Kapitel 48

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„Tante Genia!" Julia kam auf mich zugerannt und umarmte mich stürmisch. Wie lange war ich schon nicht mehr bei Paula und ihrer Familie zu Besuch gewesen? Viel zu lange, um ehrlich zu sein. Und warum? Also nicht, weil ich so viele lohnenswerte Aufträge hatte und durch die Weltgeschichte reiste, wie ich es allen Glauben machen wollte. Nein, meine Realität sah leider völlig anders aus. Mit 32 war man nicht mehr unbedingt das gefragte Model. Es sei denn, es ging um Antifaltencreme und Haartönungen gegen die ersten grauen Haare. Ja, ich hatte eine gewisse Altersgrenze überschritten und nicht im geringsten mit diesen Auswirkungen gerechnet. Nein, meine momentane Situation hatte ich wirklich nicht erwartet. Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass das noch ewig so weiterläuft und jetzt befand ich mich in einem gewissen Existenzkampf. Das würde ich mir aber heute nicht anmerken lassen, wenn ich hier zu Besuch war. Ich drückte mein Patenkind herzlich an mich und hauchte ihr einen Kuss auf ihre kurzen Haare. „Hallo, du Gurke! Schön, dass du heute mal Zeit gefunden hast." Paula war hinter ihrer Tochter aufgetaucht. Ich nahm ihren prüfenden Blick wahr. Sie scannte mich einmal von oben bis unten, ehe sie mich zur Begrüßung in ihre Arme zog. So wie sie mich angeschaut hatte, würde es schwer werden ihr glaubhaft zu machen, dass bei mir alles gut lief und es mir hervorragend ging. Dazu kannte mich Paula einfach zu gut. Trotzdem musste ich es probieren. Das war einfach zu wichtig. Nein, sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. „Alles okay bei dir?" Okay, da war schon die erste Frage, die von einem besorgten Blick begleitet wurde. „Ja, wer ist denn da? Ist das mein kleiner Freund Henry?" Ich beugte mich zu dem kleinen Kerl hinunter, der seiner Mutter hinterher getappert war. Als Antwort bekam ich nur einen irritierten Blick und er klammerte sich an das Hosenbein seiner Mutter. Okay, verübeln konnte ich es dem Kleinen nicht, so selten wie ich mich hier in den letzten zwei Jahren hatte blicken lassen, kannte er mich ja kaum. Das war bei Julia anders. Sie war ja auch schon etwas älter. „Tante Genia, gibt es zu meiner Einschulung auch wieder Ponys und einen Clown?" Ja, das hatte mir damals irgendwie bei ihr einen kleinen Heldenstatus eingebracht. „Oder kaufst du mir so ein Pony? Eins um das ich mich immer kümmern kann?" Oha, da hatte jemand mit seinen fünf Jahren aber Ansprüche. „Sag mal spinnst du?", fuhr Paula ihre Tochter sofort an. „Ein Pony ist viel zu teuer. Und gebettelt wird hier schon einmal gar nicht." Meine Freundin schüttelte fassungslos ihren Kopf und schaute mich entschuldigend an. Julia zog eine Schmollschnute. Ob meine Carmen wohl auch Reitstunden hatte? Wenn sie bei mir gewesen wäre, hätte ich meiner Tochter auch versucht ein Pony zu kaufen. Die Gedanken an meinen Kontostand bremsten mich aber bei einer entsprechenden Zusage meinem Patenkind gegenüber aus. Nee, so wie ich bei der Bank in der Kreide stand, brauchte ich nicht einmal daran denken. So ein Pony kostete doch garantiert einige tausend Euro. Ich war schon zufrieden, wenn ich überhaupt meine Miete für den nächsten Monat zusammenbekam. Trotzdem wollte ich die Kleine nicht enttäuschen. „Was hältst du davon, wenn ich dir erst einmal ein paar Reitstunden bezahle und wir zusammen in den Reitstall gehen." Dieses  Versprechen, schien sie zu überzeugen, denn sofort tauchte ein strahlendes Lächeln in ihrem Gesicht auf. „Versprich nichts, was du nicht halten kannst", warnte mich meine Freundin mit einem ernsten Blick. Ja, seit ich sie damals einfach mit dem Geburtstag von Julia im Stich gelassen hatte, war ihr Vertrauen in meine Versprechen etwas geschrumpft. „Keine Angst, ich gehe mit Julia reiten und nächste Woche gehen wir erst einmal zusammen Reitsachen kaufen", setzte ich noch einen drauf. Ich hatte zwar noch keinen wirklichen Plan, wie ich das finanzierte, aber mir würde da schon etwas einfallen. Wenn ich mehr von den Pillen an den Mann brachte, war das doch eigentlich kein Problem.....

Ganz vorsichtig klopfte ich an die Tür von Lucas Zimmer und wartete auf eine Reaktion, während ich auf den Teller mit dem Kuchen in meiner Hand starrte. Ehrlich gesagt hatte ich noch keine Ahnung, was ich sagen sollte, wenn sich de Tür gleich öffnete. Ich war mir ja noch nicht einmal ganz im Klaren, was da vorhin passiert war. Ich wusste nur, dass wir darüber sprechen und es klären mussten. Manno, warum machte Luca denn die Tür nicht auf? Nee, so einfach würde ich ihn damit nicht durchkommen lassen. Entschlossen drückte ich die Türklinke herunter und drückte die Tür auf. Das ganze Zimmer war dunkel, nur ein kleiner Lichtschein fiel von der Laterne unten vor dem Haus herein. „Hör auf zu schmollen, wir müssen reden", warf ich in die Dunkelheit, bekam aber keine Antwort. Das war doch echt lächerlich, dass er sich hier wie ein Kleinkind benahm. Nicht einmal Espie war so uneinsichtig. „Na gut, wenn du es nicht anders willst!" Wutentbrannt drückte ich den Lichtschalter und schaute zum Bett, wo ich den schmollenden Luca vermutete. Da war aber niemand. Genau wie im restlichen Zimmer. Verflucht, wo steckte der Kerl? Na wenigstens lag ich dann aber mit meiner Schmollvermutung falsch, wenn er gar nicht hier in seinem Zimmer war. Das ließ mich wenigstens erst einmal aufatmen. Vielleicht stand ja dann einem vernünftigen Gespräch unter Erwachsenen doch nichts im Weg. Wahrscheinlich war er gerade ins Bad gegangen als ich in der Küche den Kuchen holen war und ich hatte es nicht mitbekommen. Irgendwie war es aber auch blöd jetzt hier wie bestellt und nicht abgeholt zu warten. Ich drehte mich um und lief Richtung Küche. Hä! Ich drehte mich noch einmal um und starrte zu der offenstehenden Badtür und dem dunklen Raum dahinter. Also im Bad war Luca definitiv nicht. Schnell lief ich noch einmal zu Espie und linste durch den Türspalt. Da waren nur die leisen Atemgeräusche meiner Tochter. Okay, dann blieb nur noch das Wohnzimmer. Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg. Nein, auch hier war niemand. Ich stellte den Schokokuchen auf dem Tisch ab und ließ mich auf das Sofa plumpsen. Verflucht nochmal, wo war Luca hin? Ich hatte plötzlich das Gefühl eine ganze Steinformation bildete sich in meinem Magen. Er würde doch nicht etwa etwas Blödes anstellen...

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt