4

518 35 11
                                    


Hell und strahlend zog der neue Tag herauf.
Langsam begann das Lager aus seiner beklemmenden Starre zu erwachen. Raues Gelächter war zu hören und nach einer ausgiebigen Morgenmahlzeit waren die Unversehrten froh, am Leben zu sein und gesund zurückzukehren und auch die Verletzten schöpften neue Hoffnung. 

Hardrich stand mit den Hauptleuten auf einer Anhöhe am Waldrand und blickte hinaus ins Land. Es ging ein leichter Wind und die Luft war nach dem reinigenden Regen so klar, dass man viele Meilen weit jedes Gehöft und jedes Waldstück erkennen konnte. Man kam überein, in Salin, der nächstgelegenen größeren Gemeinde der Ostmark, die Vorräte zu ergänzen und danach würde man sich trennen und jeder Lehnsmann mit seinem Gefolge nach Hause zurückzukehren. Dies bedeutete zwar für einige einen Umweg, aber Salin war außerdem Hauptsitz des Lehens von Wernherr von Harchow. Zwei Freunde des Toten wurden vorausgeschickt, um Frau von Harchow die Nachricht vom Tod ihres Gatten zu überbringen und ihr Kommen anzukündigen.

Nach einem ereignislosen Marsch stand das Heer am Vormittag des übernächsten Tages vor Salin. Hier, auf freiem Feld, in Sichtweite des Städtchens wurde das Hauptlager aufgeschlagen, und der Ritter befahl, den Leichnam des alten Kämpfers herzurichten und in seinem besten Waffenrock aufzubahren. Till hatte den Harnisch des Ritters auf Hochglanz gebracht, die Stiefel geputzt und füllte gerade frisches Wasser in einen Bottich, als der Ritter ins Zelt trat.
„Raus jetzt! Und sieh zu, dass mich in der nächsten halben Stunde niemand stört. Sonst setzt es was", befahl er barsch.
„Ja, Herr", erwiderte der Junge rasch und hastete aus dem Zelt.
Er verhängte sorgfältig den Eingang und baute sich dann breitbeinig davor auf.

Schwach drangen die Sonnenstrahlen durch das grobe Gewebe des Zeltes und erhellten den kleinen Raum spärlich. Hardrich setze sich auf einen Schemel und löste den Kinnriemen seines eisernen Helmes. Er fasste ihn mit beiden Händen, hob ihn vorsichtig vom Kopf und legte ihn auf seinem Lager ab. Dann zog er die speckige lederne Schutzhaube herunter und betastete die wunden Hautstellen am Kopf. Befreit streckte er ächzend Kopf und Nacken. Mit beiden Händen schlug er sich Wasser ins Gesicht und über den zerschundenen Schädel und genoss mit unsagbarer Wonne diese Augenblicke der Linderung. Einige Minuten saß er mit geschlossenen Augen einfach nur da, ließ den Kopf hängen und einen Luftzug über die feuchte Haut streichen.

Seit er denken konnte, seit jenem verhängnisvollen Mord an seiner Familie, war er nicht ein einziges Mal ohne Kopfbedeckung unter die Leute gegangen. Zuerst mit einem dicken Verband, später nur noch mit schützendem Helm.
Das Stück Knochen, etwa handtellergroß und fünfeckig, das ihm zwei Finger breit oberhalb des Haaransatzes über dem linken Auge fehlte, hinterließ ein deutliches Loch in seiner Schädeldecke, das nur von weißer, durchscheinender Haut bedeckt war. Darunter sah man rot-blaue Äderchen pulsieren und graues Gewebe hervorquellen. Der gesamte Oberkopf war durch die andauernde, schwere Kopfbedeckung fast gänzlich kahl und von unzähligen Narben und wund geriebenen Stellen übersät. Am Hinterkopf und im Nacken sprossen noch einige dichte, schwarze Strähnen und bildeten einen unheimlichen Kontrast zum ansonsten kränklichen, bleichen Aussehen seines Schädels. Er vermied es, in den Spiegel zu sehen und seine Umgebung fürchtete die heftigen Wutausbrüche, die all jene trafen, die es versehentlich wagten, ihn in irgendeiner Form an seinen Makel zu erinnern. 

 Albertinus, zu dem er vor vielen Jahren halbtot und blutüberströmt gebracht worden war, hatte, ohne lange zu überlegen, die Knochensplitter aus der entsetzlichen Wunde entfernt, die Haut darüber sorgfältig vernäht und dann gebetet, der Knabe möge zumindest noch lange genug überleben, um den Hergang der Tat erzählen zu können.
Niemals hatte er erwartet, dass der Sohn Otto von Avens mit diesem Loch im Kopf länger als ein paar Tage leben würde.
Aber Hardrich erholte sich. Albertinus behielt ihn bei sich im Kloster, versuchte, ihn über den Tod seiner Eltern und Schwestern zu trösten und verschwieg aller Welt die Schwere und Art der Verletzung. Nach zwei Monaten aber musste er zumindest dem Jungen sagen, wie es um ihn stand, denn der riss in seiner kindlichen Ungeduld an den Verbänden und verstand nicht, warum ihm verboten war, mit den anderen Jungen im Hof zu spielen.
Eines Tage nahm er ihn daher beiseite und schloss sich mit ihm in seinem Zimmer ein. Er hatte einen Spiegel mitgebracht, setzte den Knaben davor und löste die Verbände.
Während Hardrich verstört auf sein entstelltes Bild in dem polierten Metall starrte, sprach der Mönch lange und ernst auf ihn ein:
„Diese Stelle am Kopf wird immer deine Achillesferse sein, mein Sohn. Schon ein leichter Druck, ein unbedachtes Stolpern, kann deinen Tod bedeuten und das ist nicht die einzige Gefahr, in der du dich befindest. Die Männer, die deine Eltern ermordet haben, sind nicht gefunden worden. Sie werden nicht ruhen, bis sie auch dich beseitigt haben, denn das war sicherlich ihr Ziel. Aber fürchte dich nicht, denn wir beide sind nicht allein. Es gibt eine Reihe guter Leute, die deinem Vater die Treue geschworen haben und sich zum Ziel gesetzt haben, zusammen mit mir auf dich acht zu geben. Vergiss nie, dass du nun der rechtmäßige Herr der Ostmark bist und eine Aufgabe erfüllen musst, auch wenn es noch einige Jahren dauern wird, bis du dein Erbe antrittst. Aber du wirst es antreten, so wahr uns Gott helfe."
Dann hatte er ihm seinen ersten Helm überreicht.
„Setzt ihn auf und binde ihn gut zu! Zeige niemandem deine Verletzung! Niemand darf von dieser Schwachstelle wissen. Zu groß ist die Gefahr, dass dir 'zufällig' etwas zustoßen könnte. Das Eisen wird dich schützen und die Wunde verstecken. Leg es nie in der Öffentlichkeit ab! Ich bin der einzige, der dieses Geheimnis mit dir teilt", hatte er ihm eingeschärft.
Über die Jahre hatte Hardrich gelernt, mit dieser Bürde zu leben, misstrauisch gegen jedermann und oft voller Hass auf den Mönch, der ihn nicht hatte sterben lassen, sondern zu diesem Leben eines Aussätzigen verurteilt hatte.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt