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Die nächsten Tage verließ die Markgräfin kaum ihr Zimmer. Melisande war die einzige, die sie hereinbat, wenn diese ihr eine Mahlzeit heraufbrachte. Dann saßen die beiden Frauen beisammen und Wichard, der ein ums andere Mal im Gang stand und verstohlen lauschte, hörte leise Gespräche und auch so manches Schluchzen.
Er war froh, dass Gertraud Mellis Zuspruch unbefangen anzunehmen vermochte und dankbar, dass seine Gemahlin nicht nur seinem Vater Trost und Beistand war, sondern nun auch ihrem Gast.
Eines Abends, als er mit seiner Kerze leise ins Schlafgemach trat, um zu Bett zu gehen, fand er seine Frau noch wach vor. Sie zog sich abends in der Regel vor ihm zurück und schlief meist schon, wenn er nachkam. Doch heute war sie noch auf und schien über etwas zu grübeln.
„Du schläfst noch nicht?", fragte Wichard leise und stellte sein Licht auf den Waschtisch, um sich rasch für die Nacht umzuziehen.
Melisande seufzte und fragte nachdenklich:
„Dieser Rupert... Gertraud lässt die Frage nicht los, was aus ihm wurde. Immer wieder kommt sie darauf zu sprechen. Ich würde ihr so gerne helfen. Kann man denn gar nichts tun, um den Menschen zu finden?"
Wichard blies die Kerze aus und kroch zu ihr unter das Federbett, froh über die Wärme, die ihn empfing.
„Oh! Ihr nennt Euch jetzt beim Vornamen?", fragte er überrascht zurück.
„Ja. Uns war es im Gespräch zuvor schon so oft herausgerutscht. Da hat sie es schließlich angeboten", flüsterte Melli und er konnte sie im Dunkeln bei diesen Worten lächeln hören.
„Das freut mich. Wie geht es ihr sonst?", wollte er weiter wissen.
„Na ja... Der Verlust lastet schwer auf ihr. Sie weint noch immer viel. Und immer wieder fragt sie sich, wo dieser Mann ist. Er war wohl ein Vertrauter und guter Freund ihres Ziehvaters. Wie ein Onkel für sie, sagt sie. Ich glaube, es wäre ihr ein wirklicher Trost und eine große Freude, ihn wohlbehalten wiederzusehen."
„Hm. So sehr ich ihr das auch wünsche... Wir können ihn kaum auf dem Markt ausrufen lassen. Weiß sie, wo seine Familie wohnt?", fragte Wichard nach.
„Nein. Nur soviel, dass er ursprünglich aus der Westhaidmark stammt."
„Das hilft uns nicht weiter, fürchte ich. Ist es nicht wahrscheinlich, dass er eh dorthin zurückgekehrt ist? Dann wäre er doch zumindest in Sicherheit", überlegte ihr Mann laut.
„Sie denkt, er ist noch hier. In der Stadt irgendwo. Und sucht sie womöglich. Könnte Lienhard sich nicht einmal umhören?", fragte sie.
„Lienhard sollte im Augenblick sehr vorsichtig sein. Das habe ich ihm neulich grad noch einmal klargemacht. Sie werden ihn vielleicht im Auge behalten und er tut gut daran, nicht durch irgendwelche Umtriebigkeit aufzufallen. Ich möchte ihm das nur äußerst ungern auferlegen", meinte ihr Mann zögerlich.
„Ja", hauchte sie und verstummte mit einem Seufzen.
Beide schwiegen eine Weile, bis Wichard schließlich gähnte und sagte:
„Ich fürchte, wenn dieser Rupert keinen Weg findet, sich uns zu offenbaren, können wir nichts tun."

Zum Monatswechsel hin wurde es Ende Februar etwas milder und Lienhard brachte einige der robusten, märkischen Pferde über die sonnige Mittagszeit hinaus auf eine der Koppeln, die sich an die Gärten der Burg anschlossen, damit die Tiere etwas Bewegung hatten.
Er war froh, selber auch wieder einmal aus der Burg heraus zu kommen und machte sich nicht gleich wieder auf dem Rückweg, sondern schlenderte noch ein wenig in der Stadt herum. Er wollte sich nach einer Bügelschere umsehen und beschloss, sich vorher eine Kleinigkeit zu essen zu besorgen. Die Preise für Lebensmittel waren stark gestiegen in letzter Zeit, aber er hatte noch einiges an Kupferpfennigen im Beutel.
Er hielt auf eine Bäckerei zu, die an der Ecke vom Kirchplatz lag. Direkt neben den schneebedeckten Ruinen der abgebrannten Stadtkirche.
Die meisten der einfachen Leute aßen Alltags Getreidebrei und Grütze, doch unter den wohlhabenden Bürgern gab es etliche, die sich auch Brot leisteten, welches die Bäcker in den Gemeinschaftsöfen der Stadtviertel backten. Lienhard lief beim Gedanken an die frischen Roggenstangen das Wasser im Mund zusammen.
Vielleicht konnte er für einen Heller zusätzlich noch eine Portion Schmalz oder Pflaumenmus darauf bekommen. Oder sogar beides.
In der Gasse neben dem Bäckereigebäude drängte sich eine Traube zerlumpter Menschen und der Junge warf neugierig einen Blick um die Ecke. Kjeld stand neben dem Seiteneingang und Lienhard fiel wieder ein, dass der Däne schon seit längerer Zeit mit der verwitweten Bäckersfrau eine Liebschaft hatte und diese auch unterstützte. Der blonde Söldner verteilte gerade aus einem Korb heraus in grobe Stücke zerteiltes, altbackenes Brot an die Frauen, Männer und Kinder, die sich mit ausgestreckten Händen um ihn scharten. Als er den Stalljungen gewahr wurde, lief er rot an und lächelte verunsichert.
Ein Mädchen mit zerschlissenem Mantel und Lumpenwickeln an den Füßen lief an Lienhard vorüber, die Hand fest um das ergatterte Stück Brot geschlossen. Und das glückselige Leuchten auf ihrem Gesicht, sprach Bände. Wie es aussah, war dies ihre erste Mahlzeit seit langem.
Lienhard hob kurz grüßend die Hand und nickte Kjeld zu. Dann betrat er die Bäckerei. Drinnen war es behaglich warm und er zog seine Fäustlinge aus. Seine linke Hand war noch immer verbunden.
Die Wunde hatte eine ganze Weile geeitert und heilte erst seit kurzem langsam ab. Doch auch wenn Schmerzen und Wundsein nachließen, das bloße Fehlen des Finger bereitete ihm nach wie vor eine Gänsehaut und er schauderte jedes Mal, wenn er unversehens daran erinnert wurde.
Im Laden duftete es verlockend. An einem Tisch stand eine große, nicht mehr ganz junge Frau mit vollen Lippen und einem auffälligen Muttermal auf der Wange. Das Kneten der schweren Teige hatte ihr die Oberarme und Schultern eines Ringers beschert. Sie kannte ihn vom Sehen her, wie viele in der Stadt, und fragte freundlich nach seinen Wünschen.
Da trat Kjeld aus einem mit einem Vorhang abgetrennten Durchgang zu ihnen herein.
„Grüß Dich, Lienhard", murmelte er und druckste eine Weile herum, während der Junge darauf wartete, dass die Frau sein längliches Stück Roggenbrot mit Butter bestrichen hatte.
Er bedankte sich, zahlte und wollte sie verabschieden.
„Du wirst doch in der Burg keinem erzählen, dass ich...", begann da Kjeld zögerlich.
„Nee, keine Sorge", beruhigte ihn der Junge und winkte ab.
Er hatte ganz sicher nicht vor, den gutmütigen Kerl in Schwierigkeiten zu bringen. Einen der wenigen des dänischen Haufens, den er wirklich mochte.
Kjeld griff in einen Tontopf im Regal hinter sich und holte einen Laib harten Käse heraus, von dem er ein großzügiges Stück abschnitt und Lienhard reichte.
„Das wär' nicht nötig gewesen", sagte Lienhard grinsend, „Aber ich nehm's trotzdem gern. Danke!"
Sie unterhielten sich noch kurz und als der Junge wenig später wieder auf die Gasse trat, ging er kauend im Windschatten der Gebäudereihe weiter, um in Ruhe und mit Genuss zu Ende zu essen.
Da blieb sein Blick an einem Fetzen hängen, der in Hüfthöhe an einer Hausecke flatterte. Hatte dort jemand ein Stück Stoff an den Balken genagelt? Er beugte sich herunter. Es war kein Stoff. Pergament war es, recht gutes noch dazu, erkannte er verdutzt. Und es war etwas darauf gezeichnet und geschrieben. Das weckte nun vollends seine Neugier. Irgendwie kam ihm der Anblick auch vage bekannt vor, aber im ersten Moment fiel ihm nicht ein, woher das rührte. Um beide Hände frei zu haben, klemmte er sich den Brotrest zwischen die Zähne und löste ruckelnd den kleinen Nagel aus dem Holz. Er glättete die zerknickte Tierhaut und als er sie von Nahem betrachtete, sog er erschrocken die Luft ein.
Denn ihm wurde mit einem Schlag klar, was er hier in Händen hielt.
Es war eines von Ruperts Rätseln.
Mit klopfendem Herzen steckte Lienhard den Zettel ein und blickte sich verstohlen um, doch niemand beobachtete ihn. Er überlegte fieberhaft und beschloss, zur Koppel zurückzukehren. Dort war er ungestört und hatte im Moment auch noch das knappe Tageslicht der mittäglichen Wintersonne zum Entziffern der Nachricht.
Im Laufschritt hetzte er zurück durch die Gassen und entdeckte, nun da er darauf achtete, weitere Pergamentzettel. Einen, der am Stamm eines Baumes befestigt war, riss er im Vorbeilaufen unauffällig ab und steckte auch ihn ein. Ein dritter hing am Fensterladen des Apothekerhauses, doch darum herum standen ein paar Männer im Gespräch und er eilte daran vorbei.
An der Koppel setzte er sich auf einen trockenen Zauntritt und nachdem er sich vergewissert hatte, dass er wirklich alleine hier draußen war, zog er die beiden Pergamentfetzen hervor. Auf beiden stand offensichtlich das Gleiche.
Er machte sich ans Entziffern der Buchstaben, doch obwohl er sich sicher war, fast alle zu kennen, ergaben die Wörter keinen Sinn.
Ein einzelnes W war noch zu erkennen, eine gezeichnete Sonne auf einem Stock. Oder war es eine Blume? Ein Männlein mit Stab und ein merkwürdiges Gestrichel am unteren Rand. Er zerbrach sich noch eine Weile den Kopf, kam aber zu keinem Ergebnis.
Die Markgräfin würde es wissen, dachte er. Er musste ihr das Pergament zukommen lassen. Und am besten rasch. Doch erst gestern war Kirchtag gewesen und er hatte sich mit dem Herrn von Dühring wie verabredet an der Sankt Anna Kapelle getroffen. Es würde jetzt fast eine ganze Woche dauern, bis er ihn wiedersah. Und er durfte nachts nicht wieder hinaus zum Gut. Das hatte er dem Herrn versprechen müssen.
Doch was, wenn es wichtig war, dass sie über den Inhalt des Schreibens so schnell wie möglich Bescheid wussten?
Grübelnd blickte er hinüber zu den Pferden. Er hatte sich am Tor abgemeldet. Sie wussten, er war mit den Tieren hier unterwegs und im Grunde erwartete ihn niemand eilig zurück. Was, wenn er einfach eines der Pferde nahm und im Bogen zum Gut ritt? Das würde trotz des Umwegs schnell gehen, wenn er das Tier antrieb. Und wenn ihn jemand fragte, konnte er sagen, das Tier musste wegen einer Gelenksteife dringend bewegt werden. Er konnte auf dem Rückweg auch noch die Schere besorgen, die er eben völlig vergessen hatte. Das sollte Ausrede und Erklärung genug sein, falls sich jemand überhaupt die Mühe machte, ihn zu überprüfen. Die Kumanen hatten eh nur ihren baldigen Rückmarsch im Kopf und achteten kaum mehr auf ihn. Und der Däne, bei dem er sich abgemeldet hatte, würde nachher von einer anderen Wache abgelöst worden sein. Sollte nicht irgendein Notfall eintreten und sie ihn unversehens brauchen, würde niemand ihn vermissen.
Noch einmal vertiefte er sich in die Notiz und dachte an Rupert. Seit sein Vater und Till fort waren, hatte er sich oft ein wenig einsam gefühlt und er erinnerte sich genau daran, wie sehr er sich über jedes Lob des freundlichen, ruhigen Mannes gefreut hatte. Er hatte gespürt, dass dieser ihn mochte und ihn gerne in seinem Bestreben unterstützte, zu lernen.
Und Lienhard beschloss, es zu tun. Für Rupert. Und auch für die Dame von Aven. Auch wenn ihm nur allzu klar war, dass er sich damit den Ärger des Herrn von Dühring zuzog.
„Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen. Es ist ja nicht der Ritter", dachte er dabei noch.
Eines seiner Lieblingstiere, ein stämmiger Apfelschimmel, stand ganz in seiner Nähe und Lienhard pfiff ihn heran. Er hatte keinen Sattel hier, wohl aber Zaumzeug und Zügel und so führte er ihn von der Koppel, schwang sich auf seinen Rücken und preschte bald durch die verschneiten Gärten in Richtung des Stadtrandes davon.
Von klein auf hatten er und Till die Pferde mit betreut und beide waren schon als Kinder sicher ohne Sattel geritten. Lienhard genoss es, den warmen Pferdeleib und das Spiel der kraftvollen Muskeln unter sich zu spüren. Und auch das Tier schien froh, endlich wieder einmal tüchtig ausschreiten zu können und flog nur so dahin.
Bald hatten sie das Waldstück hinter dem Gut erreicht, durch das Gertraud und Wichard vor kurzen in Richtung Rettow aufgebrochen waren.
Er stieg ab und klopfte dem Tier dankbar den Hals. Nach dem scharfen Ritt dampfte das schweißnasse Fell im Licht der bereits wieder sinkenden Sonne. Er musste sich beeilen. Lange durfte das Pferd nicht hier in der Kälte stehen, ohne dass er es trocken rieb.
„Ich bin gleich wieder da", raunte er ihm zu, rannte das letzte Stück über verschneites Feld hinüber zum Haus und klopfte nervös an der Hintertür.
Anna öffnete.
Lienhard grüßte und sagte:
„Ich muss dringend die Markgräfin sprechen."
Anna zögerte kurz. Doch sie kannte ihn ja und führte ihn schließlich nach nebenan, wo Gertraud und Melli im kleinen Speisesaal mit einer Näharbeit am Ofen saßen und sich leise unterhielten.
Dann ging sie rasch, um den jungen Herrn zu suchen und ihn über Lienhards Kommen in Kenntnis zu setzen.
Wichard war außer sich, als er hörte, dass der Junge am helllichten Tag zum Gut gekommen war, nachdem er ihm erst gestern an der Kapelle wieder eingeschärft hatte, sich bedeckt zu halten. Wütend stürmte er die Treppe herab, riss die Tür auf und holte schon Luft, um dem Jungen wegen dieses Ungehorsams zurechtzuweisen.
Da sah er das freudestrahlende Gesicht Gertrauds und hielt inne. Überglücklich blickte sie zu ihm auf, als er hereinkam.
„Stellt Euch vor! Lienhard hat ein Zeichen von Rupert gefunden!", sprudelte aus ihr heraus und ihre Freude war so echt und ging ihm derart zu Herzen, dass seinem Ärger auf der Stelle die Spitze abgeschlagen war. Seit Tagen hatte er sie nicht mehr lächeln sehen.
Trotzdem warf Wichard dem Jungen einen tadelnden, vorwurfsvollen Blick zu.
Der berichtete ihm kurz und beeilte sich, reumütig zu versichern:
„Ich bin zu Pferde hinten durch den Wald gekommen. Ungesehen. Ich schwör's! Hatte ein paar Tiere zum Bewegen auf der Koppel... Und ich äh... dachte... ich dachte, es ist vielleicht wichtig... Ich mach mich auch gleich wieder auf den Weg, Herr."
„Oh, Lienhard, das hast Du gut gemacht! Ich danke Dir! Ich wünschte, Du könntest bleiben, damit wir es zusammen lösen", meinte Gertraud selig und drückte seine Hand.
Lienhard wurde rot und erwiderte ihr Lächeln zaghaft.
„Ich konnt's nicht mal lesen... Ich... ich... muss auch wieder los... Das Pferd... Es steht kalt", murmelte er mit einem vorsichtigen Seitenblick auf Wichard, der ihn immer noch streng ansah und huschte mit einer Verbeugung hinaus.
Draußen vor der Tür aber zog er seine Mütze zurecht und konnte das zufriedene Grinsen, das in ihm aufstieg, nicht länger zurückdrängen. Er war erleichtert, das Richtige getan zu haben, auch wenn von Dührings Verärgerung deutlich zu spüren gewesen war. Aber die hohe Frau hatte sich so gefreut! Erfüllt rannte er zurück zu seinem wartenden Pferd und ritt auf den gleichen Schleichwegen zurück, die er gekommen war. Und als er am späten Nachmittag mit seinen Tieren zur Burg kam und das Tor passierte, nahm kaum jemand Notiz von ihm.
Währenddessen saßen Wichard, Melli und Gertraud im Licht einiger Kerzen über die beiden kleinen Zettel gebeugt um den Tisch herum.
„Und Ihr seid sicher, dass das von diesem Rupert stammt?", war Wichards erste Frage.
Gertraud nickte und erzählte mit leuchtenden Augen, wie sie damals von Lienhards erstem Bestreben das Lesen zu lernen zu den Ratespielen zu dritt gekommen waren.
„Genau solche Pergamentreste hat er dafür benutzt! Darauf hat er die Rätsel für Lienhard und mich geschrieben", sagte sie und stopfte hastig eine Haarsträhne zurück unter ihre Haube.
Dann zeigte sie auf die Striche am unteren Rand und fuhr fort:
„Und hier! Fünf Striche. Wie eine Hand. Die linke... Seht Ihr? Dann ein Stück frei. Daneben wieder ein Strich, Lücke und noch drei Striche. Das steht für seine rechte Hand! Ihm fehlt der Zeigefinger der Rechten. Das ist von Rupert. Da bin ich mir vollkommen sicher!"
Die Aufregung hatte ihr helle Röte ins Gesicht getrieben, bemerkte Wichard und als sich sein Blick mit dem Mellis traf, lächelten beide verstohlen. Sie waren beide gleichermaßen froh, ihren Gast so voller Eifer und frischem Mut zu sehen.
„Nun gut. Dann wollen wir uns daran machen, herauszufinden, was uns der Mann mitteilen will. Die Worte sind auf Latein... Ich muss gestehen, ich bin nicht allzu firm darin", begann Wichard etwas verlegen, „Irgendwas mit Pferden?"
Melisande fuhr mit dem Zeigefinger die Worte entlang und übersetzte:
„Sei gegrüßt, Tochter meines Herzens. Triff mich an der alten Ecke meiner Reiter."
Gertraud strahlte sie an und sagte anerkennend:
„Danke! So schnell wäre mir das nicht gelungen!"
Melli lächelte.
„An der alten Ecke der Reiter... Was soll das heißen? Neben den Stallungen? Alte Stallungen? Davon gibt es dutzende...", warf Wichard stöhnend ein und zog die Brauen zusammen.
„Rupert hat sich größte Mühe gegeben, alles zu verschlüsseln. Kaum jemand ist überhaupt des Lesens kundig und Latein beherrschen sicherlich noch weniger. Das Ganze soll nicht auf den ersten Blick für jedermann verständlich sein. Wir werden daher ein wenig um die Ecke herum denken müssen.", gab Gertraud ihm als Antwort und es klang ein ganz klein wenig gereizt.
„Das hier... Die Sonne... mit dieser Linie nach unten. Was, wenn das auf die Tageszeit hinweisen soll? Mittags. Wenn die Sonne senkrecht am Himmel steht", sagte Melli und sah die Markgräfin erwartungsvoll an.
Gertraud klatschte in die Hände und erwiderte freudig:
„Ich wette, Du hast recht! Melli! Du denkst geradeso wie er!"
Melisande errötete und spielte ihren Beitrag gleich wieder herunter, als sie Wichards leicht säuerliches Gesicht sah.
„Nur so ein Gedanke...", murmelte sie.
„Wenn es um Reiter... und Pferde geht... wäre dies wohl eher eine Frage für Lienhard", meinte Wichard seufzend.
„Mag sein, dass Lienhard etwas dazu einfällt... Aber bedenkt: Rupert weiß nicht, dass der Junge zu uns gehört und meinen Aufenthaltsort kennt. Er wird lediglich vermuten, dass ich nicht ohne Hilfe habe fliehen können und er hofft einfach, dass einer dieser Zettel irgendwie einen Weg zu mir findet. Das Rätsel wird in erster Linie auf mich gemünzt sein, denke ich", antwortete Gertraud.
„Reiter... Ritter... Vielleicht ein Hinweis auf Deinen Mann?", spann Melisande den Faden weiter, voller Eifer jetzt.
Doch während Gertraud noch über diese Worte grübelte, schüttelte Wichards Frau bereits wieder den Kopf und schloss ihre Vermutung selber aus.
„Nein, wohl eher nicht. „Equitum" ist Mehrzahl. Mehrzahl von Reiter. Und Deinen Mann gibt es ja nur ein Mal. Nehme ich an", sagte sie schmunzelnd.
„Oh ja! Er ist einmalig", erwiderte Gertraud mit schmachtendem Augenaufschlag und fügte hinzu, „Nicht wie wir beide, Melli."
Die beiden Frauen kicherten amüsiert und Wichard schüttelte Augen rollend den Kopf.
Eine Weile saßen sie danach schweigend weiter über die Zettel gebeugt da.
„Nun gut. Das „W" wird wohl für Westen stehen, aber fällt jemandem etwas zu dieser Figur ein? Ist das ein Stab? Oder ein Schwert?", begann Gertraud.
„Und was sind das für Knubbel daran?", meinte Melli nachdenklich und zeigte auf das obere Ende des Steckens, an dem fünf knollenähnliche Auswüchse zu sehen waren.
„Ein Pilger mit Stab vielleicht? Oder ein Heiliger? Soll das ein Heiligenschein sein oder nur eine Kapuze?", fügte Wichard stirnrunzelnd hinzu.
„Ach, Rupert, das Zeichnen ist leider wahrlich nicht Deine Stärke", seufzte Gertraud.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt