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Auch von Trettin warf ihr einen kurzen, anerkennenden Blick zu, bevor sie rasch zusammen die Stufen hinab stiegen.
Gertraud schlug das Herz noch immer bis zum Hals. Und das nicht nur aus Furcht vor den anrückenden Fremden. Der Aufruhr in ihrem Innersten rührte in diesem Moment fast ebenso sehr von ihrer kleinen Ansprache her. Es war ihr durchaus nicht leicht gefallen, vor so vielen Menschen das Wort zu ergreifen. Aber sie hatte sich überwunden und es gab ihr ein gutes, ja, ein fast leicht schwindelerregendes Gefühl.
Sören de Allinge erwartete sie am Fuß des Aufganges. Gertraud sah ihn von der letzten Biegung der Treppe aus dort stehen und wappnete sich innerlich für eine Anfeindung von seiner Seite. Fast wünschte sie sich seine Missbilligung herbei, denn im Augenblick schien ihr Blut schier zu schäumen.
Wenn er ihr jetzt dumm kam, würde sie ihm eine passende Antwort geben, dachte sie trotzig. Bei Gott!
Doch er blickte ihr entgegen und auf seinen Zügen lag einzig ein spöttisches Grinsen.

Die Bewaffneten um ihn herum nahmen sie und den alten Statthalter in ihre Mitte und man machte sich in aller Eile auf den Rückweg zur Burg.
Draußen lief und schrie alles durcheinander und rief nach Angehörigen, die man in der Menge im Dunkeln aus den Augen verloren hatte. Die meisten strebten zurück zu ihren Häusern. Kaum jemand kam mit ihnen den Weg zur Burg entlang, denn alle hofften zumindest noch einen Teil ihres Hab und Guts in Sicherheit bringen zu können.
Schon kurz bevor sie auf die Hauptstraße einbogen, die gerade auf das Haupttor der Burg hin führte, hörte Gertraud es.
Es war ähnlich des überwältigenden Brausens, das sie vor Wochen vernommen hatte, als sie sich dem gewaltigen Heer der Kreuzfahrer genähert hatte. Gedämpftes Raunen vieler Menschen und das Klirren von Waffen und Rüstungen. Dazu Hufgeklapper und das dumpfe Stampfen vieler, vieler Stiefel. Dann plötzlich fremdartige Hornklänge, die Gertraud vor Schreck zusammenfahren ließen.
So nah...
Sie erreichten die Ecke und zu ihrem Entsetzen konnte man das fremde Heer am unteren Ende der Straße und in den Gassen dahinter bereits sehen. Da waren Fackeln. Dutzende.Hunderte wie es ihr schien.
Wie um alles in der Welt hatte diese riesige Streitmacht unbemerkt soweit vordringen können, fuhr ihr durch den Kopf, während sie neben von Trettin über das unebene Pflaster hastete, beide Arme unter ihrem Mantelumhang schützend um ihren Leib geschlungen.
Endlich war der Burghof erreicht und sie atmete auf.
Im Schutz der Mauern hatten sich bis jetzt erst etwa dreißig Bürger eingefunden. Im spärlichen Licht der Feuerkörbe und Laternen erkannte Gertraud unter ihnen die beiden Schneider und einen der Schmiede mit seiner Familie. Samt ihrer Kuh.
Gerade kam Lienhard im Laufschritt zum Tor herein. Er führte zwei Pferde am Zügel, die er offenbar noch von der Koppel geholt hatte und führte sie gleich weiter zu den Ställen.Doch lange würde das schwere Tor nicht offen gehalten werden können, dachte Gertraud besorgt.
Die ersten Reihen der Heranmarschierenden würden schon sehr bald von hier aus zu sehen sein. Überall auf den Zinnen, am Tor und im Hof waren Bewaffnete postiert und die Markgräfin sah auch die Neuankömmlinge unter ihnen, die erst heute mit de Allinge angekommen waren.
Von Trettin keuchte. Er war außer Atem vom raschen Gang hierher.
Immer noch nach Luft ringend fragte er:
„Ist Nachricht unterwegs? An von Walow?"
De Allinge nickte.
„Jawohl. Zwei Mann zu Pferde. Aber wer weiß, ob sie durchkommen", antwortete der Däne grimmig.
Dann wandte er sich an Gertraud und sie sah seine Augen im Halbdunkel des Hofes höhnisch funkeln.
„Wollt Ihr womöglich den Befehl zum Schließen der Tore geben, hohe Frau?"
Wieder lag eine Spur Belustigung in seinem Gebaren, die so überhaupt nicht in diese ernste Lage passte. Und es verwirrte und beunruhigte sie zutiefst.
Sie wünschte, er würde endlich gehen und ihr Gelegenheit geben, sich mit ihrem Ziehvater zu beraten, aber er wich nicht von ihrer Seite.
Also reckte sie das Kinn und sagte kühl:
„Ja, das will ich."
Da schwang er den Arm in einer galanten, einladenden Geste in Richtung des Tores. Geradeso als bäte er sie zu Tisch in heiterer Gesellschaft. Und nicht als befänden sie alle sich in drohender Gefahr für Leib und Leben.
Gertraud sah es und vermochte sich keinen Reim darauf zu machen. Vergeblich versuchte sie in seiner Miene zu lesen, was dem Mann durch den Kopf gehen mochte.
Doch dann schöpfte sie noch einmal tief Luft und machte entschlossen einen Schritt in Richtung Tor.
„Bleib hier! Du wirst Dich und das Kind dort in Gefahr bringen!", wandte von Trettin ein und hielt sie zurück.
„Ich bürge mit meiner Person für die Sicherheit der Markgräfin, Herr von Trettin", bellte ihn der Däne da barsch ein.
Der scharfe Ton, den der Hauptmann ihm gegenüber anschlug, ließ den alten Mann einen Moment lang erschrocken innehalten und Gertraud hob beschwichtigend die Hand.
„Bitte, Vater. Ich muss sicher gehen, dass jedermann der hier Schutz sucht, auch hereinkommt."
Ihr Ziehvater stöhnte ungehalten und funkelte dann den Hauptmann erbost an.
„Mir gefällt das nicht, aber gut. Komm. Rasch!"
Zu dritt gingen sie zurück zum Tor, durch das sie gerade hereingekommen waren.
Noch einige Städter hasteten mit bangen Gesichtern eben von der Straße her auf den Hof. Sie verneigten sich respektvoll in Gertrauds Richtung und liefen weiter hinein zu den anderen Schutzsuchenden.
Am Tor standen sieben dänische und zwei von Hardrichs Männern. Alle starrten die nun menschenleere, dunkle Straße entlang und lauschten dem sich nähernden Heer in der Ferne. Endlich entfernte sich de Allinge ein paar Schritte von ihnen und sprach mit den Torwachen.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt