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Sie sah Hardrich und seinen Mitreisenden noch von dessen Zimmerfenster aus nach, bis der Tross aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Dann warf sie sich auf sein großes Bett und drückte ihr Gesicht in die Kissen. Sie sog seinen Geruch in sich auf und kuschelte sich in die Decken.
Marianne weckte sie schließlich aus wirren Träumen.
"Was ist denn? Lass mich doch einfach hier schlafen!", murmelte sie zerschlagen.
"Aber der Herr von Dühring wartet bereits eine Ewigkeit auf Dein... äh auf Euer Erscheinen bei Tisch!", sagte die junge Magd vorwurfsvoll.
"Ach je!", erschrak Gertraud, "Das hatte ich ganz vergessen!"
Sie sprang aus dem Bett, richtete ihr Haar und lief eilig die Treppen hinab.
Als sie den kleinen Speisesaal betrat, fand sie Wichard mit missmutigem Blick an seinem angestammten Platz sitzen und ins Feuer starren.
"Herr von Dühring, verzeiht meine Verspätung. Ich war eingeschlafen", bat sie.
Er sprang auf, winkte ab und begrüßte sie mit einem matten Lächeln.
"Und um ganz ehrlich zu sein: Ich hatte nicht erwartet, dass seine Weisung so wortwörtlich gemeint war", flüsterte sie ihm noch zu, während das Mahl aufgetragen wurde.
"Glaubt mir, dass war sie! Dafür kenne ich ihn gut genug. Und ich sollte keinen Deut davon abweichen, wenn mir mein Leben lieb ist", beteuerte er ihr.
"Meint Ihr denn, dass seine Sorge berechtigt ist?", fragte sie später beim Essen.
"Nun ja, völlig unbegründet ist diese Vorsichtsmaßnahme nicht. Aber ob hier, direkt in diesen Mauern, jemand es wagen würde, Euch nach dem Leben zu trachten? Schwer zu sagen. Er hat sich einige Feinde gemacht, an die ich lieber nicht denken möchte. Aber keine Angst! Des Nachts werden die Wachen an den Toren verdoppelt und ich habe ein Zimmer im Flur unter dem Euren bezogen, gleich rechter Hand an der Treppe. Ihr habt seine Order gehört. Beim Kirchgang, Spazierritt, Marktbesuch und bei den Mahlzeiten werdet Ihr mich an Eurer Seite haben, ob es Euch nun gefällt oder nicht", sagte er mit gespielter Drohung.
"Nun, da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich zu fügen", sagte sie seufzend und mit gespielter Demut.
Sie lachten und ihr Blick traf sich. Deutlich spürte sie mit einem Mal die verzweifelte Zärtlichkeit in seinen Augen und wandte sich erschrocken abrupt ab.Er bemerkte ihre plötzliche Scheu sofort und erhob sich mit gesenktem Kopf.
"Verzeiht mir, Herrin! Es fällt mir so schwer, zu verbergen... Aber ich weiß, was ich meinem Herrn schuldig bin und es wird nicht wieder vorkommen", murmelte er niedergeschlagen.
"Dann wollen wir die Tafel für heute aufheben. Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Herr von Dühring", antwortete sie streng und ließ ihn unglücklich allein im Raum zurück.

Sie war selber überrascht über ihre eigene Heftigkeit. Aber noch viel mehr verwirrte sie, dass der Blick in seine Augen sie spüren ließ, dass sie sich auch zu diesem Mann hingezogen fühlte.Sie floh die Treppen hinauf und in ihr Zimmer, doch sie konnte lange keinen Schlaf finden.Am nächsten Morgen ließ sie sich bei ihm entschuldigen, badete ausgiebig mit der verordneten Arznei und frühstückte mit Marianne auf dem Zimmer. Erst gegen Mittag ging sie die Treppen hinab und geradewegs zu seinem Zimmer.Sie fand ihn über einige Briefe gebeugt beim Schreiben.Die Begrüßung verlief etwas verlegen.
"Begleitet mich bitte in die Kapelle, bevor wir essen", bat sie ihn dann freundlich.
Er nickte, gürtete rasch sein Schwert um und folgte ihr. Am Eingang hielt er ihr die schwere Tür auf und trat hinter ihr ein.Während sie langsam zum Marienaltar ging, sah er sich in den dunklen Winkeln des kleinen Gotteshauses um, fand aber, wie nicht anders erwartet, alles verlassen vor.
Er setzte sich einige Reihen hinter sie.Sie hatte eine Kerze entzündet und vor dem Bildnis der Jungfrau in das Sandbecken gesteckt. Dann kniete sie sich auf die Bank davor und verharrte eine Weile schweigend.
"Ihr müsst Euch dieses ungebührliche Gefühl aus dem Herzen reißen, Wichard. Ihr wisst, dass daraus nur Kummer und Zerstörung erwachsen wird", begann sie leise.
"Ja, das weiß ich wohl", sagte der junge Hauptmann düster, "Und da überträgt er mir diese Aufgabe... Wie zum Hohn! Euch nicht nur von Ferne sehen, sondern Euch den ganzen Tag über nah sein. Euch unterhalten..."
"Wichard, Ihr seid blind und ungerecht in Eurem Selbstmitleid! Er traut Euch solch einen Frevel überhaupt nicht zu. Es ist ein gewaltiger Vertrauensbeweis, dass Ihr es seid, der mich ständig begleitet. Seht Ihr das denn wirklich nicht! Wen sollte er sonst damit beauftragen? Vielleicht von Walow?", entgegnete sie ärgerlich.
Sie hörte, wie er hinter Ihr stöhnend herunter auf die Kniebank sank.
"Ihr habt ja recht. Großer Gott! Aber was soll ich denn tun?", fragte er verzweifelt.
"Ich weiß es nicht. Bleibt noch eine Weile hier. Vielleicht findet Ihr die Antwort im Gebet. Ihr findet mich in der Bibliothek, wenn Ihr mich nachher suchen solltet. Und für Euch gibt es nichts zu essen, bis Ihr Euch diese Verrücktheiten aus dem Kopf geschlagen habt", sagte sie, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und verließ die Kapelle.
Sie saß über ein Buch gebeugt, als er sie später aufsuchte. Gertraud schien es fast, als hätte er geweint, aber er lächelte und führte die Markgräfin zu Tisch.
Der Nachmittag war verregnet und Gertraud stöberte durch die Bibliothek. Gegen Abend suchte Wichard sie auf und fragte, ob sie nicht Lust hätte, an der Abendandacht in der Klosterkirche teilzunehmen. Er gab sich ruhig und aufgeräumt und gemeinsam spazierten sie durch die Stadt und zum Kloster hinüber. Von Dühring führte sie zu den abgetrennten Ehrenplätzen der markgräflichen Familie und nahm kurz dahinter Platz. Gertraud genoss die feierliche Messe und betrachtete die Malereien, Statuen und das kostbare Messgeschirr. Der ganze Reichtum des Klosters war hier verschwenderisch zur Schau gestellt.
Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Was Hardrich wohl gerade tat? Und von Trettin? Vielleicht saß er gerade in diesem Moment bei Kerners und musste zum hundertsten Male erzählen, wie Gertraud, die Tochter des Braumeisters Josef Kerner, Markgräfin des Landes wurde. So lebhaft erschien dieses Bild vor ihrem inneren Auge, dass sie lächeln musste.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt