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Gertraud hatte gerade von ihrer Adoption durch den alten Herrn von Trettin erzählt und Wichard wollte noch etwas hinzufügen, da flog die Tür auf und schlug mit Krachen an die Wand daneben.
Beat kam hereingestürzt. In der Hand eine blutige Hacke.
Er starrte mit schreckgeweiteten Augen in die Runde und schrie mit sich überschlagender Stimme:
„Onkel! Onkel, komm schnell! Der Mann! Ich hab... Draußen! Komm! Schnell!"
Ohne ein Wort sprang Wichard auf. Schreckensbleich. Gefolgt von Lienhard lief er hinter Beat her in die Küche, wo zwei verängstigte Mägde sie anstarrten und weiter durch die Hintertür hinaus auf den Hof. Neben der Treppe lag ein regloser Körper im Schnee. Mehr war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Wichard zog sein Schwert und befahl Beat knapp:
„Lauf! Hol die Männer!"
Beat drückte Lienhard mit zitternden Händen die Hacke in den Arm und stürmte los in Richtung des Gesindehauses.
„Anna! Bring Licht!", bellte von Dühring in Richtung Küchentür.
Schwer atmend stand er mit der Waffe in der Hand neben Lienhard über dem leblos wirkenden Mann im Schnee. Auch Lienhard hielt die Hacke zum Schlag bereit. Sie hörten, wie Beat auf der anderen Hofseite schreiend die Knechte aus dem Schlaf riss und Wichard brüllte noch einmal nach Licht.
Doch die Magd kam nicht. Es war Gertraud, die mit einem Kerzenhalter in der Hand in der offenen Tür erschien. Wichard fluchte gereizt und wollte sie zurück ins Haus befehlen, aber sie war schon die Stufen hinabgehumpelt und hielt die Lichtquelle über den am Boden liegenden Mann.
Lienhard keuchte entsetzt auf und Gertraud entfuhr erschrocken:
„Onjuk!"
Wichard erkannte jetzt die fremdländischen Gesichtszüge und die aufwendige Tracht des Soldaten und fragte schroff:
„Einer der Hauptmänner?"
Lienhard nickte.Wichard hob die Klinge, fest entschlossen, sie dem feindlichen Soldaten in die Brust zu stoßen. Es sah zwar ganz so aus, als wäre der Mann bereits tot, aber von Dühring war nicht willens ein Risiko einzugehen.
Gertraud sah es und rief entgeistert:
„Halt! Tut das nicht!"
„Er gehört zu unseren Todfeinden und er ist nicht hier, uns einen guten Abend zu wünschen!", entgegnete Wichard aufgebracht, hielt aber inne, ohne allerdings den Mann auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen.
„Er hat mich vor de Allinge gerettet!", wandte sie eindringlich ein.
„Aus reiner, christlicher Nächstenliebe, was? Der Bastard ist eine Gefahr! Für uns alle!", erwiderte Wichard kurz angebunden.
Gertraud war klar, dass das der Wahrheit entsprach, trotzdem konnte sie den Gedanken nicht ertragen, Sardori Onjuk hier sterben zu sehen.
„Ihr könnt doch keinen Wehrlosen erschlagen!", fauchte sie.
Ungerührt setzte Wichard erneut zum tödlichen Stoß an.
Da schrie die Markgräfin:
„Ich verbiete es!"
Sie sah Wichards Augen zornig funkeln, obwohl er den Blick nicht hob, um den Kumanen ja nicht unbeobachtet zu lassen. Vom Gesindehaus kamen mehrere Gestalten auf sie zugelaufen und der junge Gutsherr begann, sich etwas sicherer zu fühlen. Er atmete tief durch und ließ die Waffe ein wenig sinken.
Dann fragte er spöttelnd:
„Ihr verbietet es? Und was soll ich stattdessen mit ihm machen? Ihn schelten? Und ihn versprechen lassen, uns nicht zu verraten?"
„Gibt es nicht einen Karzer im Haus?", fragte sie.
Wichard dachte an die Arrestzelle unter dem Haupthaus, die seit Jahrzehnten wohl niemand mehr von innen gesehen hatte. Der Raum war gerade groß genug, dass sich ein nicht allzu großer Mann knapp darin ausstrecken konnte. Ein winziges, dunkles Loch. Und in welchem Zustand Tür und Schloss waren, wusste er auch nicht. Dunkel erinnerte er sich, dass in seiner Kindheit einmal ein betrunkener Randalierer dort zum Ausnüchtern festgesetzt worden war, aber ansonsten wurde auf dem Gut niemand gefangen gehalten.
Er blickte hinunter auf die Kopfwunde des Mannes und auf die Blutlache im Schnee.
„Brav getroffen, Beat", dachte er mit grimmigem Stolz.
So wie es aussah, war der Fremde schwer verletzt. Er hatte keinen Helm getragen. Nur eine Lederhaube. Wenn er nicht bereits tot war, würde er es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in ein paar Tagen sein.
„Wir haben einen Kerkerraum im Keller. Aber glaubt mir, Frau von Aven, der Mann wird eh sterben. Es wäre gnädiger, ihn nicht noch länger leiden zu lassen", antwortete Wichard und meinte das durchaus ehrlich.
„Er hat mich stets mit Respekt behandelt. Er ist kein schlechter Mensch!", erwiderte sie heftig.
„Wir sind im Krieg, Frau von Aven. Es fallen im Krieg nicht nur schlechte Menschen. Und dieser hier ist Offizier. Er würde jeden von uns töten, wenn der Befehl dazu kommt. Und das ohne mit der Wimper zu zucken", sagte Wichard fast schon sanft.
„Tötet ihn nicht. Ich bitte Euch", beharrte sie.
Von Dühring ging in die Hocke und fühlte nach der Schlagader des Mannes. Ein schwacher Puls war zu ertasten. Er lebte. Wichard seufzte.
Doch er ließ den feindlichen Soldaten entwaffnen und hinab in den Keller tragen. Während eilig die Gerätschaften, die jahrelang in dem kleinen Zellenraum gelagert hatten, hinaus geräumt wurden, besah sich von Dühring die niedrige Holztür. Sie machte tatsächlich einen stabilen Eindruck. Und er fand schon beim ersten Versucht den richtigen Schlüssel an seinem Bund. Jemand warf einen Arm voller Stroh in die dunkle Kammer hinein und die Männer ließen den Bewusstlosen darauf zu Boden.
In einer Ecke hatte einer der Knechte eine uralte, eiserne Fesselspange in noch tauglichem Zustand gefunden, in die Wichard die Handgelenke des Fremden einspannte, sehr zu Gertrauds Entrüstung.Die Blutung schien zum Stillstand gekommen zu sein, aber der Verletzte war inzwischen stark unterkühlt und seine Glieder eiskalt.
Wichard ließ nicht zu, dass jemand sich die Wunde ansah und versorgte, willigte aber schließlich ein, dem Mann wenigstens die Decke zu überlassen, die Melli geholt hatte und im Arm hielt. Er warf sie über den Mann, der noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit dalag, und trat als letzter aus dem winzigen Verlies heraus.
Dann schloss er die Tür. Ein handtellergroßes Guckloch war darin eingelassen. Wichard warf noch einen Blick hindurch, verriegelte und verschloss die Tür sorgfältig und zog mit seinem Stiefelabsatz eine Linie im großen Halbkreis in den staubigen Boden davor.
Dann sah er streng in die Runde und zählte seine Regeln auf:
„Keine Gespräche mit dem Gefangenen! Rein gar nichts wird hineingereicht! Rein gar nichts von ihm angenommen. Auf gar keinen Fall wird diese Tür geöffnet, ohne dass ich persönlich dabei bin. Und wenn ich jemanden dabei erwische, wie er oder sie diese Linie überschreitet, setzt es zehn Stockhiebe von meiner eigenen Hand! Ist das klar?"
Alles nickte.
Man begab sich wieder nach oben. Morgen, spätestens übermorgen, würden sie sich etwas einfallen lassen müssen, um die Leiche loszuwerden, dachte Wichard dabei noch, denn der gefrorene Boden verhinderte, dass man den Mann rasch irgendwo verscharren konnte.
Die Dienerschaft kam in der Küche zusammen, immer noch leise und erregt miteinander flüsternd und die Eheleute, Gertraud, Beat und Lienhard kehrten zurück ins Speisezimmer.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt