Beat hatte seinen Onkel begleitet, als dieser in der Diele zu der versammelten Dienerschaft sprach und alle darauf einschwor, der Markgräfin bis zur Rückkehr ihres Mannes hier Zuflucht zu gewähren. Gerne hätte der Junge ihm von seinem eigenen kleinen Abenteuer in den Morgenstunden erzählt, doch er merkte bald, dass sein Onkel nicht in der Verfassung war, sich seine Geschichte anzuhören.
Noch nie hatte er ihn dermaßen geschwächt und elend erlebt.Trotzdem hatte Wichard sich die Zeit genommen, ihn kurz beiseite zu nehmen und ihm mit einem matten Lächeln auf die Schultern zu klopfen.
Lobend hatte er gesagt:
„Ich bin stolz auf Dich, Beat. Und ich bin sehr froh, dass ich mich auf Dich verlassen kann. Wir sprechen uns morgen. Bei Gott! Das war eine verdammt harte Nacht."
Dann war er wieder hinüber ins Kaminzimmer gegangen und bald darauf direkt ins Schlafgemach.
Beat sah ihm ein wenig enttäuscht nach und lief hinüber zum Stall, wo dieser Tage ihre Jagdhündin werfen würde. Das wollte er nicht verpassen. Während er die Stalltür aufschob, fühlte er in seiner Tasche nach dem Fundstück, das er in der dunkeln Gasse im Schnee aufgelesen hatte. Als er heute am frühen Morgen ankam, war Melli derart aufgewühlt und in Sorge um ihn und Wichard gewesen, dass er ihr nichts von seinem Erlebnis erzählt und das Ding in seiner Tasche erst später in seiner Kammer näher in Augenschein genommen hatte.
Es war kein Schmuckstück oder sonst ein Kleinod, wie er gehofft hatte, sondern eine Petschaft aus Bronze. Etwa so groß wie der Daumen eines Mannes. Ein uraltes, schmuckloses und abgenutztes Stück und das Siegelteil trug als Gravur drei Wagenräder.
Beat ließ es zurück in seine Rocktasche gleiten und kniete sich zu den Hunden hinunter, die ihn wedelnd begrüßten. Josef, der dabei war, Samson zu striegeln, blickte auf und lächelte.
Er mochte den Jungen, der dem jungen Herrn von Dühring folgte wie ein Schatten. Ein freundlicher, aufmerksamer Bursche, der bereits nach kurzer Zeit mit dem hiesigen Dialekt gut zurechtkam.
Seit Jahrzehnten hatte es kein Kind im Hause von Dühring gegeben und nicht nur den alten Gutsherrn erfreute es, wieder helles Lachen und leichtfüßiges Springen auf der Treppe im sonst so stillen Hause zu hören. Ein wohl erzogener Junker war er. Einer, der das Gesinde anständig und ohne Hochmut behandelte und der eines Tages fraglos einen feinen Edelmann abgeben würde. Darin waren sich alle im Hause einig.
Josef kam herüber zu ihm und streichelte die hoch trächtige Hündin mit seiner schwieligen Hand.
„Nur Geduld. Ein paar Tage wird's noch dauern bei ihr. Ich hol Euch rechtzeitig, junger Herr", brummte der Knecht.
Beat nickte und strahlte ihn an.
„Ob ich wohl einen der Welpen behalten darf?", fragte Beat mit hoffnungsvollem, fragendem Blick hin zu Josef.
„Nun, das entscheide nicht ich. Aber der Herr und sein seliger Bruder hatten immer Hunde, als sie noch in Eurem Alter waren. Fragt Euren Onkel nur. Er wird es Euch sicher nicht abschlagen", antwortete der Knecht mit einem Zwinkern.Als Wichard am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich noch immer wie gerädert. Die gehörige Beule an der Stirn schmerzte und so wie sich Kopf und Glieder anfühlten, würde er eine ordentliche Erkältung bekommen. Auch Muskeln und Gelenke schmerzten, als hätte er sich gestern durch eine schwere Schlacht gekämpft. Er wälzte sich herum, öffnete die Augen und stellte erstaunt fest, dass er alleine im Bett lag. Mit einem Ächzen setzte er sich auf und besann sich.
Sein Blick fiel auf Mellis Nachthemd, das ordentlich gefaltet neben ihm lag. Sie war gar nicht zu Bett gegangen? Im ersten Moment erschrak er. Doch dann hörte er ihr Husten. Gedämpft. Wie aus einem der Zimmer in der Nähe. Er wusch und rasierte sich rasch, zog sich frisch an und ging auf den Flur.
Das Husten schien aus dem Zimmer seines Vaters zu kommen. Er klopfte und öffnete sachte die Tür. Melli saß, in eine Decke gehüllt, in einem Sessel am Krankenbett seines Vaters. Sie schien aus einem leichten Schlaf hochzuschrecken, als er hereinkam. Wichard warf einen Blick auf seinen Vater, der mit leicht geöffnetem Mund tief schlafend dalag und trat dann zu seiner Frau.
„Warst Du etwa die ganze Nacht hier?", fragte er im Flüsterton.
Sie nickte.
„Du musst doch schlafen, Liebes", sagte er vorwurfsvoll.
„Mein Husten hätte uns nur beide wach gehalten. Dein Vater hört schwer. Ihn störe ich, Gott sei Dank, nicht. Und ich bin da, wenn er etwas braucht", erwiderte sie müde und unterdrückte das nächste Husten.
Er legte ihr zögerlich die Hand auf die Schulter, strich mit dem Daumen sanft darüber und sagte:
„Lass uns zusammen etwas essen. Und ich möchte, dass Du Dich danach auch hinlegst und ruhst."
„Ja, Wichard", antwortete sie ergeben und erhob sich mit steifen Gliedern.
Sie gingen hinunter in den kleinen Saal neben der Küche, der mit einem stattlichen Kachelofen ausgestattet war, welcher von der Küchenseite her befeuert wurde. In den Wintermonaten kam die Gutsherrenfamilie hier zum Essen zusammen. Es war angenehm warm und Melli ließ sich auf ihrem Platz am Tisch nieder.
Noch immer wich sie seinem Blick aus, rieb sich die Augen und gähnte verstohlen. Wichard setzte sich zu ihr, aber er wusste nicht recht, wie er das längst überfällige Gespräch beginnen sollte.
Sie blieben zunächst auch nicht lange genug allein, um sich zu auszusprechen. Eine Magd erschien, fragte nach ihren Wünschen und wenig später wurde aufgetragen. Grütze, Rührei und Dünnbier. Und für die Frau von Dühring brachte Irma noch einen Becher heiße Brühe.Beat kam herein, grüßte fröhlich und setzte sich zum Essen zu ihnen. Mit leuchtenden Augen erzählte er von der trächtigen Hündin.
Melli und Wichard lauschen seinen Worten und fühlten sich von seiner unbeschwerten,heiteren Gegenwart wieder zurückversetzt zu den Tagen ihrer gemeinsamen Reise hierher. Wunderbare Tage waren das gewesen. Erfüllt von vertrautem Miteinander und froher Zuversicht. Und endlich sahen sich die Eheleute in die Augen und lächelten beide zaghaft.
Und es lag soviel überbordende Liebe und gleichzeitig soviel Kummer in Mellis Blick, dass es Wichard die Kehle zuschnürte.
Er griff über den Tisch hinweg ihre Hand und sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Hastig blinzelte sie diese fort, bevor Beat es bemerken konnte.
Der Junge hatte rasch zu Ende gegessen und fragte höflich, ob er aufstehen und hinaus zu den Tieren gehen dürfe. Wichard entließ ihn vom Tisch und wartete, bis das Geschirr abgeräumt wurde.
„Ich will jetzt nicht gestört werden", befahl er der Magd und diese knickste und zog eilig die Tür hinter sich ins Schloss.
Von Dühring erhob sich.
„Komm. Komm zum Ofen herüber, Melli", bat er seine Frau.
Sie nickte stumm und setzte sich auf die Ofenbank. Mit einem tiefen Seufzen lehnte sie sich an die warmen Steine und schloss die Augen. Die Wärme tat so gut. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihren Mann vor sich knien. Er ergriff ihre Hände und sie lächelte gequält.
„Oh, Wichard...", hauchte sie.
Er holte tief Luft und sagte:
„Ich wollte Dir so oft von ihr erzählen. Von der Markgräfin, meine ich, und wie ähnlich ihr euch seid. Aber ich habe es nicht über mich gebracht. Ich wollte nicht, dass Du denkst..."
Er hielt inne, ächzte und fuhr leise fort:
„Ich wollte nicht, dass Du denkst, ich hätte Dich nur wegen dieser Äußerlichkeit gefreit. Ich ahnte doch, dass es Dich schmerzen würde, sie zu sehen und... Ach, ich bin so ein Dummkopf! Wir wollten doch immer über alles reden. Ich wollte Dir nicht wehtun und jetzt sehe ich Dich leiden. Viel schlimmer, als wenn wir darüber gesprochen hätten! Ach, Melli... Es tut mir leid."
Sie schwieg und sah an ihm vorbei zu Boden.
Das Schweigen wurde immer drückender, bis er schließlich bat:
„Oh, bitte, Melli, sag etwas. Schelte wenigstens mit mir!"
Da sah sie ihn mit ihren müden, verquollenen Augen an und er spürte, wie sie mit sich rang. Es kostete sie Überwindung, die Frage laut zu stellen, die ihr seit gestern auf der Seele brannte.
Dann endlich sprach sie:
„Was ist sie Dir?"
Diese direkte Frage überraschte Wichard. Es war nicht Melisandes Art die Dinge so geradeheraus anzusprechen. Er schluckte. Fast ein wenig erschrocken starrte er sie an und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.
Er brach ihren durchdringenden Blick, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und antwortete endlich stockend:
„Als ich ihr das erste Mal begegnete... Und das war bevor ich wusste, dass mein Herr ernsthaft erwog, sie zu freien, wohlgemerkt! Nun... da war ich angetan von ihr. Ich meine... Wer war das nicht? So wunderschön wie sie ist. So schön wie Du! So wortgewandt und klug. Wenn ich ehrlich bin, habe ich anfangs sogar ein klein wenig für sie geschwärmt. Aber mein Herr wollte sie für sich. Das war bald klar. Und obwohl er wahrlich kein Mann ist, dem, nun ja..., wie soll ich sagen..., die Herzen zufliegen, war auch sie ihm gewogen. Ich konnte das erst gar nicht glauben. Tatsächlich musste sie mich mit der Nase darauf stoßen, damit ich es begriff! Und so nahm der Ritter sie sich zur Gemahlin. Und aus der jungen Frau Kerner wurde die Dame von Aven. Am Abend ihrer Vermählung hat sie mich sogar noch in Schutz genommen und vor dem gerechten Zorn ihres Mannes bewahrt..."
Wichard lächelte im Stillen bei diesen Worten, als er sich zurückbesann und Melisande sah sein Gesicht aufleuchten.
Doch dann straffte er sich und fuhr ernst fort:
„Und seitdem ist sie die Markgräfin dieses Landes. Meine Herrin. Ihr gebührt mein Dank und mein Respekt. Nicht mehr und nicht weniger."
Dankbarkeit und Respekt. Die Worte klangen schal in Mellis Ohren wieder und doch wollte sie sie gerne glauben. Sie zwang sich, ihre nächste Frage zu stellen. Und sie sprach so leise, dass ihr Mann sie fast nicht verstanden hätte.
„Hast Du sie Dir je an meine Stelle gewünscht?"
Wichard schwieg einen Moment.
Dann antwortete er:
„Als ich mit Deinem Vater bei Euch ankam damals...so tief erfüllt von Dankbarkeit für seine Hilfe und für das herzliche Willkommen in Deinem Elternhaus, da... da sah ich Dich. Und es verschlug mir den Atem, Melli! Bei Gott! Ein Engel, dachte ich. Ein Wink des Himmels. Wahrlich! Du kamst die Treppe herab zu mir. Ein barmherziger Engel mit solchermaßen vertrauten Zügen! Und ich suchte Deine Nähe und wir lernten uns kennen den Winter über. Und ich habe mich verliebt. In Dich. Und immer klarer wurde mir, dass es Schicksal war, auf Dich zu treffen. Und ich beschloss, zu bleiben. Unserer Liebe wegen! Ich habe alles hinter mir gelassen. Meine Profession, meine Freunde und Familie. Mein Zuhause. Alles um Deinetwegen, Melisande, hörst Du? Und ich wünschte mir immer noch von ganzem Herzen, wir wären jetzt dort zusammen in Winterthur und nichts von all dem hier wäre passiert!"
Melisande nickte fast unmerklich.Er war ihrer Frage ausgewichen, aber was er gesagt hatte, hatte sie berührt. Denn es stimmte ja. Auf ein völlig neues Leben hatte er sich eingelassen, um bei ihr zu sein.
Trotz ihrer schwachen Gesundheit, hatte er sie gefreit, sie mit seiner Aufmerksamkeit verwöhnt und wahrhaft zur Frau gemacht. Liebe und Lust hatte sie erfahren durch ihn. Ihre Farben hatte er getragen auf dem Turnier. Sie war durch die Welt gereist an seiner Seite, stand nun einem eigenen Haushalt vor und sorgte für ein Kind. Ihr war, als hätte erst er sie ans Licht des Lebens geholt und ihr Flügel verliehen.
Und sie stellte die letzte Frage, die sie auf dem Herzen hatte, nicht mehr. Die Frage, ob er ihr stets treu gewesen war. Sie wollte seine Antwort nicht hören.
Und sie befand, dass die Markgräfin sich irrte. Wichard war durchaus kein guter Lügner. Aber er war ihr Ehemann. Und sie liebte ihn. Vielleicht mehr, als gut für sie war, aber ein Leben ohne ihn würde sie nicht ertragen. Nicht mehr.
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Die Tochter des Brauers
Historical Fiction"Ihr glaubt wirklich, Eure Küche hätte Zugang zum Baum der Erkenntnis?" "Gut pariert, Frau!", lachte er. Sie bewarf ihn mit dem Apfel, er fing ihn auf, zögerte noch einen Moment und biss hinein. Ein mittelalterlicher Roman. Um? Nun ja. Die Tochte...