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Sie waren mit dem Handelstross gerade eine knappe Woche von Konstanz entfernt, als der korpulente Kommandant ihres Begleitschutzes Wichard am späten Nachmittag an ihrem Lagerplatz aufsuchte.
Der Trupp, den er befehligte, bestand aus einer bunt zusammengewürfelten Schar Bewaffneter, die Reisende sowie Kaufleute und ihre Güter auf ihren Handelsreisen beschützte und sich so ihren Lebensunterhalt verdiente. Es war ein überwiegend leutseliger, gutmütiger Haufen. Die Männer kannten die Wegstrecke, die besten Rastplätze und Wasserstellen und wussten auch, welcher der Händler und Gastwirte entlang ihrer Route Fremde gerne über den Tisch zog. Bisher hatten sie ihre Sache gut gemacht. Alles war sicher und planvoll abgelaufen und Wichard war des öfteren mit ihnen ins Gespräch gekommen und kannte auch den Kommandanten inzwischen recht gut.
Der Mann grüßte und bat Wichard auf ein Wort zur Seite.
Er kam gleich zur Sache:
„Wir werden verfolgt. Ein einzelner Reiter. In einigem Abstand. Aber beharrlich seit kurz hinter Konstanz. Keine wirkliche Bedrohung, aber ich würde ruhiger schlafen, wenn ich wüsste, was dahintersteckt. Ich stelle gerade ein paar Mann zusammen, die sich gleich darum kümmern. Ihr ward doch früher selber bei der Truppe. Wollt Ihr nicht mitkommen? Könnte lustig werden."
„Sicher", hatte von Dühring geantwortet und gegrinst.
Für ihn versprach dieser Ausflug eine willkommene Abwechslung zu werden, denn den ganzen Tag so eng und nur mit Melli zusammen zu sein, war ungewohnt. Und manchmal war ihm ihre ständige Aufmerksamkeit fast ein bisschen viel.
Als seine Frau erfuhr, was er vorhatte, erschrak sie und bat ihn, zu bleiben, doch Wichard hielt ihr ein wenig unwirsch entgegen:
„Lass gut sein, Melli. Ich will gehen und ich werde gehen. Denn dies betrifft auch Deine Sicherheit. Und es ist wahrlich nichts dabei, irgendeinem Landstreicher eine Lektion zu erteilen."
Dann sattelte er sein Pferd, band seinen Schwertgurt um und ritt hinüber zu den Wartenden.
Zusammen hatten sie dem unbekannten Verfolger aufgelauert. Und die kleine Gestalt war prompt in ihre Falle getappt. Wie ein blutiger Anfänger.
Denn das war er auch.
„Waffen runter! Das ist mein Neffe!", rief Wichard erschrocken, als der Verfolgte die Kapuze seines Mantel zurückschlug und er ihn erkannte.
Es war Beat. Frierend, hungrig und unendlich erleichtert, seinen Onkel unter den grimmig dreinblickenden Bewaffneten zu sehen, die ihn, wie es schien, aus dem Nichts heraus umstellt hatten.
Während die Männer der Schutztruppe lachend die Schwerter und Armbrüste senkten und sicherten, trat Wichard näher, griff in die Zügel von Beats Pony und sah ihn kopfschüttelnd an.
„Was machst Du denn hier?", fragte er besorgt und ahnte da bereits, was er zu hören bekommen würde.
Melli schlug entgeistert die Hände vors Gesicht, als sie sie zusammen im Lager ankommen sah. Doch sie war erleichtert, dass Wichard wohlbehalten zurückkehrte und auch froh, dass Beat heile bis hierher gekommen war. Sie umarmte den Jungen, was dem vor den gestandenen Männern, die sie noch umringten, ein wenig peinlich war.
Wenig später saßen sie an ihrem Kochfeuer und Beat schaufelte ausgehungert die dritte Schüssel Grütze in sich hinein.
Nebenbei erzählte er.
Wie sich herausstellte, hatte er sich nicht damit abfinden wollen, dass sein geliebter Onkel fortging und sich sein Traum von einem Leben als Krieger an seiner Seite zerschlug. Er hatte seine Eltern gebeten, mit in den Norden gehen zu dürfen, doch Vater und Mutter hatten natürlich nichts davon wissen wollen. Und während die Burg von Klingen noch Kopf stand in den Tagen vor der Abreise, saß ihr Sohn todtraurig auf seinem Bett und fasste klammheimlich einen Entschluss.
Zwei Tage nachdem Wichard und Melli aufgebrochen waren, gab er vor, mit einem Freund und dessen älteren Brüdern ein paar Tage auf die Kaninchenjagd gehen zu wollen. Und der Vater, froh darüber, dass sein Sohn, scheinbar endlich auf andere Gedanken kam, hatte dazu gerne seine Zustimmung gegeben.
Niemand achtete wirklich auf ihn. Wie so oft.
Also nahm Beat die großen Satteltaschen aus der Lederkammer, packte warme Kleidung, Decken und soviel Verpflegung wie nur irgend hineinpasste zusammen. Obenauf legte er sein Jagdmesser und eine Handvoll Drahtschlingen für die Kaninchenfallen, falls jemand noch einen Blick in seine Taschen werfen würde.
Und er stahl mit furchtbar schlechtem Gewissen etwas Geld aus der Börse seiner Mutter. In seiner Truhe daheim hatte er zudem einen Abschiedsbrief hinterlassen, in welchem er Vater und Mutter alles erklärte und den Diebstahl gestand, damit niemand anderes dafür bestraft wurde. Er bat seine Eltern um Verzeihung und versprach, das Geld zurückzuzahlen, wenn er eines Tages als erfahrener Krieger zurückkam.
Dann kehrte er seinem Elternhaus den Rücken. Er ritt nach Konstanz hinüber, fragte sich dort durch und folgte schließlich dem Handelstross nach Norden. Um nicht vorzeitig gesehen und zurückgeschickt zu werden, hielt er sich stets knapp außer Sichtweite. Bis man ihn dann doch entdeckt hatte. Viel länger hätte er sich auch nicht versteckt halten können, denn seine Vorräte waren fast aufgebraucht und er fror nachts erbärmlich ohne den Schutz eines Zeltes oder Unterschlupfs.
Inzwischen war es dunkel geworden. Beat kratze die letzten Reste aus seiner Schüssel zusammen, leckte feinsäuberlich den Holzlöffel ab und leerte seinen Becher Dünnbier. Dann sah er über die flackernden Flammen hinweg mit bangem Gesicht seinen Onkel an.
Der fragte streng:
„Und was machen wir nun mir Dir?"
Wichard hatte sich im Grunde bereits entschieden, ihn mitzunehmen. Denn alleine zurückschicken konnte er seinen Neffen jetzt nicht mehr. Aber er dachte, es würde Beat nicht schaden, wenn er ihn noch ein klein wenig zappeln ließ. Zur Strafe für die Sorgen, die er seinen Eltern zweifellos bereitete und die vielleicht in eben diesem Moment gerade erst die Wahrheit über seinen Verbleib herausfanden.
„Lass mich mitkommen, Onkel Wichard! Vater hatte doch auch erlaubt, dass ich mit euch nach Winterthur komme!", erwiderte der Junge flehentlich.
„Das ist etwas vollkommen anderes. Und das weißt Du auch. Außerdem hast Du gelogen, gestohlen und es an Respekt gegenüber Deinen Eltern mangeln lassen", zählte Wichard auf, „Ich bin mir nicht sicher, ob ich so jemanden unter meinem Dach wissen möchte. Ich hätte nicht übel Lust, Dich morgen früh gleich wieder fortzuschicken."
Beat war den Tränen nahe und bettelte:
„Bitte Onkel! Ich mache das doch alles wieder gut! Das verspreche ich!"
„Was meinst Du, Melli?", fragte Wichard seine Frau.
„Wenn Du ihn zurückschickst und ihm auf dem Weg etwas zustößt, machen wir uns ein Leben lang Vorwürfe. Und Regi würde nie wieder froh. Er ist ein guter Junge, das weißt Du doch, Wichard. Schick ihn nicht fort, ich bitte Dich. Er folgt Dir aus Liebe und Verehrung", sagte sie sanft und der Blick, den sie ihm zuwarf, schien zu sagen, „Genau wie ich."
Wichard seufzte hörbar.
„Na gut", sagte er endlich und Beat fiel so offenkundig ein Stein vom Herzen, dass es seinen Onkel Mühe kostete, jetzt nicht zu lächeln.
Doch dann fuhr er ernst fort:
„Hör zu, Junge. Ich billige nicht, was Du getan hast. Es ist nicht richtig, Deinen guten Eltern solchen Kummer zu bereiten. Aber wir nehmen Dich mit uns, denn das bin ich Deiner Familie schuldig und Deine selbstsüchtige Tat zwingt uns obendrein dazu. Denn nun trage ich die Verantwortung für Dich. Ich weiß, Du möchtest das Kriegshandwerk von mir erlernen, aber bedenke: Ich bin durch den Tod meines Bruders jetzt dazu verpflichtet, das Gut meiner Eltern zu führen. Und ich werde hart arbeiten müssen, weil ein Großteil unserer Knechte und Fronarbeiter zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Bis mein Herr von Aven vom Kreuzzug zurückkehrt und mich vielleicht wieder in seine Dienste nimmt, bin ich Gutsherr. Wie Dein Vater auch. Ist Dir das klar?"
Er sah Beat deutlich an, dass er diesen Umstand nicht wirklich bedacht hatte. Ernüchtert schluckte der Junge, nickte dann aber.
Wichard tat es in der Seele weh, die Enttäuschung auf dem Gesicht des Knaben zu sehen und er fügte tröstend hinzu:
„Wenn ich Ritter wäre und Du mein Knappe wärst, würdest Du die ersten Jahre nichts anderes tun, als meine Stiefel putzen, mein Sattelzeug fetten, meine Rüstung in Ordnung halten und mir bei Tisch aufwarten. Das ist auch nicht viel spaßiger als Obststiegen zu richten und Unkraut zu hacken, fürchte ich. Melli und ich werden Dich wie unseren eigenen Sohn bei uns aufnehmen und wenn es die Zeit erlaubt, will ich Dir gerne ein paar grundlegende Dinge beibringen. Mit dem Schwert und mit dem Messer. Dafür erwarte ich aber auch Gehorsam von Dir. Und, dass Du uns zur Hand gehst, wo Du kannst. Besonders Deiner Tante natürlich. Und im nächsten Frühjahr, wenn die Wege wieder offen sind, werden wir Nachricht an Deinen Vater schicken und uns beraten, was das Beste für Dich ist."
Beat sprang auf, lief ums Feuer herum und fiel erst Wichard und dann Melli um den Hals.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt