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Licht schien gleißend durch Ritzen unterhalb des Daches ins dämmrige Innere des Schobers. Gertraud rührte sich. Noch fast gänzlich im Schlaf gefangen, öffnete sie blinzelnd die Augen.
Über ihrer Feuerstelle wirbelte die warme Luft feinsten Staub hinauf in die Sonnenstrahlen und sie betrachtete einen Augenblick lang dessen lautlosen Tanz.
Doch dann, noch bevor sie wirklich wach war und die fremde Umgebung um sich her erfasst hatte, drangen mit einem Mal schneidende Schmerzen in ihr Bewusstsein.
Ihre Füße! Was war mit ihren Füßen? Erschrocken krümmte sie sich auf ihrem Lager zusammen, langte nach unten, ihre Beine hinab, um nach ihren Zehen zu fühlen.
Da stieß ihr Gesäß gegen etwas Warmes, Nachgiebiges in ihrem Rücken und im nächsten Moment gewahrte sie das tiefe Atemholen eines anderen Menschen. Direkt hinter sich.
Mit einem entsetzten Schrei fuhr sie herum, hielt dann vollkommen fassungslos inne und keuchte:
„Wichard!?"
Doch der hatte wie ohnmächtig im tiefsten Schlaf gelegen und Mühe, auf ihren Schrei hin, zur Besinnung zu kommen. Während er sich aus seinem Tiefschlaf heraus kämpfte, war Gertraud bereits so gut wie wach und blickte sich entgeistert um.
Ein Schuppen. Ein Pferd. Und sie im Heu mit dem Hauptmann neben sich, den sie seit Monaten nicht gesehen hatte. Sie war zwar unbestritten froh, dass sie nicht jemand völlig Fremdes neben sich vorgefunden hatte, trotzdem rückte sie unwillkürlich ein Stück von ihm ab.
„Wo... wo sind wir? Was ist passiert? Und was macht Ihr denn hier?", entfuhr ihr und knetete fassungslos ihre schmerzenden Zehen.
Was, um Himmels Willen, war nur mit ihren Füßen geschehen?
Doch von Dühring schien noch immer nicht voll bei sich, denn er starrte sie vorerst nur an. Fragend und fast ein wenig bang.
„Wichard! Sagt mir sofort, was passiert ist!", beharrte sie und wurde jetzt ein wenig unwirsch, ob seines Schweigens.
Von Dühring war einerseits froh, dass sie zurück war und ihn erkannte. Doch andererseits stellte sich ihm jetzt die Frage, an was genau sie sich alles erinnerte und ob er nicht im nächsten Augenblick mit einer deftigen Ohrfeige rechnen musste.
Er hatte sich inzwischen aufgesetzt, kroch dann etwas umständlich um sie herum aus dem Heu heraus und stand auf.
Beschwichtigend hob er die Hände und sagte:
„Ich bring rasch das Feuer in Gang. Dann reden wir. Bleibt solange im Warmen liegen. Eure Füße waren stark unterkühlt. Daher die Schmerzen. Aber das kommt wieder in Ordnung. Keine Sorge, Frau von Aven. Versucht, sie ein wenig zu bewegen."
Gertraud zog also die Decke wieder hoch ans Kinn und rieb vorsichtig ihre Füße aneinander. Besonders die Zehen fühlten sich an, wie mit scharfen Klingen durchbohrt.
Sie stöhnte unterdrückt und beobachtete, wie der Hauptmann an der Feuerstelle hantierte und in die Glut blies. Wenig später züngelten die ersten hellen Flammen knisternd durch das aufgeworfene Heu und erfassten dann rasch die Holzstücke. Wichard blieb davor hocken und wärmte seine Hände. Er mied ihren Blick.
„Ihr habt... keine Erinnerung an das, was passiert ist?", fragte er.
Er bemühte sich, so gut er konnte, nach außen hin ruhig zu erscheinen, doch in seinem Inneren tobte es und er flehte zu Gott, sie möge die letzten Stunden im Drogenrausch vergessen haben.
„Oh bitte, lieber Gott! Bitte mach, dass sie nein sagt!", bat er inständig.
Mit starrem Blick in die Flammen und klopfendem Herzen erwartete er ihre Antwort.
„Nein", erwiderte sie schließlich und wunderte sich über die Anspannung in seiner Stimme und die offensichtliche Erleichterung, die sein Gesicht erhellte, nachdem sie geantwortet hatte.
Endlich sah der Hauptmann ihr in die Augen, atmete tief durch und fragte mit einem zögerlichen Lächeln:
„Was ist das Letzte, an das Ihr Euch erinnert?"
Gertraud runzelte die Stirn und überlegte angestrengt.
Dann antwortete sie stockend:
„Sie hatten mich hinaufgebracht. Die Kumanen, wisst Ihr? Aus dem Verlies im Turm hinauf in meine Gemächer. Dann irgendwann kam er herein. Der Khan... Mit noch drei Mann. Und er ließ etwas zu Trinken zubereiten. Und ich... ich habe es getrunken. Er hatte ja auch davon getrunken und da dachte ich, es wäre ungefährlich! Aber es muss etwas in der Tasse gewesen sein. Und dann... dann..."
Sie hielt inne, sah ihn verzweifelt an und fuhr fort:
„Großer Gott, Wichard! Was hat er getan? Sagt mir! Hat er... hat er bekommen, was er wollte?"
Von Dühring wich ihrem Blick aus.
„Ich glaube nicht", antwortete er dann verhalten.
Doch sein Zögern schien ihr genau das Gegenteil zu vermitteln.
„Sagt mir die Wahrheit! Ich bitte Euch. Ich kann mit allem leben. Nur nicht mit der Ungewissheit darüber!", bat sie ihn mit Nachdruck.
Wichard seufzte und antwortete:
„Ich kam durch die versteckte Tür herein. In seinem Rücken. Der Mann stand über Euch gebeugt da. Aber voll bekleidet. Ihr saßt auf dem Diwan vor ihm. Im Unterkleid, aber noch bedeckt."
Ihr Blick lag einen Moment lang forschend auf ihm, bis er hinzufügte:
„Ich glaube wirklich nicht, dass er Euch zu nahe getreten ist. Nicht näher, als dass er Euch die Hand auf die bloße Schulter legte. Und nun wird er Euch auch in Zukunft nichts mehr tun können, denn er ist tot."
„Tot?", fragte sie.
Er nickte und sagte:
„Ja. Durch meine Hand."
Da ließ sie sich aufatmend zurücksinken und sagte mit zittriger Stimme:
„Danke."
Kurz schloss sie die Augen.
Beide schwiegen einen Augenblick, bis sich ihr all die anderen, nächsten Fragen aufdrängten:
„Und dann? Was war dann? Wieso seid Ihr überhaupt hier? Und wo sind wir?"
„Ich weiß, die Fragen brennen Euch auf den Nägeln, aber wir sind noch nicht in Sicherheit. Wir sollten aufbrechen, sobald Ihr bereit seid. Ich erzähle Euch alles unterwegs."
Damit reichte er ihr ihre Strümpfe. Sie waren fast trocken. Eine Ecke des einen war leicht verkohlt, da sie zu nahe ans Feuer gehangen hatten. Während die Markgräfin mit zusammengebissenen Zähnen die Strümpfe über ihre schmerzenden Füße zog, entfernte Wichard bereits das feuchte Heu aus ihren Stiefeln. Sie waren noch nicht trocken, aber zumindest nicht mehr tropfnass. Bevor Wichard sie ihr reichte, polsterte er sie fürsorglich mit einer frischen Schicht trockenem Heu aus.
Dabei erzählte er ihr rasch das Wichtigste. Wie er den Khan getötet und im Treppenhaus versteckt hatte und wie sie beide mit Lienhards Hilfe das überschwemmte Teilstück des Ganges überwunden hatten und aus der Burg geflohen waren. Und wie sie auf dem Rückweg zum Gut hier Schutz vor der Kälte suchen mussten, weil sie beide am Ende ihrer Kräfte waren.
Danach prüfte er rasch die Lage draußen. Alles war ruhig. Die Sonne schien hell durch eine Schicht Hochnebel und die Luft war deutlich milder. Seiner groben Schätzung nach, war es etwa kurz vor dem Mittag.
Es war höchste Zeit, dass sie nach Hause kamen. Beiden waren noch immer geschwächt, doch ging es ihnen um einiges besser als noch am frühen Morgen.
Sie machten sich auf den Weg.
Der Wind hatte nachgelassen, trieb aber immer noch lockeren Schnee am Boden vor sich her und verwehte schon nach kurzer Zeit ihre Spuren. Wichard ritt zügig querfeldein und im Schutz kleinerer Waldstücke seinem Vaterhaus entgegen. Nicht eine Menschenseele begegnete ihnen.
Anfangs hatte er noch erzählt. Von seiner Rückkehr in die Ostmark und wie er die Verbindung zu Lienhard hergestellt hatte. Doch je näher sie dem Gut kamen, umso stiller wurde er. Jetzt würde geschehen, was er vor einem halben Jahr, als er das erste Mal bei seiner frisch angetrauten Gemahlin lag, für vollkommen ausgeschlossen gehalten hatte. Die beiden Damen würden aufeinandertreffen. Innerlich aufstöhnend, bereute er nun zutiefst, nicht im Vorfeld mit seiner Frau gesprochen zu haben.
Schließlich erreichten sie die Gärten des Gutes. Wichard stieg ab und führte Samson am Halfter mit sich. Durch eine Pforte und unter den zwei Reihen Obstbäumen hindurch zum Stall. Von weitem sah er Beat im Hof mit den beiden Jagdhunden seines Bruders im Schnee spielen.
Sein Neffe war also nicht nur wohlbehalten zurückgekehrt, sondern hatte die schlaflose Nacht im Freien offensichtlich auch bereits gut überstanden.
Wichard fiel ein Stein vom Herzen. Der Junge sah auf und sein Onkel hob grüßend die Hand. Beat kam auf sie zugelaufen. Mit roten Wangen und strahlendem Gesicht.
Doch Wichard rief ihm über den Hof hinüber zu:
„Lauf und sag Melli Bescheid, dass wir kommen!"
Und Beat nickte, machte kehrt und rannte zum Eingang des Herrenhaus zurück. Josef hatte wohl den Ruf gehört und trat neugierig aus dem Stall heraus. Er sah seinen jungen Herrn herankommen und riss erschrocken die Augen auf, als er erkannte, wen er da auf Samsons Rücken mitbrachte.Er riss sich die Mütze vom Kopf und verbeugte sich tief. Wichard übergab ihm die Zügel und half der Markgräfin vom Pferd.
Sie keuchte auf, als sie zu Boden glitt. Noch immer hatte sie starke Schmerzen und Wichard legte sich wortlos ihren Arm um die Schultern, damit sie sich auf ihn stützen konnte.
„Kommt. Nur noch ein paar Schritte. Dann sitzt Ihr am Feuer und wir können uns um Eure Füße kümmern", sagte er sanft.
Im Gehen befahl er dann an den Knecht gewandt:
„Versorg' erst Samson. Er stand lange kalt. Gib ihm auch von der Gerste. Er hat sich's verdient. Und dann rufst Du alle in der Diele zusammen. Ich will zu allen im Hause sprechen, Josef."
„Ja, Herr", antwortete der Knecht und hatte Mühe das Pferd zu halten, das mit aller Kraft zur Stalltür drängte, offensichtlich auch der Meinung, jetzt eine Karenz verdient zu haben.
Da öffnete sich die Haustür, durch die Beat eben hineingelaufen war und Gertraud sah eine Frau auf sie zueilen, einen warmen Schal eng um Kopf und Schultern geschlungen.
„Eure Gemahlin?", fragte Gertraud lächelnd und setzte wieder ächzend einen Fuß vor den anderen.
„Ja", erwiderte Wichard knapp.
Melli kam heran. Trotz der Erleichterung, die ihre Miene jetzt ausstrahlte, sah ihr Mann ihr an, wie sehr das bange Warten auf seine Rückkehr sie gequält hatte. Sicherlich hatte sie stundenlang gewacht. Betend und hoffend.
Er rang sich ein Lächeln ab.
Gertraud, die von Schmerzen gebeugt, neben Wichard her humpelte, richtete sich schließlich auf, um die Frau zu begrüßen. Mellis Schal glitt auf ihre Schultern herunter, als sie ihr die Hände entgegen streckte.
Und die Frauen sahen sich in die Augen und auf ihren Mienen breitete sich maßloses Erstaunen aus.
Beiden war, als sähen sie in einen Spiegel.
Auch Beat, der neben seiner Tante mitgelaufen war, stand mit offenem Mund da, den Blick auf die Markgräfin geheftet. Ein Moment lang herrschte fassungsloses Schweigen.
Dann, wie auf einen Befehl hin, wandten sich beide Frauen dem Hauptmann zu und starrten ihn an.
Die eine war erbost.
„Was ist das für eine Posse?", entfuhr es Gertraud scharf.
Sie entzog ihm ihren Arm und trat schwankend einen Schritt von ihm zurück.
Von Mellis Seite kam kein Wort. Unsäglicher Schmerz lag in ihrem Blick und in der bedrückenden, ohrenbetäubenden Stille um sie her, konnte Wichard fast hören, wie etwas in ihr zerbrach.

Die Tochter des BrauersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt