz begann zu rasen. Das Werkzeug entglitt seiner zitternden Hand und fiel klappernd zu Boden.
„Er weiß es!", fuhr Lienhard entsetzt durch den Kopf.
Onjuk sah den Jungen erbleichen und jubelte innerlich auf. Alles, aber auch alles, an Lienhards Erscheinung sprach „schuldig". Er hatte sein Frettchen gefunden, davon war der Kumane felsenfest überzeugt und er konnte sein Glück kaum fassen. Jetzt musste er ihn nur noch zum Reden bringen. Und darin besaß er Übung.
Er zog seinen Dolch und Lienhard wich entgeistert an die Wand zurück. Im nächsten Moment schon fühlte er Onjuks Klinge an der Kehle und er sah dem Mann an, dass dieser zu allem entschlossen war.
„Ayol qaerda?", zischte er. „Wo ist die Frau?"
Lienhard schüttelte schulterzuckend den Kopf. Doch Onjuk hatte sich verbissen. Er würde jetzt Beute machen.
Er griff nach Lienhards linker Hand und drückte sie langsam gegen den hölzernen Balken der Buchte. Obwohl der Kumane nicht großgewachsen war, hatte Lienhard seiner Kraft nichts entgegenzusetzen. Er war stark. Viel stärker als der Junge, dem inzwischen die nackte Angst ins Gesicht geschrieben stand.
„Ayol qaerda?", wiederholte Onjuk finster und setzte sein Messer an Lienhards Finger an.
„Bilmayman!", keuchte der Junge verzweifelt und den Tränen nahe. „Ich weiß es doch nicht!"
Da rammte Onjuk die Schneide nieder und schnitt ihm das erste Glied seines kleinen Fingers ab, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Die schwere Klinge durchtrennte mit einem furchtbaren Knacken Knochen und Gewebe. Blut begann zu tropfen. Lienhard schrie hell auf. Er sah das Stück seines Fingers zu Boden fallen und schrie vor Schmerz und vor kopflosem Entsetzen und konnte nicht glauben, was hier mit ihm geschah.
Sardori Onjuk tat dies nicht gerne, aber der Stallknecht konnte auch ohne ein paar Finger weiter seiner Arbeit nachgehen und er würde die Antwort auf seine Frage bekommen. Er war sich sicher, dass sein Gefangener spätestens beim Mittelfinger würde zu reden beginnen. Bisher hatte diese Methode noch immer zum gewünschten Erfolg geführt.
Onjuk hielt Lienhards Hand weiter wie festgenagelt gegen das Holz gedrückt. Drohend wiederholte er noch einmal seine Frage und setzte das Messer ans zweite Fingerglied, doch der Junge schüttelte nur weiter den Kopf und schrie vor Angst.
Und der Hauptmann drückte das Messer durch. Ein weiteres Stück Finger fiel zu Boden. Noch einmal stellte er seine Frage. Und wieder verweigerte der Junge eine Antwort.Ohne die Miene zu verziehen, schnitt Onjuk ihm daraufhin den Rest des kleinen Fingers ab.
Grauen packte Lienhard. Der Sardori würde ihn Stück für Stück verstümmeln! Er durfte nicht reden, aber er wollte, dass dies aufhörte!
Mit der Kraft der Verzweiflung suchte er sich aus Onjuks eisernem Griff zu winden. Seine Hand war inzwischen derart mit Blut verschmiert und rutschig, dass es ihm tatsächlich gelang, sich loszureißen. Die verletzte Hand an sich gepresst, duckte er sich unter Onjuks Griff hinweg und rannte davon, hinaus aus dem Stall. Der Kumane setzte ihm nach, stolperte aber über die zu Boden gefallen Mistgabel, die er im Halbdunkel übersehen hatte und rappelte sich fluchend wieder auf.
Auf dem Hof blickte Lienhard sich in panischer Angst um und überlegte fieberhaft. Wohin sollte er sich wenden? Er würde es niemals zum Tor hinaus und in die Stadt schaffen. Schon hörte er seinen Verfolger die Stalltür aufstoßen. In dem Moment öffnete sich das Hauptportal und Sardori Kemut trat heraus, vertieft in ein Gespräch mit den zwei anderen Heerführern. Onjuks Vorgesetzter, dessen geliebtes Pferd er so umsichtig kuriert hatte, war seine einzige Aussicht auf Rettung, entschied Lienhard und er setzte damit alles auf eine Karte.
Er rannte auf den kumanischen Heerführer zu und warf sich ihm zu Füßen. Um Hilfe flehend hielt er ihm seine blutende Hand entgegen.
Kemut zog die buschigen Brauen zusammen und verlangte in scharfem Ton eine Erklärung von Onjuk, der inzwischen herangekommen war. Lienhard verstand nicht alles, was dieser als Rechtfertigung erwiderte, aber offensichtlich erschien es seinem Befehlshaber wenig überzeugend, denn der schnauzte seinen Untergebenen erbost nieder. Soweit Lienhard verstehen konnte, traute er dem schmächtigen Jungen nicht zu, den tödlichen Stich gesetzt zu haben.
Doch Onjuk gab noch nicht nach und forderte den Jungen auf, seinen Stiefel auszuziehen. Lienhard war verdutzt und sah Sardori Kemut fragend an. Dieser wies ihn mit einem Kopfnicken an, zu tun, was der Hauptmann verlangte.
Als Onjuk Lienhards schmalen, fast zierlichen Fuß sah, der zudem eine Daumenbreite kürzer war, als sein Stiefelmaß, musste er sich gezwungenermaßen eingestehen, dass er sich geirrt hatte.
Er hatte hier nicht den Mörder des Khan vor sich. Mit hängendem Kopf ließ Onjuk Kemuts zornige Zurechtweisung über sich ergehen und entfernte sich. Zähneknirschend.
Lienhard begann vor Schmerzen und vor Erleichterung lautlos zu weinen und Kemut legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter. Er bot an, den Medikus nach der Verwundung sehen zu lassen, doch da wurde der Junge noch bleicher, als er ohnehin schon war.
Mit einem nachsichtigen Lächeln fischte Sardori Kemut daraufhin einige Münzen aus seiner Tasche, steckte sie ihm zu und schickte ihn zum Kloster hinüber, um dort seine Hand verbinden zu lassen.
Onjuk stand versteckt im Eingang zu den Kasernen und beobachtete, wie der Junge aus dem Tor eilte, die blutende Hand an seinen Bauch gepresst. Er wartete noch, bis auch seine Vorgesetzten wieder im Inneren der Burg verschwunden waren und ging dann zum Stall zurück. Er stieg langsam hinauf zum Heuboden und durchsuchte die Schlafstelle des Jungen. Er fand den Bottich mit den eingeweichten Kleidern und stieß eine zornige Verwünschung aus. Der Bursche hielt sich wohl für besonders schlau! Er mochte vielleicht nicht das Messer geführt haben, aber er war gestern in diesem verfluchten Tunnel gewesen und er wusste, wo die Frau war, da war sich Onjuk vollkommen sicher.
Wütend widerstand er der Versuchung, dem Bottich einen Tritt zu verpassen. Besser der Junge wusste nicht, dass er ihn weiter verdächtigte. Umso eher würde ihm ein Fehler unterlaufen.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt