Kapitel 1

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Ich schaute zum Himmel, von dem die ersten kleinen weißen Eiskristalle fielen. Wahnsinn, wie lange war es schon her, dass es hier in Pott Schnee zu Weihnachten gab? „Mama, Snee!" Espi versuchte mit ihrer kleinen pummeligen Hand eine Schneeflocke zu fangen und strahlte dabei wie die Sonne höchstpersönlich. Ich lächelte. Ja, sie war ja auch mein kleiner Sonnenschein und hieß nicht umsonst Esperanza Salvadora Mercedes. Ja, der Name hatte für mich Bedeutung. Esperanza bedeutete Hoffnung. Die hatte ich zum Zeitpunkt ihrer Geburt mehr als nötig. Salvadora stand für Retterin. Und auch das traf zu, denn ich musste damals dringend gerettet werden. Und naja, Mercedes stand nicht für ihren Zeugungsort, wie Tessa dieses Schandmaul immer behauptete, sondern für die Gnädige. Denn ich hoffte, dass meine Tochter später einmal Gnade mit mir hatte, wenn sie von meinem früheren Lebenslauf erfuhr. Aber noch war es lange nicht so weit, denn sie war ja gerade erst 28 Monate alt und mein absoluter Augenstern. Ich kannte kein kleines Babymädchen, was so lieb, süß und verständnisvoll war wie meine kleine Espie. Okay, das klang nach ziemlich überzogenem Mutterstolz......aber hatte den nicht jede Mutter, die ihr Kind von ganzem Herzen liebte? Meine Kleine war einfach alles für mich.....und sie war mein helles Licht - meine Hoffnung - in einer ziemlich dunklen Zeit aus der sie mich gerettet hatte. Wahrscheinlich konnte ich in meinem ganzen Leben niemals so viel für sie tun, wie sie es für mich getan hatte, einfach nur weil sie geboren wurde. „Ja, Schnee, Espi!" Die Kleine versuchte erneut eine Schneeflocke zu fangen und verzog ihr Gesicht zu einem süßen Schmollmund, als sie ihre Hand öffnete und die Flocke schon geschmolzen war. Ich schob das Fahrrad neben mir her, in dessen Fahrradkindersitz sie saß. Es wurde wirklich mal Zeit, dass ich das Geld für ein Auto  zusammenbekam. Ja, aber das Geld fiel halt auch nicht vom Himmel. Klar, war meine Stelle als Übersetzerin gut dotiert und ich konnte mich absolut nicht beklagen, denn mein Chef brachte auch noch jede Menge Verständnis für eine alleinerziehende Mutter auf, was ja nicht überall der Fall war. Trotzdem verdiente man halt keine Reichtümer und vor nicht einmal drei Jahren hatte ich ja bei Null angefangen. Da gab es erst einmal so viele wichtigere Sachen, die es anzuschaffen galt, ehe ein eigenes Auto auf der Tagesordnung stand. Außerdem war ja das Strampeln auf dem Fahrrad auch gut gegen Cellulite und Fettpölsterchen, die sich in meinem doch langsam fortgeschrittenen Alter einstellten. Mit 37 war man halt keine 17 mehr und so manche Körperteile unterlagen einfach mal der Physik. Die Erdanziehungskraft war nicht zu leugnen. Störte mich das? Nicht im geringsten. In meinem früheren Leben hatte ich ständig nur auf meine Figur geachtet und versucht die entsprechenden Maße zu halten, damit ich Jobs als Model bekam......und später...... Nee, da wollte ich nicht mehr dran denken. Heute verdiente ich lieber mein Geld mit meinem Köpfchen und nicht mit meinem Körper. Das war beständiger, ganz abgesehen davon, dass ich auch wieder vernünftig essen konnte und nicht nur an Salatblättern lutschen musste. Mit Sicherheit würde ich dafür sorgen, dass meine Tochter auch lieber den Weg mit dem Köpfchen einschlug. „So, Espi, jetzt suchen wir uns einen schönen Weihnachtsbaum aus." Ich öffnete den Fahrradhelm von meiner kleinen Tochter und zog ihn ihr vom Kopf, ehe ich ihr durch ihre blonden Löckchen wuschelte und sie aus dem Sitz hob. „Jaaa, Weinatsbaum." Sie strahlte mich begeistert an und ihre himmelblauen Augen leuchteten. Dieses Jahr war wohl das erste, in dem sie Weihnachten ganz bewusst mitbekam. Deshalb hatte ich auch extra genug Geld zusammengespart, damit ich ihr nicht nur das Plüschschaukelpferd, das sie im Spielwarengeschäft so angehimmelt hatte, schenken konnte, sondern auch noch ein schöner Weihnachtsbaum drin war. In den letzten beiden Wochen hatten wir fast jeden Nachmittag damit verbracht schon einmal den Baumschmuck zu basteln. Na ja, eigentlich hatte ich mehr gebastelt, aber Espi hatte mir mit Begeisterung die Strohhalme gereicht aus denen ich die Sterne hergestellt hatte. Ja, unser Weihnachtsbaum würde etwas ganz Besonderes mit einer persönlichen Note, ganz bodenständig ohne Glitzer und Blinbling. Ich unterdrückte ein Glucksen. Das passte auch viel besser zu uns und unserem Leben.
„Na da habt ihr beiden Hübschen euch ja ein Prachtexemplar ausgesucht. Soll ich den einnetzen? Mit Schutz um den Stamm ist immer sicherer." Der Typ vor mir wackelte bedeutungsvoll mit seinen buschigen grauen Augenbrauen und zwinkerte mir zu. Da sprach wohl jemand nicht nur von Weihnachtsbäumen. Wie ich diese dämlichen Sprüche von diesen dämlichen Kerlen hasste. Dachten die eigentlich nur mit ihrem Sekundärhirn?  Und besonders die, die sowieso keiner mehr freiwillig anschaute, genau wie dieses Exemplar vor mir. Der brauchte garantiert keine Kondome sondern Rheumasalbe und ein neues Gebiss. „Und manchmal auch mit Tüte über dem Kopf und ohne Licht, damit man nicht vor Schreck wegläuft." Okay, der Spruch würde jetzt zwar nicht gerade dafür sorgen, dass der Preis etwas niedriger ausfiel, tat aber dafür meinem inneren Monk ziemlich gut. Nee, die Zeit in der ich mich für etwas Geld von Männern so behandeln ließ, war schon lange vorbei. Lieber verzichtete ich auf etwas. Mein Blick ging zu meiner Tochter, die von dem Ganzen nichts mitbekam und nur glücklich beobachtete wie unser Weihnachtsbaum durch den Trichter geschoben und mit einem Netz verpackt wurde.  „Hier, wer so eine große Klappe hat, kann den Baum ja auch alleine schleppen." Nachdem ich bezahlt hatte, bekam ich den Baum fast zugeworfen. Ich biss die Zähne zusammen und schnappte ihn mir. Nee, vor einem so ekligen, schmierigen Kerl würde ich mit Sicherheit keine Schwäche zeigen und um Hilfe bitten, dass er mir half ihn auf das Fahrrad zu hieven. „Fasst du mit an, Espi?" Sofort zuppelten die kleinen Hände meiner Tochter an dem Netz und wir zogen den Baum mit erhobenem Haupt zu unserem Fahrrad. Als ich ihn nach einigen Anläufen darauf festgebunden hatte, hob ich meine Tochter wieder in ihren Sitz und setzte ihr den Fahrradhelm auf, auch wenn ich das Rad nur schob. Ja, der Nachhauseweg würde etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen und auch das Schieben war mit Sicherheit eine ganz schön Anstrengung nicht nur wegen der Ladung, sondern auch wegen der Schneeschicht, die mittlerweile schon auf dem Gehweg lag. Ich zuppelte meine Wollmütze noch einmal zurecht, ehe wir uns in Bewegung setzten. „Espi, eins musst du dir merken, selbst ist die Frau. Männer sind nur überflüssiges Beiwerk und völlig überschätzt. Die braucht keiner wirklich." Meine Stimme war laut genug, dass sie auch dieser Idiot von Weihnachtsbaumverkäufer hörte. Meine Tochter nickte als hätte sie alles verstanden und hinter uns ertönte ein abwertendes Schnauben. „Feministische Kuh!" Ich grinste breit. Ja, ich war lieber eine feministische Kuh als das Spielzeug eines Mannes!

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt