5

505 31 7
                                    


Gertraud bereute ihr unüberlegtes Vorgehen in genau dem Moment, da sie den sonnenüberfluteten Weg verlassen hatte und wie blind im Wald stand. Das dornenreiche Unterholz zerstach ihr die Beine und die nackten Füße. Am liebsten wäre sie umgekehrt, doch wollte sie sich ihrem Bruder gegenüber nicht diese Blöße geben.
Also biss sie die Zähne zusammen und tastete sich weiter. Abwechselnd spähte sie auf den unebenen Waldboden vor sich und dann wieder in das Dunkel, das vor ihr lag und sich nur langsam lichtete, als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Sie hörte dumpfe Schritte auf sich zukommen und das Stampfen und Schnauben eines Pferdes. Ihr Herz raste. Plötzlich fühlte sie weiches, feuchtes Moos unter ihren Fußsohlen, blieb einen Moment stehen und blickte sich um.
Jetzt sah sie ihn.
Wie groß er war.
Kein Bauer oder Köhler, wie sie gehofft hatte, sondern offenbar ein Adliger in schwerer Rüstung und mit dem Helm auf dem Kopf. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er sah sie direkt an. Es war niemand aus der Gegend und doch war ihr, als müsste sie ihn kennen. Sie erwiderte seinen Blick und lächelte ihn freimütig an.

Wie vom Donner gerührt blieb der Ritter stehen, als ihre Blicke sich trafen. Die Geräusche um ihn herum verstummten und die Zeit selber schien stillzustehen und den Atem anzuhalten. Dafür begann in seinem Innern eine Saite zu schwingen, die er nicht kannte. Von welcher er nicht einmal geahnt hatte. Erst zaghaft und tief, wie verstimmt, dann, wie unter dem Strich eines sanften Bogens, immer schneller und höher, sang diese Saite endlich in einem hellen Ton, bis jeder Winkel seines Geistes erfüllt war von diesem Klingen, das seine Seele wärmte. Er konnte den Blick nicht wenden und war unfähig, sich nicht rühren.

Der zurückgebliebene Paul lauschte indessen angestrengt in den Wald hinein, aber nichts war zu hören. Die Stille wurde immer unheimlicher.
Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und rief:
„Gertraud? Was ist denn?"
Das brach den Bann.
Gertraud lachte verlegen auf und sagte:
„Verzeiht, Herr! Wie ungehörig von mir, dazustehen und Euch anzustarren. Gott zum Gruß."
Sie verneigte sich und drehte sich dann zum Weg um, um Paul zuzurufen:
„Ich bin gleich da!"
Auch Hardrich erwachte aus seiner Starre und als sie sich zu ihm erneut zuwandte, hatte er sich wieder in der Gewalt.
Ärger keimte in ihm auf.
Wie konnte er sich derart gehen lassen! Stumm ging er weiter auf den Waldrand zu. Vergeblich bemühte er sich, das Klingen in sich zum Schweigen zu bringen, aber es blieb gegenwärtig. Hell und volltönend.
Rasch hatte er mit einigen großen Schritten Gertraud eingeholt, die mit ihren nackten Füßen langsam zurück durch das Gestrüpp stakste. Als sie gerade auf gleicher Höhe waren, trat Gertraud auf etwas Scharfkantiges am Boden, strauchelte und griff unwillkürlich nach seinem Arm. Er stützte sie und wieder traf sich ihr Blick. Einen Moment lang waren beide erneut gefangen in einem Zauber, der ihnen den Atem nahm.
Bis Gertraud zu sich kam. Flammende Röte schoss ihr ins Gesicht. Sie murmelte einen Dank und wollte sich rasch wieder auf den Weg machen, da fühlte sie sich von großen Händen an der Hüfte gepackt und hochgehoben. Als wäre sie ein kleines Kind, setzte der Ritter sie auf den Rücken des Pferdes.
„Herr...", entfuhr ihr erschrocken.
Sie wollte etwas erwidern, aber schon im nächsten Moment ging der Mann ohne ein Wort weiter und führte sein Pferd hinter sich her, so dass ihr nichts anderes blieb, als sich am Sattelzeug festzuklammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Paul stolperte drei Schritte rückwärts, als er die riesenhafte Gestalt aus dem Dickicht treten sah. Dann sah er seine Schwester, hoch zu Ross, die sich dicht an den Hals des Tieres schmiegte, um den Ästen auszuweichen.
Paul starrte sie an, riss die Mütze vom Kopf, verbeugte sich tief und stammelte:
„Hoher Herr..."
Der grimmig blickende Mann aber hatte sich bereits wieder abgewandt und hob Gertraud vom Pferd herunter.
Diese lächelte ihn schüchtern an und stellte dann sich und ihren Bruder vor.
„Mein Name ist Gertraud Kerner, und das ist mein Bruder Paul. Wir sind auf dem Rückweg zur Schenke unseres Vaters dort in Rettow", sagte sie und wies mit der Hand die Straße entlang, „Unser Wagenrad ist abgesprungen, aber es sind ja nur noch ein paar Meilen..."
Bei diesen Worten schlang der Ritter schweigend die Zügel seines Braunen um einem Ast und trat zum Wagen. Dann winkte er den Jungen heran und ließ ihn das Rad halten. Paul warf seiner Schwester verstohlen einen bangen Blick zu, die aber nickte zuversichtlich und sprang mit hinzu, um zu helfen.
Der Ritter fasste die Achse des Wagens und hob ihn in die Höhe, als wäre er ein Spielzeug. Gemeinsam schoben die Geschwister ächzend das schwere Rad zurück auf die Nabe und der Ritter ließ den Wagen langsam wieder zu Boden. Dann bestieg er sein Pferd, das unruhig tänzelte.
„So, Gertraud Kerner. Nun erweise Du mir einen Dienst und sage mir, in welcher Richtung die Gabelung nach Salin liegt."
Seine Stimme klang ihm fremd in den Ohren und drohender, als er gewollt hatte. Aber die junge Frau wirkte nicht ängstlich.
Sie neigte leicht ihren Kopf und lächelte wieder, als sie sagte:
„Der Weg nach Salin verläuft am unteren Ende dieses Waldes. Ihr müsst etwa zwei Meilen dem Weg folgen, den wir gekommen sind. Dann biegt Ihr links ab. Von dort sind es noch ungefähr sechs, vielleicht sieben, Meilen, nicht wahr?"
Sie sah Paul fragend an, doch der nickte nur scheu und brachte kein Wort heraus.
„Ihr werdet sicher noch vor dem Dunkelwerden dort sein. Und auch wir werden dann mit dem Wagen zu Hause eintreffen, dank Eurer Hilfe. Verzeiht meine Kühnheit, aber wem haben wir zu danken, Herr?", fuhr sie freimütig fort.
Paul stöhnte auf. Was fiel seiner Schwester nur ein? Ihre Respektlosigkeit würde ihnen beiden noch den Kopf kosten!
Der Mann aber schien eher nachdenklich als verärgert.
Er warf ihr noch einen letzten Blick zu, schüttelte den Kopf und sagte:
„Besser, Du weißt es nicht."
Dann trieb er sein unruhiges Tier an und preschte davon.Die Geschwister sahen ihm noch eine Weile nach, bis der aufwirbelnde Staub ihn ihren Augen entzog.
Paul seufzte erleichtert auf und schrie dann seine Schwester vorwurfsvoll an:
„Bist Du eigentlich noch ganz richtig im Kopf? Hast Du gesehen, wie er den Wagen angehoben hat? Er hätte dir mit einer Hand das Genick brechen können! Und Du schwatzt mit ihm wie mit Henning! Warte, wenn das der Vater hört! Dann bist du das letzte Mal mit in die Stadt gefahren!"
Sie aber lachte ihn aus:
„Ach, was Du immer hast. Er war doch sehr freundlich. Ich frage mich nur, wer es war. Hast Du den Goldring um seinen Helm gesehen? Sicher jemand von hohem Stand. Und nach Salin will er? Vielleicht weiß der alte Trettin, wer es gewesen sein könnte."
Lauthals spekulierend setzten sie ihre Fahrt fort. Langsam beruhigte sich auch Paul und konnte es schließlich kaum erwarten, nach Hause zu kommen. An diesen Abend würde er in der Schenke wieder viel zu erzählen haben.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt