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III - Fern

Wichard wuchtete den vollen Korb auf den Wagen und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Er blickte die schier endlosen Reihen der Bäume entlang und ächzte. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Die Spätapfelernte stand an und jede Hand wurde gebraucht. In den Bäumen waren überall die Pflücker zugange und ihm und seinen Leuten oblag heute die Abfuhr. Obwohl es schon auf Ende Oktober zuging, war es tagsüber noch erstaunlich mild und die Arbeit in der Mittagssonne trieb ihm den Schweiß aus allen Poren.
Er ließ den Wagen an der nächsten Sammelstelle halten und die Männer, die mit ihm nebenher gingen, machten sich daran, auch hier die Körbe aufzuladen. Gefüllt mit duftenden, speckig glänzenden Agatäpfeln. Zumindest war die Wespenplage des letzten Monats abgeklungen, dachte Wichard grimmig. Wie er die Biester gehasst hatte. Seit im Juli die ersten Frühäpfel erntereif waren, hatte man sich mit ihnen und ihren Nestern herumschlagen müssen. Nach den ersten Äpfeln und Birnen folgte die Weinlese und da war es am schlimmsten gewesen. Je reifer die Weinbeeren wurden, umso zahlreicher und angriffslustiger wurden die Stecher, die trunken vom Most, versteckt zwischen den safttriefenden Trauben saßen.
Unzählige Male war er gestochen worden. So oft, dass seine beiden Schwager ihn schon damit aufgezogen hatten. Es war gutmütiger Spott. Und doch ärgerte es ihn, wenn sie frotzelten, er rieche wohl zu verlockend nach Fisch.
Wohl hundertmal hatte er ihnen erklärt, dass seine Heimat mehr als eine Tagesreise weit von der See entfernt lag und er nicht mehr mit Fisch zu schaffen hatte als sie selber. Aber für seine neue Familie lag alles nördlich des Mains direkt am Meer und nichts, was er sagte, schien das ändern zu können.
Die Brüder seiner Frau, Udalrich und Liutfried, waren, ganz wie der Vater, gedrungen und rotwangig, zupackend und selten schlecht gelaunt. Wichard mochte sie und fühlte sich wohl inmitten des großen Familienverbundes, auch wenn sich sein Alltag nun doch sehr von seinem früheren Soldatenleben in der Stadt unterschied. Und das nicht nur wegen des schwer verständlichen Dialektes, der in der Gegend gesprochen wurde.
Ganz in Gedanken griff Wichard nach dem nächsten Korb. Und hinein in eine der letzten Wespen des Jahres. Beißender Schmerz schoss durch seine Hand. Fluchend schüttelte er das Insekt zu Boden und zertrat es wütend.
Von den fünf Arbeitern, die er anführte, sagte jemand etwas. Ein harmloser Scherz wahrscheinlich, den der Zugereiste allerdings nicht verstand. Die anderen lachten. Doch die Männer sahen, wie verärgert von Dühring tatsächlich war und verstummten rasch.

Ein verzweifelter, mittelloser Pilger war er gewesen, als er Anfang des letzten Winters hier angekommen war. Hoch fiebernd, fast all seiner Habseligkeiten beraubt und vollkommen am Ende. Der Graf hatte ihn in Konstanz aufgelesen, wo er wegen einiger Handelsverträge zu tun gehabt hatte. Und ihm war der junge Mann in der Kirche aufgefallen. Der alte Herr hatte ihn angesprochen und ihn kurzentschlossen in seine Obhut genommen. Und rettete ihm dadurch womöglich das Leben. Man pflegte ihn gesund und beherbergte ihn den Winter über. Hier hatte er die kränkliche Tochter des Grafen kennengelernt, ihr den Hof gemacht und sie in diesem Sommer, trotz ihres Siechtums sogar gefreit. Das hatte landauf, landab für hämisches Gerede gesorgt. Ob er denn nicht etwas Besseres hätte kriegen können, fragte man sich grinsend hinter vorgehaltener Hand.
Wie konnte es sein, dass er zuhause angeblich die rechte Hand eines großen Herrn gewesen war und jetzt hierzulande eine derart nachteilige Verbindung einging? Wie konnte er ohne Not eine Gemahlin wählen, die nicht mehr die Jüngste war und ihm niemals gesunde Kinder gebären würde? Da konnte doch etwas nicht stimmen, wurde getuschelt.
Sicher. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Melisande von Klingen ein hübsches Gesicht hatte, aber sie war seit ihrer Kindheit krank. Lunge und Herz waren leidend. Die Schwindsucht sei es, munkelte man. Sie hätte nicht mehr lange zu leben, hatten die Ärzte gesagt. Schon damals, als sie zwei Jahre alt war.
Aber Melisande war herangewachsen. Und so hatte ihr Vater irgendwann die kostspieligen Ärzte vom Hof gejagt und nur die Amme behalten, die die kleine Melli mit Hühnersuppe, süßem Apfelmus, Sahne und Haferbrei aufpäppelte. Sie blieb blass und schwächlich, war ständig am husten, aber offensichtlich zäher, als die Gelehrten vorausgesehen hatten.
Jetzt war sie zwanzig und damit drei Jahre Jünger als Wichard. Und sie schien all die Jahre nur auf diesen fremden, jungen Mann gewartet zu haben.
Den schneereichen Winter über, den Wichard in ihrem Elternhaus verbracht hatte, war die junge Frau in seiner Gesellschaft derart aufgeblüht, dass es ihren Eltern ans Herz ging und sie den Tag fürchteten, an dem ihr Gast im Frühjahr seine Pilgerfahrt fortsetzen würde. Graf Werner von Klingen und seine Frau Mareile hatten den höflichen, umgänglichen Gast in den gemeinsamen Wintermonaten kennen und schätzen gelernt und sie kannten auch die Geschichte seiner Verfehlung, der Pflichtverletzung, die ihn aus seiner Heimat und zu dieser Pilgerfahrt getrieben hatte. Aber die Ostmark war weit und sein Fehler hier ohne Belang. Sein Betragen und seine Herkunft waren ohne Makel und da er ihre bedauernswerte Tochter durch seine Zuneigung so glücklich machte, waren beide sehr froh über seinen Antrag und gerne gewillt, ihn nach seiner Rückkehr aus Spanien in ihrem Hause willkommen zu heißen.
Er würde seinen guten Namen und seine Arbeitskraft mit in die Ehe einbringen und bekam im Gegenzug einen festen Platz an ihrem Tisch, Auskommen und Unterkunft. Das beruhigte auch die Brüder, die den Fremden anfangs ein wenig misstrauisch beäugten, als sein Interesse an ihrer Schwester offenkundig wurde. Der junge Mann war nicht auf eine Mitgift und ein leicht gewonnenes Erbteil aus, sondern bereit, für seinen Anteil am Familieneinkommen zu arbeiten und hier ein neues Leben zu beginnen.
Wichard von Dühring war niemandem mehr Rechenschaft oder Gehorsam schuldig und tat, wonach ihm das Herz stand. Sein jüngerer Bruder Gerolf würde zuhause das elterliche Gut übernehmen und die Eltern versorgen. Dies oblag ihm ohnehin, da sich Wichard ja bereits in jungen Jahren dem Dienst am Hofe des Markgrafen verpflichtet hatte. Und so schrieb er nach Hause, dass er sich im Sommer im Thurgau verehelichen und sein Leben fortan in den Dienst der Familie seiner Frau stellen würde. Er zog einen Schlussstrich unter sein bisheriges Dasein und schätzte sich glücklich, wohlwollende, ja liebevolle, Aufnahme dort im Süden zu finden.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt