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Eine Stunde später klopfte es an der Tür. Marianne sprang auf und öffnete. Vor ihr stand ein großer, hagerer Mann in Mönchskutte, der von einer Wache heraufgeführt worden war. Sie erkannte den Heilkundigen des Klosters, verbeugte sich und trat zur Seite, um ihn eintreten zu lassen.

              Albertinus lebte seit seinem zehnten Lebensjahr im Kloster. Er war der Sohn eines angesehenen Gutsherrn, der von vornherein Streit unter den drei Brüdern vermeiden wollte und deshalb für seinen Jüngsten eine kirchliche Laufbahn bestimmte.
Zwar stellte sich bald heraus, dass Albertinus sich nicht für die Kirchenpolitik interessierte und daher nicht eines Tages Bischof oder gar Kardinal werden würde, aber er hatte von den Eltern einen wachen Geist und einen starken Willen geerbt. Und so stürzte er sich nach den ersten schlimmen Monaten voller Heimweh und Schmerz über die jähe Trennung von der Familie in die Wissenschaften.
Erst verschlang er wahllos alles, was er in der Klosterbibliothek finden konnte. Aber nach und nach bemerkte er, dass ihn besonders solche Bücher fesselten, die über die Kunst des Heilens berichteten.
Der Prior des Klosters, ein ruhiger, strenger Mann unterstützte den aufgeweckten Knaben und schickte ihn am Ende seiner Novizenzeit in die Lehre zu Bruder Winifried. Dieser unterwies ihn in allem, was er selber über die Krankenpflege wusste. Albertinus jätete den Kräutergarten, lernte, welches Kraut wann und wie getrocknet werden musste, assistierte bei der Herstellung von Aufgüssen und Salben, wechselte Verbände und begleitete seinen Lehrer auf dessen Krankenbesuchen.
Gerade diese Krankenbesuche waren es, an die sich Albertinus immer gerne zurückerinnerte. Bruder Winifried war ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, der es mit dem Kasteien des Körpers nicht allzu genau nahm. Er war dick und rund, hatte flinke, hellblaue Augen und ein helles Lachen, das jedermann in seinen Bann zog. Auf den langen Fußmärschen zu den oft entlegenen Höfen, weit von der stillen Strenge der Klostermauern entfernt, plauderten sie über Gott und die Welt. Mit wohligem Gruseln lauschte der junge Mönch Berichten über die Schliche und Versuchungen des Teufels und anschaulichen Schilderungen der Hölle, und er erhielt freimütig Antwort auf alle Fragen, die seine erwachende Männlichkeit und sonstige Geheimnisse des Universums betrafen.
Anfangs wusste der Junge gar nicht, wohin er vor Scham seinen Blick richten sollte, wenn die Kranken sich zur Untersuchung entblößten. Doch nach ein paar Monaten blickte er weiße Frauenleiber genauso unbefangen an wie ein gebrochenes Bein oder einen kranken Zahn. Nach den Behandlungen tischten selbst die ärmsten Bauern und Tagelöhner den beiden Mönchen das Beste auf, was der Hof zu bieten hatte. 
 Zwar hatten sie Enthaltsamkeit in allen fleischlichen Lüsten gelobt, aber, so sagte Winifried immer:
„Diese Speisen und Getränke sind eine fromme Spende an die Mutter Kirche. Und wer bin ich, dass ich das Dankopfer dieser guten Leute zurückweisen könnte."
Und so aßen und tranken beide stets reichlich, denn die Klosterkost war weder üppig noch wohlschmeckend.
Der Prior würde sie beide zwar bei der nächsten Lesung über die Sünde der Völlerei mit einem bösen Blick bedenken, welcher Albertinus jedes mal an Winifrieds Überzeugung zweifeln ließ, aber sobald dann die dampfenden Schüsseln vor ihnen standen und der Magen knurrte, klangen die Ausführungen des väterlichen Freundes wieder allzu einleuchtend. Und wenn beide nach einem solchen Tag rülpsend und leicht schwankend den Heimweg antraten, war Albertinus mit seinem Schicksal mehr als zufrieden. Nach einigen Jahren war es Albertinus, der die Hauptarbeit am Krankenbett verrichtete, während sich Winifried bei einem Krug Bier vom anstrengenden Fußmarsch erholte.
Nicht allen ihren Patienten konnten sie helfen, nicht einmal allen die Schmerzen nehmen. Oft genug kamen die Brüder gerade noch rechtzeitig, um einem Sterbenden die Beichte abzunehmen und die Familie zu trösten. Auch der Tod, so merkte Albertinus bald, würde immer zu seinem Handwerk gehören. Besonders schmerzte ihn seine Hilflosigkeit, als Winifried eines Tages nicht zur Frühmesse in der Kirche erschien und er ihn tot in seiner Zelle fand. Sein Herz hatte unvermittelt aufgehört zu schlagen. Albertinus wusste, dass ein solch friedlicher Tod ohne Schmerzen immer Winifrieds Wunsch gewesen war und er gönnte seinem Mentor diese Gnade Gottes. Auch die anschließende Beerdigung unter großer Anteilnahme der Bevölkerung war ein Zeichen der Beliebtheit seines Lehrers.
Albertinus aber war untröstlich. Schließlich erbot sich der Prior, an einen befreundeten Abt in Oberitalien zu schreiben und ihn zu bitten, dem jungen Mann in seinem Kloster weitere Studien zu ermöglichen.
Dies weckte Albertinus aus seiner Lethargie. Ja! Er würde weiter lernen. Mehr Wissen war der Schlüssel!
Sein Vater, vielleicht aus einem Schuldgefühl heraus, vielleicht seiner Frau wegen, die ihren Jüngsten damals nur ungern hatte gehen lassen, steckte so manche Goldmünze zusätzlich in den Opferstock. Und so gefördert, konnte Albertinus drei Jahre durch Italien reisen, um dort Manuskripte von berühmten Ärzten zu kopieren und neue Kräuter und Arzneien kennenzulernen.
Als er nach dieser Zeit wieder in seine Heimat zurückkehrte, erschien es ihm anfangs, als müsse die Enge der Stadt und die in den Köpfen der Menschen ihn erdrücken. Er war im Gespräch mit den Gelehrten vieler Richtungen auf Gedankengut gestoßen, das ihn fasziniert und zum Teil auch erschreckt hatte.
Diese Erfahrungen lagen jetzt fast fünfzehn Jahre zurück, und immer noch betrachtete man seine weltoffene, tolerante Art mit Argwohn. Nach seiner Rückkehr hatte er, dank seines Könnens, viel zum Reichtum des Klosters beigetragen. Kranke von weit her wurden ihm vorgestellt und obwohl er viele Mitbrüder in seiner Kunst unterwiesen hatte, ließ er es sich nicht nehmen, so oft wie möglich selber in die Häuser der einfachen Leute zu gehen und zu helfen, wo er konnte.
So wie im letzten Winter, als man ihn in die Schenke zu dem niedergeschlagenen Jungen rief. Dort stand er wieder einmal vor einem Opfer von Rohheit und Ignoranz, und eine heiße Wolke der Wut über diesen sinnlosen Tod stieg in ihm auf.
Mit einem Mal reckte sich seine drahtige Gestalt und er schrie:
„Ihr Tiere! Seht her! Seht, was ihr getan habt! Was eure Gegner auf dem Schlachtfeld nicht vermochten, ihr tut es euch selber an!"
Viele waren, da es offensichtlich hier nichts Spektakuläres mehr zu sehen gab, wieder zu ihren Tischen zurückgekehrt. Nur der Freund des Jungen kniete noch neben dem Toten, und Tränen rannen über seine verschmierten, fettigen Wangen. Erschrocken wich er vor dem tobenden Mann in der dunklen Kutte zurück. Weiter schienen seine heftigen Worte aber nicht zu dringen, denn die anderen Gästen an den Nebentischen lärmten und zechten weiter.
Während der Mönch in ohnmächtigem Zorn weiter wetterte, wurde es dann aber plötzlich still im Raum. Eine dunkle Vorahnung ergriff Albertinus mitten im Satz, als er mit einem Mal gewahr wurde, dass seine heisere Stimme ganz allein die unheilvolle, ängstliche Stille zerschnitt.
Aus dem rauchigen Dunkel einer Nische löste sich eine riesenhafte Gestalt und kam mit schweren Schritten langsam näher.
Die Menschen duckten sich unwillkürlich auf ihren Schemeln. Keiner wagte, den schwer geharnischten Mann anzublicken.
Nur Albertinus starrte ihn an. Sein Atem stockte. Er erkannte den Herrn der Mark, Hardrich von Aven, Ritter des Königs.
Albertinus hätte zur Tür hinausstürzen oder sich zu Boden werfen können, aber er rührte sich nicht. Der erste Schlag traf ihn an Schulter und Rücken. Der breite Ochsenziemer hinterließ sein blutiges Siegel im Fleisch des Geistlichen. Albertinus taumelte und hob die Hände vor das Gesicht. Noch einmal zuckte die Peitsche ihm entgegen, bis ihn ein Schlag am Kopf traf und er das Bewusstsein verlor.
Als er später für kurze Zeit fiebernd und mit pochendem Schädel erwachte, lag er neben anderen Kranken im Siechhaus seines Klosters und sah durch einen Schleier von Schmerzen besorgte Blicke auf sich gerichtet. Bruder Gernod war damit beschäftigt, ihn aus seiner blutgetränkten Kutte zu befreien, um den geschundenen Leib waschen und verbinden zu können.
Erst Tage später war Albertinus in der Lage zu begreifen, was weiter geschehen war. Er erfuhr, dass der Markgraf ihn wohl erschlagen hätte, wenn nicht dessen Gefolgsmann, Wichard von Dühring, sich schützend über den am Boden Liegenden geworfen hätte. Die Familie von Dühring besaß Ländereien nahe des Gutes von Albertinus' Elternhaus. Beide kannten einander. Der junge Wichard galt als engster Vertrauter des jähzornigen Markgrafen. Nur er konnte es überhaupt wagen, sich dem Ritter in den Weg zu stellen, ohne selber sein Leben zu verlieren. Der Vorfall beherrschte in den nächsten Wochen die Gespräche im ganzen Land.
Der Bischof, der die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte, besuchte das Kloster, um sich mit dem Prior in dieser Angelegenheit zu beraten. Nachdem er daraufhin in der Burg erschienen war und den Ritter gutgelaunt nach einer erfolgreichen Jagd vorgefunden hatte, erhielt das Kloster ein neues Dach für das Dormitorium.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt