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Dem Vater gegenüber hatten die Geschwister den Vorfall mit dem abgesprungenen Wagenrad heruntergespielt, denn beide wollten auf keinen Fall ein Verbot der gemeinsamen Lieferfahrten riskieren. Von Trettin blieb an diesem Abend der Schenke fern, so sehr Gertraud sein Erscheinen auch herbeiwünschte, um ihn nach dem seltsamen Fremden zu fragen und ihr Fernbleiben gestern Abend irgendwie zu entschuldigen. Und auch Klemens ließ sich nicht blicken.

Der Dienstag verging und auch der Mittwoch verlief zunächst ereignislos, bis am späten Nachmittag ein Bote aus einer der Schenken an der Stadtgrenze geritten kam und Meister Kerner zu sprechen wünschte.
"Mein Herr wünscht dringend noch sechs Fass Helles von Euch zu kaufen! Nur schnell muss es gehen! Von Beverns Männer sind gestern Abend spät noch in der Stadt eingetroffen. Sie sind zwar heute schon weiter, aber für morgen Abend ist der Markgraf mit seinen Leuten aus Salin angekündigt und die Kerle sind nicht weniger durstig! Wir haben noch zwei Fass im Keller, aber was ist das schon! Ich bitte Euch, Meister, schickt noch einen Wagen morgen früh. Mein Herr sagt, es soll euer Schaden nicht sein. Er lässt auch mit dem Preis mit sich reden."
Gertraud, die in der Nähe gestanden hatte, wurden die Knie weich, als sie hörte, dass das Heer vor Salin lagerte. Eine plötzliche Gewissheit überkam sie und sie warf Paul einen verstohlenen Blick zu. Auch der sah sie erschrocken an.
Sie flüsterte ihm zu:
"Sag bloß, der Markgraf selber hat uns das Wagenrad gerichtet! Das gibt's doch nicht!"
Doch Paul erwiderte:
"Aber die Rüstung? Und der Helm, den er trug? Seine Größe? Und auch seine ungeheure Stärke? Alle sagen, dass er genau daran zu erkennen ist. Jesus! Das wir nicht gleich darauf gekommen sind!"
"Aber getan hätte er so was nicht. Das sagen auch alle. Vielleicht war es nur einer seiner Leute", versetzte Gertraud.
"Aber der goldene Reif! Du hast selber noch gesagt 'Sicher ein wichtiger Herr'", beharrte ihr Bruder aufgeregt.
Der Vater unterbrach ihre Überlegungen und schickte Gertraud, dem Boten zu essen und zu trinken zu bringen und rief Paul zu, er solle Henning und Dietrich suchen und in den Fasskeller kommen. Paul verschwand durch die Küche auf den Hof und Gertraud brachte dem Boten einen Becher Bier und einen Teller Brot, Butter und Wurst. Er war etwa im selben Alter wie sie. Die junge Frau setzte sich zu ihm und fragte, was es denn sonst Neues gäbe in der Stadt. Bald war man umringt von weiteren Neugierigen, während der Bursche den letzten Klatsch aus der Stadt zum Besten gab. Gönnerhaft erzählte er, was von den Männern von Beverns über den Kriegszug zu erfahren gewesen war. Besonders von Harchows Tod und die gewaltige Metzelei danach gaben reichlich Anlass zu lautstarken Kommentaren. Beiläufig fragte Gertraud ihn dann, ob er je den Markgrafen selber einmal zu Gesicht bekommen hätte.
Der unscheinbare Mann lächelte sie an, sichtlich erfreut über soviel Aufmerksamkeit und sagte dann:
"Na ja. Ihr wisst selber, dass die Schenke, in der ich diene, nicht gerade die vornehmste ist. Außerdem liegt sie außerhalb der Stadtmauern. Von ferne habe ich ihn allerdings schon manches Mal gesehen. Wenn er zur Jagd reitet, nimmt er manchmal diesen Weg aus der Stadt. Meist begleitet ihn der junge Herr von Dühring, manchmal ist er auch allein. Immer prescht er durch die Straßen und schaut nicht links und nicht rechts."
"Was reitet er für ein Pferd?", fragte sie nach und bemühte sich, ihn ihre Unruhe nicht merken zu lassen.
"Ein riesiges, braunes Tier. Man sagt, er tränkt ihn mit Blut, damit er in der Schlacht nicht scheut. Ein Freund von mir arbeitet in den Stallungen. Der hat es mir selber erzählt", kam die muntere Antwort.
Dann leerte er den Becher und griff nach seiner Jacke.
"Ich muss jetzt wieder los. Mein Herr wartet sicher schon ungeduldig auf eine Antwort. Eingebläut hat er mir, sofort zurückzureiten und mich nicht aufzuhalten. Aber mir wird schon etwas als Ausrede einfallen. Wir sehen uns ja dann morgen."
Er nickte Meister Kerner, der hinter der Theke gerade ein neues Fass angestochen hatte, noch einen Gruß zu und verließ dann eilig die Wirtschaft.

Gertraud schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder schreckte sie aus schweren Träumen auf, an die sie sich aber am Morgen nicht mehr erinnern konnte.Lange vor Sonnenaufgang rumpelte der Wagen am Morgen vom Hof. Sie hatte gestern kurz erwogen, den Vater zu bitten, jemand anderen die Lieferung begleiten zu lassen, aber die Altgesellen waren für den Abend bereits zu ihren Familien zurückgekehrt und so verwarf sie den Gedanken. Der kalte Morgennebel ließ bereits den nahen Herbst erahnen. Fröstelnd und mit klammen Fingern saßen die Geschwister nebeneinander.
Nachdem sie eine Weile unterwegs waren, warf Paul Gertraud einen verstohlenen Blick zu und sagte beiläufig:
"Klemens war gestern Abend bei mir."
Gertraud zog überrascht die Brauen in die Höhe.
"So?", murmelte sie und wich seinem Blick aus.
"Er fragte, ob du es dir mit Süderbroock überlegt hättest und ob du ihm böse bist. Ob du was gesagt hättest, wollte er wissen. Ich hab ihm gesagt, er solle doch reingehen und dich selber fragen, aber er wollte nicht. Dann ist er gegangen, aber der Vater hat ihn gehen sehen und dann hat er mich gefragt, was denn Klemens gewollt hat. Und dann wollte Vater wissen, was denn sei mit Süderbroock, und ich musste mir wieder mal anhören, dass du Flausen im Kopf hast. Und dass der Klemens nicht ewig warten wird und so. Und jetzt soll ich dir zureden. Ausgerechnet ich! Verdammt, Gertraud! Er ist doch wirklich kein schlechter Kerl", druckste Paul herum.
"Ja, ich weiß", seufzte Gertraud und die Erinnerung an ihr letztes Treffen mit Klemens stand ihr wieder vor Augen.
Sie war fast soweit, Paul davon zu erzählen, ließ es dann aber doch.
Nachdem sie eine ganze Weile schweigend gefahren waren, sagte sie:
"Falls der Vater wieder fragt, sag ihm, dass ich noch in diesem Jahr meine Wahl treffen werde. Und jetzt Schluss damit."
Paul grinste.
"Na, endlich! Und ich dachte schon, du endest als alte Jungfer und wir werden dich nie los!"
Sie verpasste ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen und beide lachten.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt