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Vor maßlosem Entsetzen über seinen Fehler, wäre er fast hinaus auf den Gang und hinein in die Säbel der feindlichen Wachen gelaufen. Doch das konnte er immer noch tun, wenn er die Frau, deretwegen er hier war, in Sicherheit wusste, dachte er mit sich im Hader.
Eilig und auf das Höchste beschämt nestelte er seine nassen Beinkleider wieder zurecht. Danach suchte er Gertrauds Unterkleid vom Boden auf und half ihr mit hochrotem Kopf beim Anziehen. Wie einem Kind. Als nächstes das Kleid, Strümpfe, Bänder und Stiefel. Nur die Haube hob er auf und steckte sie ein. Sie würde im Wasser ohnehin nur stören.
Gertraud ließ alles mit sich geschehen. Wie traumverloren blickte sie umher und summte vor sich hin.
Als sie fertig angezogen war, fiel Wichard seine Laterne ein, die er im Gang hatte stehen lassen. Er wechselte rasch die heruntergebrannte kleine Kerze gegen eine neue aus und entzündete sie an einem der Leuchter im Zimmer. Dann hängte er sich seine Tasche wieder um und warf noch einen letzten prüfenden Blick durch das Gemach. Außer den Scherben der zerbrochenen Tasse am Boden, sah alles ordentlich und friedlich aus.
Das würde den Leuten des Khans fürs Erste ein hübsches Rätsel aufgeben, dachte er und ein grimmiges Lächeln huschte ganz kurz über sein Gesicht. Dann trat er zur Markgräfin.
„Wir müssen jetzt gehen. Komm, Frau", sagte er leise, aber bestimmt.
Sehr zu seiner Erleichterung, ergriff sie ohne Fragen seine dargebotene Rechte und erhob sich.
„Ja", antwortete sie schlicht.
Während sie ihm voran gebückt in das Türchen schlüpfte, fragte er sich, wie lange dieser Zustand wohl anhalten mochte. Hoffentlich ließ die Wirkung der Droge überhaupt von selber nach und es brauchte kein Gegenmittel, um diesen Wahn zu beenden.
Doch fürs Erste schlug er sich diese Fragen aus dem Kopf. Sie mussten jetzt erst einmal hier heraus.
Er folgte ihr auf den kleinen Treppenabsatz. So gut er konnte zog er den Wandbehang hinter ihnen wieder zurecht, schloss die Eisentür und nahm sich die Zeit, sie mit dem Schlüssel an seinem Bund wieder zu verschließen. Alles was ihnen einen Vorsprung verschaffte, würde möglicherweise überlebenswichtig sein.
Dann hob er die Laterne und sah sich nach Gertraud um. Mit leicht abwesendem, bangem Blick stand sie da und betrachtete den Leichnam. Der Körper lag verdreht auf der Treppe, die Stufen darunter dunkel vom Blut, das aus der tiefen Halswunde heraus gesickert war.
„Keine Angst. Er kann uns nichts mehr tun", murmelte Wichard beruhigend.
Wortlos nickte sie, griff nach seiner Hand und zog diese an ihre Wange. Dabei sah sie ihn an. Und die Liebe, die in diesem Blick lag, überwältigte ihn einen Moment lang. Es schnürte ihm die Kehle zu. So also sah sie den Mann an, den sie liebte, dachte er und spürte einen beißenden Stich tief, tief in seinem Innern. Und als ihm bewusst wurde, dass es Eifersucht sein musste, die ihn da so schmerzte, zog er hastig und beschämt seine Hand zurück.
Sie sah ihn leicht gekränkt an und er sagte ernst:
„Es ist Zeit, dass wir gehen."
Sie begannen den Abstieg. Er ging voraus, die Laterne in der Linken und ihre Hand in seiner Rechten, bis sich die Treppe unter ihnen im dunklen Wasser verlor. Wichard stellte die Laterne ab und bückte sich nach dem Seil. Schweigend band er es um Gertrauds Taille. Sie sollte auf jeden Fall hier heraus kommen, dachte er dabei.
Jetzt kam der schwerste Teil.
Wichard räusperte sich und begann:
„Wir werden jetzt zusammen durch das Wasser..."
„Nein. Hardrich, nein! Ich kann das nicht. Du weißt, ich kann das nicht!", unterbrach sie ihn.
Wichard zwang sich, ruhig zu bleiben und fasste ihre Schultern.
„Wir müssen da durch", sagte er deutlich.
„Ich kann doch nicht schwimmen! Das weißt Du doch", antwortete sie weinerlich.
„Es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen da durch und wir werden es gemeinsam schaffen. Hast Du verstanden?", fragte er mit Nachdruck.
Sie antwortete nicht.
„Hast Du das verstanden, habe ich gefragt, Frau?", wiederholte er im Befehlston.
Er sah, wie sie schluckte, dann aber nickte.
Es tat ihm leid, sie derart anfahren zu müssen, aber die Zeit drängte und er konnte im Moment nicht an ihre Vernunft appellieren, denn sie war ganz offensichtlich noch immer wie in einem seltsamen Dämmerzustand gefangen. Es war unerlässlich, dass sie jetzt tat, was er sagte und er sie in Sicherheit bringen konnte.
Er spannte die Leine und ruckte dreimal daran. Das war als Zeichen mit Lienhard ausgemacht. Ein Ruck als Antwort. Der Junge hatte verstanden. Sie beobachteten, wie das Seil langsam ins Wasser glitt, als Lienhard es von der anderen Seite aus sachte straff zog. Er war bereit und Wichard dankte Gott im Stillen für diese Hilfestellung. Er würde sie von seiner Seite aus mit durch das Wasser ziehen, hatten sie vereinbart. Bis zum Gittertor erst behutsam, damit sie sicher durch die Öffnung finden konnten. Das war die heikelste Stelle. Ganz unten, dort wo der Gang eine kurze Strecke eben verlief, bevor er danach wieder anstieg und man hinauf schwimmen konnte.
Wichard dachte mit Schaudern an den Weg hierher. Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte dort unten im Dunkeln die Orientierung verloren. Einmal war er nahe dran gewesen in Panik auszubrechen, was sein Tod gewesen wäre.
„Hol ein paar Mal tief Luft", wies er sie an.
Gehorsam atmete Gertraud einige Male ein und aus. Wichard entschied, ihr die Stiefel und Strümpfe zu lassen und ging selber barfuß wie er gekommen war und mit zusammengebissenen Zähnen voraus ins Wasser. Drei Stufen hinab. Dann winkte er sie heran.
„Leg Deine Arme um meinen Hals und halt Dich fest an mir", forderte er sie auf.
Sie machte einen schwankenden Schritt zum Rand des Wassers und zögerte wieder.
„Komm!", befahl von Dühring knapp, griff nach dem Seil um ihre Mitte und zog sie entschlossen zu sich.
Sie gab einen klägliches, unterdrücktes Keuchen von sich, als sie so ins Wasser hinein stolperte, ihre Stiefel vollliefen und die Kälte sie wie mit winzigen Nadelstichen traf.
„Komm rasch", wiederholte Wichard, etwas sanfter jetzt, „Umso schneller sind wir hindurch."
Dann blickte er ihr in die Augen und fügte hinzu:
„Vertrau mir, ... Liebste."
Sie lächelte. Und er sah, wie sie sich am Riemen riss und schließlich zu ihm kam. Dann schmiegte sie sich an seinen Rücken und schlang die Arme um ihn.
„Ich hab Angst", flüsterte sie in sein Ohr.
„Ich weiß. Ich bin bei Dir. Keine Sorge", raunte Wichard, bemüht, seine Stimme fest klingen zu lassen.
Weiter hinab ging er, bis das eisige Wasser ihnen bis an die Brust reichte.
„Tief Luft holen. Auf drei werden wir hinabtauchen. Verstanden?", fragte er.
Er fühlte, wie sie in seinem Rücken nickte, während ihre Zähne vor Kälte aufeinander schlugen und sie sich noch fester an ihn klammerte.
In seiner linken Hand hielt er das Seil, dessen eines Ende hinter ihn an Gertrauds Taille führte, während die andere Seite ihnen voraus leicht gespannt im Wasser verlief.
„Eins, zwei, ... drei", zählte er, holte noch einmal Schwung und füllte seine Lungen.
Dann ruckte er abermals am Seil, ließ sich ins Wasser fallen und stieß sich an der Mauer hinter sich ab. Er tauchte hinunter, wobei er mit den Beinen und seiner Rechten in kräftigen Zügen schwamm und gleichzeitig spürte, wie Lienhard sie beide am Seil, das er fest in seiner Linken hielt, zu sich zog.
„Gut, Junge! Weiter so!", dachte er voll freudiger Erleichterung.
Sie kamen gut voran und seine Zuversicht wuchs. Obwohl er den Weg beim ersten Mal in völliger Dunkelheit geschwommen war, kannte er in etwa den Verlauf. Und das Wissen, es bereits einmal erfolgreich überstanden zu haben, gab ihm zusätzlich Mut. Geleitet durch das Seil und mit Lienhards Unterstützung würden sie es schaffen.
Gertraud hing zwar deutlich spürbar und schwer an seinem Rücken, behinderte aber seine Bewegungen kaum. Zudem meinte er in der Ferne bereits den leichten Lichtschimmer von Lienhards Laterne zu sehen, wenn er im eisigen Wasser die Augen kurz öffnete. Durchweg mochte er seine Lider aber der Kälte wegen nicht offen halten.
So hatten sie rasch die kurze, ebene Strecke am tiefsten Punkt des Ganges erreicht. Gleich musste irgendwo das Gitter kommen, dachte er beflügelt. Da passierte es.
Gerade trieb er sich mit einem kraftvollen Beinschlag weiter voran, als er so hart und schmerzhaft mit der Stirn gegen ein Hindernis stieß, dass er trotz seiner geschlossenen Lider kurz helle Lichtblitze sah. Vielleicht war es ein vorstehender Schlusstein in einer der Gewölberippen gewesen oder ein alter Laternenhaken.
Aber was es auch war, Wichard ließ vor Schreck einen Teil seiner kostbaren Atemluft entweichen und ruderte wild mit den Armen. Das Seil entglitt seinen Fingern. Lienhard aber, der nicht sah, was dort unter Wasser vor sich ging, zog immer weiter an der Leine. Die erfasste nun das um Gertraud geknotete Ende und zog sie beide taumelnd herum.
Verbissen versuchte Wichard gegenzusteuern, aber er fand nirgendwo einen Halt. Sie drehten sich. Er verlor die Richtung. Meinte, sich jetzt kopfüber zu befinden, war sich aber im Dunkeln durchaus nicht sicher. Er spürte, wie die Wärme von Gertrauds Körper sich von seinem Rücken entfernte, als sie von ihm weg gezogen wurde und er nur noch ihre klammernden Arme um seinen Hals fühlte. Wo zum Teufel war das Seil? Er musste das Seil finden, um sich neu auszurichten. Er versuchte hektisch, um Gertraud herum zu greifen, während seine Stirn dumpf pochte und seine Lungen brannten.
Aber so sehr er es auch herbeisehnte, da war nichts, was er zu packen bekam. Dafür stieß er plötzlich mit einer Schulter gegen etwas Hartes. Fieberhaft griff er danach. Eiserne Stäbe. Und sie bewegten sich. Es musste die Pforte sein.
Im nächsten Moment riss Gertraud einen ihrer Arme von ihm los. Wichard konnte nur raten, was ihr durch den Kopf ging. Vielleicht griff sie nach dem Hindernis, gegen das auch sie ja gezogen wurde und vielleicht dachte sie, der Weg wäre versperrt. Denn kopflose Panik überfiel sie.
Sie ließ ihn ganz los und er spürte die wilden Bewegungen des Wasser um sich her, als sie wie von Sinnen um sich schlug, strampelte und trat. Er versuchte, zu ihr zu gelangen, doch ein verzweifelt rudernder Ellenbogen traf ihn hart im Gesicht.
Und dann drang ein furchtbarer Ton an sein Ohr. Ihr vom Wasser gedämpfter, gurgelnder Schrei zerriss die Totenstille. Wichard war sekundenlang vor Grauen gelähmt. Noch zwei, drei Mal spürte er die Wellen gegen sich laufen, die ihr Strampeln verursachte.
Dann Stille. Sie musste das Bewusstsein verloren haben.
Sie würden beide hier unten sterben, schoss es Wichard durch den Kopf.
Dennoch kämpfte er sich noch einmal verbissen in die Richtung, in die er die Öffnung im Gitter vermutete. Wie leblos schwebte Gertrauds Körper davor.
Er bekam das Seil zwischen die Finger. Es hatte sich verhakt. Er konnte nicht sehen, wo und wie und riss verzweifelt daran herum. Es löste sich. Mit allerletzter Kraft schob er Gertraud durch die Öffnung im Gitter und zerrte am Seil, um Lienhard ein Zeichen zu geben, um um Himmels willen wieder anzuziehen.
Und tatsächlich fühlte er, wie sie danach von fremder Hand gezogen durchs Wasser glitten. Der Drang, endlich Atem zu schöpfen, wurde unerträglich. Er spürte, wie auch ihm die Sinne schwanden. Noch einmal ruckte er heftig am Seil und fühlte, wie Lienhard sie jetzt mit all seiner Kraft dem rettenden Ausgang entgegenzog.
„Jetzt liegt es an Dir, Junge", flehte er im Stillen.
Einen Moment lang noch hielt er sich an Gertrauds Hand fest und drückte sie. Dann ließ er ihre Finger aus den seinen gleiten. Halb weil ihn das Bewusstsein verließ, halb aus dem festen Willen heraus, es Lienhard leichter zu machen. Gertraud musste es einfach schaffen.
„Verzeih mir...", war sein letzter, klarer Gedanke.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt