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Gertraud blieb allein zurück. Sie warf sich auf ihr Bett, wie sie war und sah an die Decke. Dann schloss sie die Augen und spürte der Empfindung nach, die seine Hände auf ihrem Leib und seine Lippen auf den ihren hinterlassen hatten. Nach und nach aber verdrängten düstere Gedanken ihr Hochgefühl.
Was sollte nur werden? Warum musste sie sich ausgerechnet so sehr zu diesen Mann hingezogen fühlen? Sie würde in einer Woche nach Hause zurückkehren. Und dann? Nichts würde so sein können wie zuvor. Solange der Vater noch lebte, würde sie ihm weiter die Wirtschaft führen. Vielleicht könnte sie auch bleiben, wenn Paul einmal die Brauerei übernahm. Aber eine eigene Familie? Kein Mann würde sie jetzt noch wollen. Oder sollte sie wirklich hierbleiben, wenn er sie Samstag fragte? Ein Leben hinter geschlossenen Türen, verborgen unter langen Mänteln und Kapuzen? Immer nur wartend und hoffend, dass sich endlich die Tür öffnete und er Zeit fand für sie? Mit anzusehen, wie er dann eine andere ehelichte, um legitime Nachkommen zu haben, während ihre Kinder verheimlicht und versteckt würden? Stöhnend zog sie ein Kissen heran und hielt es umklammert. Das würde sie nicht ertragen können. Aber konnte sie es ertragen, ihn nie wiederzusehen?
Unglücklich wälzte sie sich hin und her, das Kissen an sich gedrückt, bis sie schließlich einschlief.
Als Marianne am nächsten Tag ins Zimmer kam und Gertraud in ihren Kleidern im Bett fand, stieß sie einen erschrockenen Schrei aus. Beinahe hätte sie das Tablett zu Boden fallen lassen, das sie trug. Gertraud fuhr auf und sah sie verständnislos an. Marianne stellte das Frühstück ab und lief zu ihr.
"Mein Gott, was hat er dir getan?", rief sie.
"Was hast Du denn? Nichts hat er mir getan! Ich bin nur so müde gewesen. Ich muss wohl in meinen Kleidern eingeschlafen sein", antwortete Gertraud ungeduldig.
"Aber das Blut überall in deinem Gesicht!", beharrte Marianne, "Und auf seinen Laken war auch alles verschmiert. Ich musste alles frisch beziehen heute morgen."
"Was für Blut?", erwiderte Gertraud gereizt.
"Komm und sieh selbst, wenn du mir nicht glaubst", sagte Marianne jetzt ärgerlich und zog sie aus dem Bett.
Mürrisch stand Gertraud auf und blickte in den Spiegel.
"Oh...", hauchte sie.
Tatsächlich waren am Haaransatz und auf ihren Wangen blutige Fingerabdrücke zu sehen.
"Vielleicht Nasenbluten?", sagte Gertraud verlegen und überlegte fieberhaft, was geschehen sein konnte.
Er musste sich die Hände an den Wänden aufgerissen haben bei dem Versuch, ihren Sturz auf der Treppe zu bremsen. Und im abendlichen Dämmerlicht des Zimmers, hatten sie es beide gar nicht bemerkt. Sie sah ihr Kleid an. Auch dort, wo er sie an der Schulter gefasst und an sich gezogen hatte, waren dunkle Flecke. Sie dachte an die gestrige Begegnung zurück und ihre Augen blickten verträumt ins Leere.
Marianne beobachtete sie argwöhnisch und unkte: "Nasenbluten, was? Na ja, wenn du meinst... Hauptsache, dir geht's gut."
Grübelnd und vor sich hin träumend verbrachte Gertraud den Tag über ein Buch gebeugt. Sie konnte sich nicht auf das Gelesene konzentrieren und wusste am Ende der Seite nicht mehr, von was überhaupt die Rede gewesen war. Sie war lange fertig zurechtgemacht bevor man sie endlich abends zum gemeinsamen Abendessen mit dem Ritter holte. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid mit einem passenden Schultertuch, welches die Schneider gestern erst geschickt hatten. Ungeduldig hatte sie gewartet und freudig lief sie jetzt hinter dem Pagen die Stufen hinunter. Die Dienerschaft behandelte sie nach dem Zwischenfall mit der Wache mit ausgesuchter Höflichkeit. Besonders die Frauen brachten ihr eine mitleidige Freundlichkeit und Nachsicht entgegen. Wichard, der heute wieder in der Burg eingetroffen war, stutzte, als er mit Hardrich zum Essen kam und sah, dass für drei Personen gedeckt war. Auch das feine Tischtuch und die gläsernen Weinpokale hatte er noch nie hier gesehen. Fragend sah er seinen Herrn an, der seine Verwunderung aber nicht zu bemerken schien.
Hardrich war gutgelaunt. Eine Lieferung neuartiger Armbrüste war pünktlich zum Turnier eingetroffen und würde am Wochenende vorgeführt werden können. Heute hatten er und Wichard sie gemeinsam begutachtet und sich im Umgang mit ihnen geübt. Die Durchschlagkraft war durch einen doppelten Bogen aus Eschenholz deutlich höher als bei den herkömmlichen Waffen. Allerdings erforderte das Spannen nun auch erheblich mehr Kraft. Man musste den Fuß in einen Trittbügel an der Spitze des Schaftes stellen und mit beiden Händen die kurze, dicke Hanfsehne zurückziehen. Das ging natürlich nur im Stehen und erforderte auch mehr Zeit. Aber diese Waffe war in erster Linie für die allererste Angriffswelle im Felde und zur Verteidigung von Burgen erdacht und nicht für den Nahkampf Mann gegen Mann. Außerdem würde sie auf der Jagd gute Dienste leisten, weil sie durchaus eine Zeitlang gespannt gehalten werden konnte. Alles in allem war der Ritter sehr zufrieden mit dieser neuen Anschaffung.
Er warf sich auf seinen Stuhl, gähnte und nickte Wichard zu, er solle rechts von ihm Platz nehmen. Ihm gegenüber war wie üblich für Gertraud gedeckt worden. Von Dühring setzte sich schweigend.
In diesem Moment kam Gertraud mit einem strahlenden Lächeln zur Tür herein. Erstaunt hielt sie inne, als sie Wichard sah. Seine Anwesenheit verunsicherte sie und verlegen schlug sie die Augen nieder. Beinahe schüchtern begrüßte sie Hardrich und wendete sich dann dem jungen Hauptmann zu, der bei ihrem Eintreten so hastig aufgesprungen war, dass er um ein Haar seinen Stuhl umgerissen hätte.
"Guten Abend, Herr von Dühring. Es freut mich, Euch wiederzusehen", sagte sie höflich und setzte sich dann auf Hardrichs Wink hin auf ihren Platz.
Dieser hatte belustigt beobachtet, wie Wichard bei Gertrauds Anblick die Augen aufgerissen hatte. Noch immer stand dieser da und sah die junge Frau an, wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte so oft an sie denken müssen während der letzten Tage, aber nicht im Traum damit gerechnet, sie hier wiederzusehen. Endlich riss er sich zusammen, stammelte einen Gruß und setzte sich wieder.
Während sie aßen, wollte kein rechtes Gespräch aufkommen. Wichard begann noch einmal die neuen Waffen anzusprechen, merkte aber bald, dass Hardrich nur Augen und Ohren für sein Gegenüber zu haben schien. Gertraud wagte nicht, von sich aus ein Gespräch zu beginnen und antwortete auf Hardrichs Fragen einsilbig und scheu. Sie bemerkte, dass seine Fingerspitzen roh und wund aussahen und mehrere Nägel eingerissen und blutunterlaufen waren. Bekümmert sah sie ihn an und setzte an, ihn daraufhin ansprechen.
Doch er winkte sofort ab und brummte unwirsch:
"Ich sagte, es ist nichts!"
Nach dem Essen wollte Wichard sich verabschieden, doch Hardrich hielt ihn zurück und entließ dafür Gertraud zurück in ihre Gemächer. Niedergeschlagen lag sie später in ihrem Zimmer. Sie hatte sich so auf den Abend gefreut. Sehnte er sich denn nicht genauso sehr nach ihr, wie sie sich nach ihm? Sie hatten doch nur noch diese wenigen Tage! Konnte es sein, dass sie dies alles völlig missverstand? Vielleicht hatte er sie nur mitnehmen lassen, um sie vor seinen Männern zu schützen. Und hier hatte er sie aus reiner Freundlichkeit aufgenommen, beschenkt und versorgt. Hatte ihr, wie ein großer Bruder, alles gezeigt und sie unterhalten. Und geküsst hatte er sie nur, weil sie ihn dazu gedrängt hatte...
Konnte es sein, dass sie sich seine Gefühle für sie nur einbildete? Scham und Zweifel überfielen sie und unglücklich lag sie grübelnd noch lange wach.
Anderntags konnte sie von ihrem Zimmerfenster aus sehen, wie Hardrich den ganzen Vormittag mit Wichard und einigen seiner Hauptmänner auf dem Turnierplatz trainierte. Keiner der Männer konnte ihm im Umgang mit dem Schwert oder zu Pferd mit der Lanze das Wasser reichen. Sie hörte sein unbeschwertes Lachen über den Platz hallen. Dies war unzweifelhaft sein Handwerk und seine Stärke.
Gegen Mittag verließen die Männer den Platz und gingen zusammen hinein. Wenig später erschien eine Dienerin bei Gertraud und führte sie ins Speisezimmer, wo Hardrich sie gut gelaunt erwartete, diesmal allein.Es gab gebratenes Huhn und Kernersches Bier dazu. Sie aßen und Hardrich erzählte ein wenig von den Vorbereitungen und den erwarteten Gästen.
"Er ist voller Vorfreude auf das Turnier", dachte Gertraud traurig, "Denkt er denn gar nicht daran, dass ich dann nicht mehr hier sein könnte?"
"Heute Nachmittag habe ich noch Gericht abzuhalten", brummte der Ritter dann und verdrehte missmutig die Augen.
"Und heute Abend bin ich im Kloster zu Gast mit Wichard. Wir sehen uns dann vielleicht morgen", fügte er hinzu, stand auf und übersah ungerührt ihre Niedergeschlagenheit. Nachmittags ließen die Schneider noch neue Wäsche und Gewänder bringen und Marianne, die den Boten hinaufbegleitet hatte, blieb eine Weile bei Gertraud, die teilnahmslos am Fenster saß. "Willst du sie nicht einmal anprobieren? Schau, wie schön der Stoff fällt", ermunterte sie die Magd.
Seufzend ließ Gertraud das glänzende, dunkelrote Gewebe durch ihre Finger gleiten und sagte:
"Weshalb lässt er nur noch mehr Gewänder machen? Wo ich doch in ein paar Tagen schon nicht mehr hier sein werde."
"Ach, Gertraud! Schau dich doch um! Das alles hat er eigens für dich herrichten lassen. Sei doch nicht dumm. Er wird Dich nicht einfach wieder gehen lassen", sagte Marianne mitleidig.
"Er hat es versprochen", beharrte Gertraud weinerlich.
"Na und? Was willst du tun, wenn er sein Versprechen nicht hält? Was könnte irgend jemand tun? Komm, zieh das Kleid einmal über und sei froh, dass er fort ist für heute. Er ist vorhin mit Wichard zum Gerichtsberg geritten", sagte Marianne entschieden.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt