Kapitel 77

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Ich rutschte auf dem Plastikstuhl herum und schaute zu meiner Tochter, die seelenruhig in einem der Kinderbücher herumblätterte, das hier im Warteraum herumgelegen hatte. In solchen Augenblicken wünschte man sich doch Kind zu sein. Da war alles noch so einfach. Da sah man nicht die möglichen Gefahren oder Auswirkungen. Man beschäftigte sich nicht mit dem, was wäre wenn, sondern nur mit dem, was war.....und auch nur mit dem, was gerade war.....und das war für Espie das Buch mit den vielen bunten Bildern. In meinem Kopf spielte sich dagegen ein ganz anderer Film ab. Nur mit dem Unterschied, dass mich diese Bilder von Minute zu Minute unruhiger werden ließen. Verflucht, wie lange war Luca jetzt schon in diesem OP? Ich zückte meine Handy und schaute auf die Liste. Er hatte mich vor über zwei Stunden angerufen. Was Bitteschön operierten sie so lange? War er so schwer verletzt? Man hatte mir ja keine Auskunft gegeben, weil ich nur seine Freundin und nicht Familie war. Ich musste an den skeptischen Blick der Krankenschwester denken, als sie mich von oben bis unten gemustert hatte. Wahrscheinlich hätte sie mir eher Auskunft erteilt, wenn ich gesagt hätte, ich wäre seine Mutter. Manno, warum war ich nicht früher auf die Idee gekommen? Und jetzt saß ich hier und hatte keinen blassen Schimmer, wie es ihm ging. Hoffentlich kam Lisa bald, die ich in meiner Verzweiflung angerufen hatte. „Da bist du ja!" Wie auf Kommando kam sie durch die Tür auf mich zu gerauscht und umarmte mich. „Hast du schon etwas gehört?" Ich schüttelte den Kopf. „Mit mir redet ja keiner." Man, hörte sich das jämmerlich an, genauso jämmerlich, wie ich mich fühlte. „Mit mir müssen sie reden." Ehe sie sich auf den Weg machen konnte, kam auch Leon in den Warteraum gerannt und sein Blick streifte mich. „Was macht die hier?" „Die hat einen Namen und der ist Genia.", fuhr ihn Lisa kopfschüttelnd an. „Wie du weißt, war es Genia, die mich informiert hat, dass Luca im Krankenhaus ist. Unser Sohn hat uns ja wegen deinem ganzen Holzkopftheater nicht selbst angerufen." Leon zuckte bei der Ansprache seiner Frau merklich zusammen. „Wo ist der Arzt?", wandte er sich fast schon freundlich an mich. Ich deutete mit meinem Finger zu dem Tresen, der sich etwas den Gang runter befand. „Da sind die Schwestern." Er schüttelte den Kopf. „Ich will keine Schwester, sondern den Arzt sprechen." Mit schnellen Schritten setzte er sich aber trotzdem in die Richtung in Bewegung.  „Sorry, er hat deinen Anruf mitbekommen und ließ sich nicht mehr abschütteln." Ich winkte ab. „Er ist sein Vater. Er hat jedes Recht der Welt hier zu sein." Und das meinte ich auch so. Manchmal fragte ich mich, was ich falsch gemacht hatte, dass mein Vater mich so aufgegeben hatte. Man sollte seinem Kind doch immer irgendwie vergeben können.

Ich saß an dem festlich gedeckten Tisch, den Paula für mich vorbereitet hatte. Ja, heute war mein Geburtstag. Mein sechsundzwanzigster. „Happy Birthday, meine Süße." Meine Freundin umarmte mich herzlich. „Ich hoffe, der Kuchen gefällt dir." Ich musste grinsen. Und ob er mir gefiel. Ich wusste ja, dass backen nicht so Paulas Spezialdisziplin war. Und das sah man dem Napfkuchen mit den Kerzen darauf auch an. Unter seiner dicken Schokoglasur versteckte sich garantiert verbrannter Teig. Aber der Gedanke zählte und das war das Wichtigste. Ich dachte an die Geburtstagskuchen, die ich noch bis vor zwei Jahren bekommen hatte. Frau Kowalskis Kuchen waren immer eine wahre Augenweide. Ich musste schlucken. Irgendwie vermisste ich unsere liebevolle Haushälterin immer noch.....und meinen Papa. „Hat er sich wieder nicht bei dir gemeldet?" Scheinbar konnte Paula meine Gedanken lesen. Ich schüttelte den Kopf. Nie hätte ich gedacht, dass sich mein Papa auch so von mir lossagte, nur weil es ein paar Nacktfotos von mir gab. „Hast du dich denn schon einmal bei ihm gemeldet?" Wieder schüttelte ich den Kopf. „Warum sollte ich? Er hat sich doch auf die Seite der Furie gestellt." Okay, ich versuchte mich mit meiner Bockigkeit vor diesem fiesen Gefühl zu schützen, dass ich selbst daran schuld war. Und noch mehr versuchte ich mich damit davor zu schützen, mir einzugestehen, dass ich meinen Papa über alles vermisste und dass ich maßlos von ihm enttäuscht war. 

Und wenn ich ehrlich war, vermisste ich ihn heute immer noch. Nein, fast noch mehr. Gerade in solchen Momenten wie jetzt, denn bei mir würde es niemanden geben, der besorgt ins Krankenhaus geeilt käme, wenn ich jetzt dort im OP liegen würde. Und es würde auch niemanden geben, der wie Leon gerade versuchte alle Hebel in Bewegung zu setzen, um etwas von den Ärzten zu erfahren. Ich könnte hier ganz alleine verrotten und das würde niemanden aus meiner Familie interessieren. Das war kein schönes Gefühl. „Und wisst ihr schon was?" Lucy war auch in den Warteraum gestürzt gekommen. Sie hatte Paolo auf dem Arm und schaute ihre Mutter fragend an. „Er ist noch im OP. Es ist gerade kein Arzt zu sprechen." Leon setzte sich unzufrieden auf einen der Plastikstühle. „Dann müssen wir wohl warten." Lucy setzte Paolo auf der Erde ab und ließ sich auf dem Stuhl neben Lisa nieder. „Was ist denn überhaupt passiert?" Alle Blicke lagen auf mir. „Luca hat mir nur gesagt, dass er von einem Auto angefahren wurde." Das dramatischere Abrasiert, hatte ich etwas entschärft. „Das ist doch alles nur ihre Schuld!", grummelte Leon unüberhörbar und es war wohl allen klar, wen er mit ihre meinte. „Na,des is fei ganz aloi dei Schuld, wois die wie a depperter Kaschper b'nomma  hoscht", platzte es aus Lisa heraus und sie schaute ihren Mann wütend an. „Ich..." „Du hast Luca den Unterhalt gestrichen und niemand sonst", unterbrach Lucy ihren Vater und sah ihn genauso sauer wie ihre Mutter an. „Ja, aber..." „Nichts aber", schritt Lisa wieder ein. „Dieser Mist hat jetzt ein Ende. Du akzeptierst jetzt gefälligst, dass Genia die Frau an der Seite unseres Sohnes ist und der Unterhalt wird auch wieder überwiesen." „Oder willst du dafür verantwortlich sein, dass ihm noch mehr passiert." So wie Leon von seiner Frau und Tochter angegangen wurde, konnte man fast Mitleid mit ihm haben. Er schüttelte nur den Kopf und starrte vor sich hin, als ein lautes Räuspern zu hören war. Unsere Köpfe gingen alle nach oben und vor uns stand ein junger Mann im weißen Kittel, der uns allen nicht unbekannt war. „Max!" Lisa war von ihrem Stuhl aufgesprungen. „Was ist mit Luca?" Die Frage lag uns wohl allen auf der Zunge.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt