Kapitel 105

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Ich schaute zu der Fassade des kleinen Einfamilienhauses vor mir, die in einem leuchtenden Gelb gestrichen war. Im Vorgarten blühten lauter bunte Blumen und alles sah irgendwie idyllisch aus. Das Haus hatte von außen keinerlei Ähnlichkeit mit der Villa in Oberkassel, in der ich mit meinen Eltern gewohnt hatte. Hier gab es keinen millimetergenau getrimmten Rasen und ordentlich geharkten Kies. „Na los!" Luca hatte seine Hand in meinen Rücken gelegt und schob mich in Richtung Gartentor, während Espie bereits davor stand. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Strauß mit selbstgepflückten Margeriten. Ich setzte mich langsam in Bewegung, nur mit einem größeren vom Floristen gebundenen Strauß in meiner Hand. Am Gartentor prangte ein blaues Keramikschild. In großen weißen Buchstaben stand dort Schulz drauf. Einfach nur der Name ohne Titel. Ja, so war mein Vater. Natürlich hatte er uns bei seinem Besuch gleich für das nächste Wochenende eingeladen. Die ganze Woche über hatte ich mich schon darauf gefreut und jetzt stand ich hier mit den Blumen in der Hand, während mein Herz vor Aufregung raste und traute mich kaum einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das war doch völlig dumm. „Mama!" Okay, selbst mein kleiner Sonnenschein wurde langsam ungeduldig. „Ja, wir sind ja gleich bei Opa Johannes", tröstete ich sie und beeilte mich dann doch zu ihr zu laufen. Selbst Luca, der zwar endlich seine Gehhilfen los war, aber immer noch langsam lief, war schneller als ich.  „Opa Oannes?" Espie strahlte mich neugierig an. „Ja habe ich da die Stimmen von meinen beiden Lieblingsmädchen gehört?" Mein Papa kam in kurzen Hosen auf uns zu und öffnete das Gartentor. Kurze Hosen! Da wäre meine Mutter im Kreis gesprungen. Kurze Hosen waren für sie der Untergang der Zivilisation. Männer hatten Hosen mit einer Bügelfalte zu tragen, die so scharf war, dass man damit auch sein Mittag hätte schneiden können. Der Verzicht eines Sakkos war auch nur bei Temperaturen über 30 Grad Celsius geduldet gewesen. „Lass das mal nicht deine Frau hören", rutschte es mir dann doch heraus. Papa grinste breit. „Wieso, sie weiß ja, dass sie meine Lieblingsfrau ist und dass ihr meine Lieblingsmädels seid." „Pappalapapp, Jo! Steh hier nicht so im Weg rum, ich will meine Kleine begrüßen." Die Frau, die sich an ihm vorbei drängelte und mich einen Augenblick später fest in ihre Arme zog, war wirklich unsere frühere Haushälterin. Ich erkannte sie sofort wieder. Und mir stieg ihr unverwechselbarer Duft in die Nase. Das war eine Mischung aus Vanille und Kokos, die mich früher schon immer an ihre selbstgebackenen Kekse erinnert hatte. Sofort stieg ein unglaublich behütetes Gefühl in mir auf....

Dicke Kullertränen liefen mir über meine Wangen. Mein Knie tat so doll weh und blutete. „Stell dich nicht so an. Ein Indianer kennt keinen Schmerz." Ich war aber nicht Winnetou, ich war doch nur Genia. Meine Mutter griff den Roller, mit dem ich gerade gestürzt war und stellte ihn wieder auf. „Los, wer stürzt, muss gleich wieder weiterfahren. Oder ich bringe den Roller zurück ins Geschäft." Nein, ich wollte meinen Roller behalten. Während ich zu ihm humpelte, klingelte Mamas Telefon. „Ich gehe kurz rein und du übst weiter", bekam ich die Anweisung, während sie schon davon stöckelte. Ich nickte nur und biss meine Zähne zusammen, während mein Knie wie verrückt pochte.  „Genia, was machst du denn alleine hier draußen und was ist mit deinem Knie passiert?" Papa war aus dem Haus gekommen. „Ich habe ganz doll Aua!" Wieder begannen meine Tränen zu laufen. Sofort hob er mich auf den Arm und trug mich ins Haus. „Frau Kowalski, wir müssen hier ganz dringend eine Erste-Hilfe-Versorgung vornehmen. Können Sie mir helfen." Unsere Haushälterin zog mich sofort auf ihren Schoß und streichelte mir über das Haar, während Papa mein Knie säuberte und verpflasterte. Ich kuschelte mein Gesicht in Frau Kowalskis Pulli. Mm, sie duftete genauso lecker wie ihre selbstgebackenen Kekse.....

Ja, und zum Trost hatte ich dann auch noch Kekse bekommen. Damals war alles so einfach. Man aß einfach ein paar Kekse und dann war alles vergessen. Wenn das doch immer so einfach im Leben wäre. Wir lösten unsere Umarmung und sie hielt mich etwas auf Entfernung, um mich genau zu betrachten. „Du hast dich kaum verändert. Nee, das stimmt nicht, du bist noch hübscher geworden." Gerührt räusperte ich mich. „Sie auch, Frau Kowal....ähm Schul...ähm..." Ich brach ab. Verflucht, ich wusste nicht, wie ich sie ansprechen sollte. „Also erst einmal lässt du ganz schnell das Sie, schließlich bin ich deine Stiefmutter. Und dann bin ich die Alex. Ist das klar?" Ich nickte und bekam einen Kuss auf jede Wange. „Mädchen, du glaubst ja gar nicht, wie dein Vater und ich uns freuen, dass wir dich wieder haben." Sie ließ mich los und wandte sich Luca zu. „Hallo, ich bin Alex und du musst der junge Mann sein, dem wir unser Glück zu verdanken haben." Frau Kowals...ähm Alex zog auch ihn in eine herzliche Umarmung, während Espie bereits bei meinem Vater auf dem Arm thronte und er ihr einen kleinen Vortrag über die Blumen in ihrer Hand hielt. Wie gut, dass sich auch manche Dinge nie änderten. Hinter meinem Papa war ein Junge mit rötlichen Haaren und jeder Menge Sommersprossen im Gesicht aufgetaucht. Er musterte mich neugierig. „Dann musst du wohl mein Bruder Ben sein?" Ich machte einen Schritt auf ihn zu und erntete sofort ein enthusiastisches Nicken. Ehe ich mich versah, kam er auch auf mich zugelaufen und wir umarmten uns. „Du bist schon ganz schön groß", stellte ich überrascht fest, da er schon fast meine Größe hatte. „Wo willst du denn hin wachsen? Willst du etwa Basketballer werden?" „Nein!" Das hörte sich total empört an. „Ich will Fußballer werden." „Dann bist du doch bestimmt Fan vom geilsten Verein der Welt?" Ja, ich hatte zwar keine Ahnung von Fußball, aber sooft wie ich Tessa das schon sagen hören hatte, konnte ich ja jetzt als megacoole Schwester damit punkten. Na das würde ja Tessa freuen, wenn ich es ihr erzählte. Bestimmt ließ sich da etwas machen und sie konnte dafür sorgen, dass ich mit meinem Bruder eine spezielle Stadionbesichtigung bekam. „Meine Freundin und ihr Mann spielen nämlich beim BVB." „Igitt Zecken!" Ben verzog angeekelt sein Gesicht und ich schaute mich verwirrt um. Wo sah er hier Zecken? Die hingen doch an Grashalmen und Sträuchern. Hinter mir ertönte Lucas Lache. „Dann stehst du wohl mehr auf Königsblau als auf schwarzgelb." Wieder schüttelte Ben angewidert den Kopf. „Ich bin Bochumer." Musste ich dieses Gespräch gerade verstehen? „Ich auch. Mein Vater und ich haben dort mal gespielt. Er und meine Schwester sind beim VFL als Trainer und meine Nichte spielt dort in der Mädchenmannschaft." „Ehrlich?" Mein Bruder begann zu strahlen und ließ mich einfach stehen, weil er zu Luca lief. So schnell war man dann als Schwester wieder abgemeldet, wenn es um Fußball ging. Vielleicht war es wirklich mal an der Zeit sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt