30

351 24 5
                                    


Gegen Mittag ging sie zu ihrem Mann in den Amtssaal, wo der Markgraf saß und lustlos einige Schreiben durchging. Er war allein.
„Lass es mich noch einmal versuchen. Mit dem Messer, meine ich", bat sie.
Stumm sah er kurz auf.
Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und fragte niedergeschlagen:
„Warum?"
Sie seufzte.
„Mir macht der Gedanke immer noch Angst, jemanden mit der Waffe anzugehen. Aber, bei Gott! Wenn es um Dein Leben ginge, würde ich es tun! Ich hätte gestern diese Posse nicht spielen sollen, aber ich fürchte, genauso oder ähnlich wird es ablaufen, wenn ich nicht lerne, wenigstens etwas mit diesem... diesem furchtbaren Ding umzugehen", sagte sie ernsthaft und zog das Holzmesser aus ihrem Ärmel.
Langsam erhob der Ritter sich und schob den Stuhl aus dem Weg. Erleichtert bemerkte sie ein zögerliches Lächeln über sein Gesicht huschen. Dann zeigte er wortlos auf einen halbhohen Schrank im Raum, der das Opfer sein würde und nahm Aufstellung.
„Fertig?", fragte er und war ganz gespannte Aufmerksamkeit.
Diesmal gab sie ihm einen Schritt Vorteil und sprang erst dann von schräg hinten an ihn heran, umfasste ihn mit der Linken an der Hüfte und zog ihn zurück soweit ihre Kraft es vermochte. Gleichzeitig stieß sie ihm mit der Rechten die Messerspitze leicht von hinten in die Nierengegend. Er hielt inne und lachte dann.
„Ausgezeichnet! Warum nicht gleich so?", fragte er, sich umwendend.
„Weil ich von selber niemals auf so etwas kommen würde! Ich habe Sören um Rat fragen müssen. Ich bin nicht bewandert in diesen... Männerspielen!", sagte sie verdrießlich.
„So habe ich den Umgang mit dem Schwert gelernt. Damals", erwiderte der Ritter versonnen, „Der alte Wernherr hat mich wieder und wieder in die Klinge laufen lassen, bis ich es begriffen hatte. Ich war manches Mal so wütend, dass ich ihn hätte erwürgen können! Aber irgendwann hatte ich den Bogen raus. Und von da an, hatte selbst er Respekt vor meiner Heftigkeit, glaube ich. Aber genau das, hat er gewollt für mich, nehme ich an."
„Ich hätte ihn gerne kennengelernt, Deinen Lehrmeister", sagte sie sanft, „Die alte Dame von Harchow mochte ich sofort."
„Er hätte Dir gefallen. Und Du ihm auch. Er war so besonnen. So getreu! Er war einer der wenigen, denen ich mein Leben ohne zu zögern voll und ganz anvertraut hätte. Und Deines auch", sagte er leise.
Dann zog er sie an sich, hielt sie ganz fest und murmelte:
„Du musst leben für mich, hörst Du?"
„Das werde ich", antwortete sie und küsste ihn.

An den nächsten beiden Nachmittagen übten sie zusammen mit de Allinge. Er und Hardrich spielten verschiedene Konstellationen durch, während Gertraud dabeisaß und sich die Finten einprägte. Dann versuchte sie es. Der Däne offenbarte bei diesen Gelegenheiten ein so außerordentliches komödiantisches Talent, dass die Übungsstunden oft damit endeten, dass alle drei vor Lachen kaum noch zu Atem kamen. Trotzdem war Hardrich zufrieden, mit Gertrauds Fortschritten.

An den Tagen vor der Fastenzeit wurde überall im Land gefeiert. Sackpfeifen, schrille Flöten und Trommeln erklangen in den Wirtschaften und hier und da wurde auch getanzt. Einige Leute trugen Verkleidungen oder bunte Mützen mit kleinen Schellen und am Montag vor Fastnacht würde es auf dem Marktplatz trotz der winterlichen Kälte ein Schauspiel geben, das jedes Jahr viele Menschen aus den umliegenden Dörfern anzog. Dieses Mal sollte die Parabel von den fünf törichten und den fünf klugen Jungfrauen aufgeführt werden, hatte sie von Marianne gehört.Auch Familie von Bevern besuchte die Stadt, um der Aufführung beizuwohnen und ihren zukünftigen Schwiegersohn noch einmal zu besuchen, bevor in der Fastenzeit das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen kam. In dieser Zeit wurden auch keine Verträge geschlossen, weshalb die Hochzeit mit Bettina von Bevern erst nach Ostern stattfinden würde.
Es war schon früher Abend als die Familie dem Markgrafen ihre Aufwartung im Amtssaal machte. Schüchtern und ohne den Blick zu heben, hatten die beiden Töchter von Beverns den Ritter und seine Frau gegrüßt und standen jetzt beklommen neben ihrer Mutter, welche Gertraud mit sehr herzlichem Lächeln die Hand gereicht hatte.
Während der Markgraf und Adelhard von Bevern Lehensangelegenheiten besprachen, standen die Frauen stumm dabei. Die Markgräfin betrachtete die Zukünftige des Dänen. Bettina war nur zwei Jahre jünger als sie selber, wirkte aber, mit ihren stets ein wenig erschrocken blickenden braunen Augen, um einiges kindlicher. Sie war etwas kleiner und kräftiger als Gertraud, hatte ein rundes Gesicht und wundervolles, schwarzbraunes Haar. Dick, glatt und glänzend lag es in zwei ordentlichen Zöpfen über ihre Schultern. Selbst solcherart geflochten reichte es ihr bis an die Hüfte. Wie schön es offen getragen sein musste, dachte Gertraud versonnen.
Wie ein Mantel würde es sie umgeben. Vor sich hin sinnend sah Gertraud vor ihrem innerem Auge Sörens Finger durch dies seidige Haar gleiten, bis ihr mit einem Mal auffiel, dass auch dieser Bettina anstarrte. Aber es lag eine kühle Begehrlichkeit in seinem Blick, die sie beunruhigt aufmerken ließ. Und als hätte er die Achtsamkeit seiner Herrin gespürt, wandte sich Sören plötzlich zu ihr um und setzte sein entwaffnendes, verschmitztes Lächeln auf.
Das Gespräch der Männer schien sich in die Länge zu ziehen.
Behutsam berührte die Markgräfin ihren Gemahl am Arm und als er sich zu ihr umdrehte, lächelte sie ihn an und sagte bedacht:
„Wenn es recht ist, werde ich mit den Damen in der Bibliothek auf Euch warten."
Stirnrunzelnd und verdutzt sah er erst auf sie und dann die anderen Frauen. Diese hielten den Atem an und ängstlich den Blick gesenkt.
Doch der Markgraf brummte nur:
„Sicher. Geht nur. Das wird hier noch dauern."
In der Bibliothek ließ Gertraud gesüßten Wein und Gebäck bringen und die Damen machten es sich am Feuer gemütlich. Nach kurzer anfänglicher Befangenheit kam die junge Herrin rasch mit Melissa von Bevern ins Gespräch und bald verloren auch die Mädchen ihre Scheu. Und so kam man vom Wetter auf Albertinus' Besuch bei von Walow und schließlich noch einmal auf die Bärenjagd im Oktober. Bald plauderten sie ungezwungen und die Dame von Bevern dankte Gertraud für ihre Fürsprache zur Verbindung zwischen ihrer Tochter und dem dänischen Gast.
Diese aber winkte ab:
„Wenn er wirklich dagegen gewesen wäre, hätte mein Wort rein gar nichts ausrichten können. Der Herr de Allinge hat sich bei der Jagd verdient gemacht. Das gab sicherlich den Ausschlag."
Hildegard schlenderte schließlich an den Buchreihen entlang und bat ihre Mutter zu sich, um etwas für sie zu übersetzen.
Gertraud rückte näher an Bettina heran und fragte leise:
„Und Du? Freust Du Dich auf die Hochzeit?"
„Ja, schon...", kam die zögerliche Antwort.
Dann leerte sie ihren Becher und sah sich verstohlen nach ihrer Mutter um, die sich gerade zu Hildegard über das Buch beugte.
Endlich flüsterte sie bedrückt:
„Ach, ich weiß es nicht. Ich mag ihn ja. Er ist so stattlich und so galant. Aber ich habe solche Angst! Wenn ich nur an Euer blutiges Laken denke..."
Da schossen ihr plötzlich flammende Röte ins Gesicht und Tränen in die Augen.
„Oh, Gott! Verzeiht! Wie ungehörig von mir!", stammelte sie, aber Gertraud lächelte nur mitleidig und fasste sanft ihre Schulter.
„Keine Sorge. Ich kann Dich gut verstehen. Mir ging es doch auch nicht viel anders. Aber das mit dem Blut sieht schlimmer aus, als es ist", versuchte sie das Mädchen zu beruhigen.
Dankbar lächelte Bettina sie an und schien noch etwas sagen zu wollen.
Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür und Hardrich erschien mit von Bevern und dem Dänen. Der Ritter gab Sören den Rest des Tages frei und die Gesellschaft verabschiedete sich alsbald und verließ scherzend und gut gelaunt die Burg.
Enttäuscht sah Gertraud sie gehen und setzte sich laut seufzend wieder auf ihren Platz.
„Was?", fragte Hardrich stirnrunzelnd.
„Nun, wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, dass sie Dich fragen würden, ob wir uns ihnen nicht anschließen wollen", entgegnete Gertraud.
„Wenn Du ganz ehrlich wärst, würdest Du so etwas nicht hoffen. Denn Du weißt natürlich, dass das niemals jemand freiwillig tun würde", lachte er höhnisch, „Wenn Du mitgehen wolltest, hättest Du Ihnen das schon selber antragen müssen."
„Ich? Ich kann doch nicht...", begann sie entrüstet.
„Was kannst Du nicht? Ihnen meine Gesellschaft aufzwingen? Nett wäre das natürlich nicht", unterbrach er sie bitter spottend.
„Ach! Du verdrehst mir die Worte im Mund. Ich will doch auch nur gerne das Schauspiel sehen", maulte sie.
„Dann sag das doch und rede nicht drum herum, Frau", erwiderte er.
Sie sprang auf und stemmte die Fäuste in die Seiten.
„Ich will in die Stadt und das Theaterspiel sehen!", rief sie, musste sich aber ein Lachen verbeißen.
„Nein. Kommt nicht in Frage", widersprach er schlicht.
„Und warum nicht?", murrte sie ärgerlich.
„Ich weiß ja nicht, wie bei Euch im Dorf gefeiert wurde, aber hier sind die Straßen vollgestopft mit betrunkenen, vermummten Verrückten. Wir kämen niemals mit einem Trupp Wachen da durch. Es ist dunkel. Und es ist kalt. Gründe genug, hierzubleiben. Und das Gleichnis kannst Du nachlesen, wenn Du willst", beschloss er entschieden, wies auf die aufgeschlagene Bibel auf dem Stehpult und legte dann gemächlich die Füße auf einen Schemel.
Schmollend warf sie sich zurück auf ihren Sessel, sah dann aber verdutzt, dass er grinste.
Herausfordernd beugte er sich zu ihr herüber:
„Na, gibst Du etwa schon auf?"
Da erhob sie sich wieder, stampfte mit dem Fuß auf und sagte mit gespielter Schärfe:
„Ich will aber gehen!"
Er lachte und klatschte in die Hände.Die Tür öffnete sich und zwei Mägde kamen herein. Sie legten der jungen Frau eine prächtige, fast bodenlange, weiße Cappa mit Muff um und setzten ihr eine passende Mütze auf, an welcher eine weiße Larve befestigt war. Sie stieß einen Freudenschrei aus. Dann trat der Ritter zu ihr und zog eine prachtvolle, silberne Fibel in Form einer Lilie aus seiner Tasche, mit der er den schweren, warmen Mantel vorne verschloss. Überwältigt und glückstrahlend küsste sie ihn.Für sich selber hatte der Markgraf eine Felltunika mit Tatzenärmeln und eine Bärenmaske anfertigen lassen, die er jetzt auch anlegte.
Spielerisch griff er sie an und knurrte.Missbilligend schüttelte sie den Kopf.
„Was?", kam es dumpf unter dem Zottelfell hervor.
„Gar nicht verändert!", spottete sie und hörte sein Prusten unter der Maske.
Gertraud ergriff seine Hand und wollte ihn übermütig zur Tür ziehen, doch er hielt sie zurück.„Warte! Ich habe noch etwas für Dich", sagte er.
Damit holte er ein schmales Päckchen hervor und reichte es ihr.
Sie befühlte den mit Stoff umwickelten Gegenstand und meinte lächelnd beim Auspacken:
„Ein Tischmesser, nicht wahr? Ganz schön schwer..."
Die letzte Lage Stoff fiel und sie hielt den Atem an. Ein funkelnder, zierlicher Dolch mit juwelenbesetzter Scheide lag in ihrer Hand. Recht groß für die Tafel, aber kleiner als ein Jagdmesser. Behutsam zog sie die feine Klinge blank.
„Oh, Hardrich! Das ist... Wie wunderschön", hauchte sie hingerissen.
Wortlos löste er ihren Gürtel und schob ihn durch die Öse an der Messerscheide.
„So. Es ist guter Stahl... und nicht nur für den Braten gedacht. Er tötet auch. Denk daran! Jetzt bist Du zumindest nicht mehr völlig wehrlos, Frau", murmelte er.
Sie verließen die Burg durch einen niedrigen Seitenausgang und mischten sich unter das Volk. Bald wurde es derart belebt, dass sie nur langsam vorwärts kamen. Hardrich hielt sich dicht bei ihr. Lange noch bevor sie den Markt überhaupt erreicht hatten, kam das Gedränge um sie herum quasi zum Stillstand. Ohne ihren Mann, der die Menge vor sich teilte, wäre Gertraud hier nicht weitergekommen, aber so bahnten sie sich langsam einen Weg. Musik schrillte aus jedem Winkel, Menschen drangen aus der Dunkelheit von überall her auf sie ein und der Lärm wuchs zu einem diffusen Getöse an. Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs Gertrauds Beklommenheit. Eselsohren und Fleckenkittel umringten sie. Totengesichter bleckten ihr entgegen. Streiften sie. Schrien ihr etwas zu, das sie nicht verstand. Sie roch Bierdunst und die verschwitzten Leiber der Tanzenden in der eiskalten Luft und klammerte sich an Hardrichs Hand.
Er beugte sich zu ihr herunter und raunte ihr aufmunternd ins Ohr:
„Nur noch bis da vorne."
Sie sah in die Richtung, in die er wies und sah ein zweigeschossiges Gebäude, welches wohl eine der besseren Schenke beherbergte.
Warm und einladend schien Licht durch die geöffnete Tür und durch die niedrigen Fenster auf die Gasse. Gertraud nickte und ließ sich von ihm die letzten Meter weiter ziehen. Endlich erreichten sie das Gasthaus und sie atmete erleichtert auf. Die Schenke war gut besucht, doch herrschte keine so beklemmende Enge wie vor der Tür. Es roch verlockend nach Fettgebackenem. Hardrich gab dem Wirt ein Zeichen und dieser führte sie beflissen eine schmale Stiege hinauf und in eine Zimmer. Dort stand ein eisernes Becken mit rotglühenden Kohlen. Ansonsten war die schlichte Gästekammer bis auf das Bett, ein Tischchen und zwei Stühle am breiten Fenster fast leer.
Hardrich ließ heißen Gewürzwein und warme Schmalzkuchen bringen, während Gertraud schon am offenen Fenster stand und hinaus sah. Der große Markt lag ihnen zu Füßen. In der Mitte war eine Bühne aufgebaut, nur wenig mit Stoffbahnen vor der Witterung geschützt. Alles war noch dunkel dort. Beide lehnten sich zum Fenster hinaus und betrachteten die Menge unter sich. Jetzt, von dieser sicheren Warte aus, genoss Gertraud das Spektakel unten. Die Kostüme, die Musik, die Tänze. Mit roten Wangen und glänzenden Augen betrachtete sie das Geschehen. Der Wirt brachte den heißen Wein und stellte ein Schale mit frischem Backwerk auf den Tisch. Hardrich setzte die Bärenmaske ab. Er reichte Gertraud ihren dampfenden Becher und stellte seinen aufs Fensterbrett. Dann nahm er die Kuchenschale vom Tisch, setzte sich abseits vom Fenster an das Kohlenbecken und legte die Füße auf den Tisch.
„Wenn ich daran denke, dass wir jetzt gemütlich zuhause beim Lesen sitzen könnten", murrte er und steckte sich eine der frischen, warmen Gebäckkugeln in den Mund.
Gertraud, die am Fensterbrett lehnte, prostete ihm zu.
„Ich weiß. Es ist auch irgendwie beängstigend. Aber so aufregend! Dieses Jahr lass es mich einmal auskosten", bat sie lächelnd.
Dann trat sie neben ihn, entriegelte und zog ihr kleines Messer. Damit zerteilte sie einen der Kuchen auf der Schale, die er noch immer hielt. Der schlanke Stahl glitt durch das lockere Backwerk wie durch weiche Butter. Unschlüssig betrachtete sie danach die klebrige Schneide. Um Fett und Zucker abzustreifen und fuhr sie endlich mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig die Klinge entlang. Mit einem Mal zuckte sie zusammen und erstarrte. Eine tiefe Wunde klaffte in ihrem linken Handballen. Blut tropfte rhythmisch auf den Boden und spritzte an ihren schneeweißen Mantel.
„Frau! Die Klinge ist... Ach, komm' her."
Er sprang auf und packte ihre Hand. Er unterdrückte den Blutfluss und langte mit der freien Hand in seine Tasche, um ein Sacktuch herauszuziehen. Dann biss er auf eine Ecke und riss es so in zwei Streifen. Ihr wurde schwindelig. Sie lehnte sich schwer an ihn und drehte ächzend den Kopf zur Seite, während er rasch die klaffende Wunde notdürftig mit einem Druckverband versorgte.
„Was tust Du denn? Das ist doch kein Suppenlöffel!", schnaubte er.
„Großer Gott! Ich habe gar keinen Schnitt gespürt! Die Klinge ist derart scharf... Oh, mir wird ganz übel", stöhnte sie.
„Komm zum Fenster, Frau. Und nicht die Hand nach unten halten. Hier... Stütz den Ellenbogen auf die Fensterbank. Gut so. Sieh mal, es geht unten auch gleich mit dem Spiel los.", brummte er und zeigte hinab auf die Bühne, wo gerade einige Lampen entzündet wurden.
Die erfrischende Kälte, die durchs Fenster fiel, vertrieb Gertrauds Übelkeit und kurz darauf begann auch wirklich das Schauspiel.
Nachdem das Spektakel vorbei war, verlief sich die Menschenmenge rasch in den umliegenden Gassen und in den Wirtschaften, denn die Nacht wurde schneidend kalt. Nachdem der Ritter die Zeche bezahlt hatte, traten sie hinaus auf die Straße. Gertraud war müde und fror und der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern. Sie wollte so schnell wie möglich zurück in die Burg, doch Hardrich bestand darauf, noch den Heiler im Kloster aufzusuchen.
„Können wir nicht morgen nach jemandem schicken. Ich bin so furchtbar müde!", maulte Gertraud zähneklappernd.
„Morgen, wenn alles dick und geschwollen ist, kann Albertinus auch nichts mehr machen. Wenn es genäht werden muss, dann heute", sagte er bestimmt.
Sie wurde blass.
„Aber das will ich nicht!", jammerte sie.
„Du wirst genau das tun, was Albertinus sagt! Verstanden? Und jetzt los!", fuhr er sie an.
Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie ohne viel Federlesens mit sich. Stolpernd versuchte sie, mit ihm Schritt zu halten und bald wurde ihr vom raschen Gehen warm.Im Siechhaus herrschte, wie immer um diese Zeit im Jahr, rege Betriebsamkeit. Auf dem Gang warteten noch fünf Männer und eine Frau mit einem wimmernden Knaben auf dem Arm auf die Hilfe der Mönche.
Der Markgraf hatte die Maske in den Nacken geschoben und ging ungerührt an den Wartenden vorbei. Gertraud sah neugierige, unfreundliche Blicke auf sich gerichtet. Einer der Männer starrte auf Gertrauds blutbespritzten Mantel und bekreuzigte sich ängstlich. Der Ritter jedoch beachtete keinen der Anwesenden und trat, ohne anzuklopfen, in Albertinus' Zimmer. Dort war ein fremder Mönch mittleren Alters gerade dabei, letzte Hand an den Brustverband eines älteren Bauern zu legen.
„Wo ist Albertinus?", fragte der Ritter ohne Gruß und sah sich um.
„Unterwegs", antwortete der Mönch, ohne aufzusehen und beendete dabei rasch seine Arbeit.
Ein Novize half dem Kranken dann beim Anziehen und dieser beeilte sich, hinauszukommen.„Ich bin Bruder Gernod. Was kann ich für Euch tun, Herr von Aven? Oder wollt Ihr lieber auf Bruder Albertinus warten?", fragte der Heiler freundlich.
Hardrich zögerte einen Augenblick und brummte dann:
„Meine Frau hat sich geschnitten. Seht Euch das an."
Der ruhige, aufmerksame Mann löste geschickt den Verband und tupfte, um die Wunde besser untersuchen zu können, vorsichtig das angetrocknete Blut mit einem feuchten Tuch ab.
„Es wird dreimal schneller heilen, wenn ich es mit zwei kleinen Stichen nähe", sagte er, ohne aufzublicken, „Hier und hier. Sonst wird der Schnitt sich bei jeder unbedachten Bewegung wieder öffnen. Und je länger sich die Heilung hinzieht, um so größer die Gefahr, dass Wundbrand sich einstellt und..."
Gertraud entzog ihm verängstigt ihre Hand und schüttelte stumm den Kopf.Fluchend packte Hardrich sie. Er setzte sich auf einen Stuhl, zog sie zu sich und hielt sie fest. Dann drückte er ihren linken Arm auf den Tisch nieder. Bruder Gernod öffnete das Kästchen mit seinem chirurgischen Besteck und als Gertraud die Klingen und Lanzetten sah, wand sie sich verzweifelt und durch ihre Anspannung und Gegenwehr begann die Wunde erneut heftig zu bluten.
Bruder Gernod sagte sanft:
„Der Schnitt reicht wirklich sehr tief. Es muss genäht werden, Frau von Aven. Auch Albertinus würde das nicht anders sehen. Da bin ich ganz sicher."
Endlich ließ sie sich zurücksinken, vergrub ihr Gesicht an Hardrichs Schulter und schloss die Augen.
„Mach' zu, Mann. Und gnade Dir Gott, wenn Du ihr mehr Schmerzen bereitest als unbedingt nötig!", knurrte der Ritter ärgerlich.
Bruder Gernod nickte und winkte den Novizen heran, der an der Tür bereit gestanden hatte und ließ ihn Gertrauds Hand offen halten. Dann begann er rasch und umsichtig mit seiner Arbeit. Als er die gebogene Nadel durch ihre weiße Haut stach, bäumte sie sich in Hardrichs unerbittlichem Griff, heulte laut auf und begann schließlich zu weinen.
Später führte der Ritter seine erschöpfte Frau an seinem Arm zum Tor. Überrascht hielt er inne, als sie das Kloster verließen, denn dort stand Till mit zwei Pferden am Zügel und wartete offensichtlich auf sie. Schüchtern verbeugte er sich.
„Wer hat Dich geschickt?", fragte der Ritter scharf.
„Niemand, Herr... Verzeiht! Aber ich... ich hörte, dass Ihr die Herrin verletzt hierher gebracht habt. Und da dachte ich... ich dachte, zu Pferde wäre es vielleicht leichter...", stotterte er, als er den Ritter so streng vor sich sah.
Doch dieser schwang sich auf den Braunen und befahl:
„Hilf ihr hoch zu mir. Sie kann nicht selber reiten mit der Hand."
„Ja, Herr!", rief Till, schlang die Zügel von Gertrauds Stute um einen Busch und sprang hinzu. Matt und dankbar lächelte die junge Frau den Jungen an und ließ sich von ihm zum Ritter aufs Pferd helfen.
„Nimm Du die Stute mit zurück", rief der Ritter Till noch über die Schulter zu und wendete schon sein großes Tier, um zurückzureiten. Im Burghof angekommen, ließ der Ritter seine Frau sanft zu Boden gleiten und stieg rasch selber ab.
Er warf Till, der auch herangekommen war, ein Geldstück zu.
„Gut gemacht", brummte er nur.
Erleichtert und freudestrahlend verbeugte sich der Junge.Der Markgraf trug Gertraud die Treppen hinauf. Er legte sie in ihrer Kammer zu Bett, deckte sie umständlich zu und warf fluchend noch ein paar Holzscheite in die Glut in ihrem Kamin.
„Den Abend hatte ich mir etwas anders vorgestellt! Verdammt! Vierzig Tage lang soll ich Dich nicht anrühren. Und Du hast nichts besseres zu tun, als Dich zwei Tage vorher selber zu verstümmeln", grollte er und setzte sich zu ihr aufs Bett.
Gertraud fasste mir ihrer Rechten seine Hand und drückte sie kraftlos.
„Ich weiß, mein Ungeschick hat alles verdorben. Es tut mir ja auch leid, aber wir haben doch noch morgen oder... tu, was Du willst. Aber ich werde jetzt nur noch schlafen. So kalt...", ächzte sie gähnend, kuschelte sich tief in ihre Decken ein und war fast auf der Stelle eingeschlafen.
Lange saß er noch an ihrem Bett und betrachtete sie im schwächer werdenden Licht des Feuers. Dann stand er seufzend auf, warf noch einen Blick auf den Verband und verließ leise das Zimmer.

Anderntags brannte sie im Fieber. Hardrich war außer sich. Er schickte nach dem Mönch, um ihn zur Rede zu stellen, aber statt seiner erschien Albertinus kurz darauf in Begleitung eines Novizen, der ihm die Tasche trug.
„Bruder Gernod hat außerhalb der Stadt zu tun", meinte der betagte Heiler ausweichend, als sie zusammen die Treppen erklommen.
„Das glaube ich gerne! Und ich hoffe für ihn, dass es weit genug weg ist, denn wenn ich ihn zu fassen kriege, werde ich ihm das Fell über die Ohren ziehen!", bellte der Ritter ihn an.
„Gernod genießt mein vollstes Vertrauen. Selbst wenn ich selber zugegen gewesen wäre gestern Abend, hätte ich die Naht von ihm setzen lassen. Er hat schärfere Augen und eine sichere Hand als ich", antwortete Albertinus müde und Hardrich fiel zum ersten Mal auf, wie alt der Mönch in diesem Winter geworden war.
Es dauerte eine Woche, bis Gertraud wieder auf den Beinen war. Während ihres Krankenlagers war sie von den strengen vorösterlichen Fastenregeln ausgenommen. Einige Male saß Hardrich bei ihr, während sie mit schlechtem Gewissen noch mehr Fastnachtshühner, Brot und Butter und Brühe aß. Dazu gab es starkes, dunkles Bier, welches des Kloster in erster Linie für den Eigenbedarf zur Fastenzeit braute.
„Ich habe eigentlich gar keinen Hunger", meinte sie kleinlaut.
„Iss gefälligst! Meinst Du, das Zusehen macht mir etwas aus? Mich ärgert ganz etwas anderes, meine Liebe!", schnaubte er mürrisch.
Zäh zog sich die Zeit des Fastens hin. Beten, lesen und das Lautenspiel vertrieben Gertraud die Langeweile und das flaue Gefühl im Magen. Immer wieder musste sie daran denken, wie schnell die arbeitsreichen Tage in der heimatlichen Schenke vergangen waren. Oder täuschte sie sich? Oft vermochte sie sich nur noch vage daran zu erinnern, wie es früher gewesen war. Alles schien eine Ewigkeit zurück zu liegen, obwohl es doch nur wenige Monate her war. Manchmal ritt sie auch mit Hardrich aus, aber dieser gab sich zunehmend gereizt und abweisend und scheute mehr und mehr ihre Gesellschaft.
Eines Abends aber, gerade nach Laetare, zog er sie abends an sich. Er küsste sie voller Verlangen, etwas, das er bisher während der ganzen Fastenzeit so weit wie möglich unterlassen hatte. Er drückte sie an die Wand. Dann zog er ihr die Haube vom Kopf und griff ihr Haar.
„Bitte Hardrich! Nicht! Hast Du nicht gehört, was der Prior in der Predigt gemahnt hat? Es entstehen missgestaltete, beschränkte Kinder daraus, wenn wir in der Fastenzeit...", versuchte sie ihm erschrocken Einhalt zu gebieten.
Der Markgraf aber antwortete nicht, sondern presste sich weiter an sie, bis er endlich leise ächzte und erleichtert aufatmete. Genussvoll küsste er sie noch einmal.
„Daraus wird ja wohl kein Kind entstehen", brummte er.
„Aber das ist doch auch...", erwiderte sie unglücklich.
„Das nehme ich auf mich!", unterbrach er sie grollend.
Dann strich er ihr zärtlich übers Haar und wollte ihr eine gute Nacht wünschen.
„Und ich?", flüsterte sie leise.
Verwirrt sah er sie an. Sie schwieg.
„Schluss damit! Geh in Dein Zimmer! Sofort!", herrschte er sie an.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt