Wahrscheinlich war das wirklich so. Meine Mutter war die durchgeplanteste Frau, die ich jemals kennengelernt hatte. Sie vergaß oder übersah nie etwas. Nein, das passte nicht zu ihr. Auch nicht, dass sie dachte, dass sie unsterblich war. Wahrscheinlich hatte sie sogar schon ein Testament in ihrer frühesten Jugend aufgesetzt, um festzulegen, wer im Fall der Fälle ihre geliebte Barbie Puppe erbte......obwohl, wahrscheinlich gab es nie eine Puppe, sondern eher einen Taschenrechner, den sie zu vererben hatte.„Bärbel, merke dir eins. Man muss immer im Leben den anderen einen Schritt voraus sein, wenn man Erfolg haben will. Nur wenn du weißt wo du hinwillst, dann kannst du auch dafür sorgen, dass du als erster dort am Ziel bist und die anderen erst nach dir ankommen." Ich nickte Mama zu. Ja, das klang logisch. In der Schule war das ja auch so, wenn wir Leichtathletik machten. Da visierte ich auch immer das Ziel schon vor dem Startzeichen an. „Ich weiß, dass du irgendwann deine Chance nutzen und mich stolz machen wirst. Du bist schließlich meine Tochter und wir funktionieren beide gleich." Wieder nickte ich. „Und vergiss nicht, ich habe dich lieb und will nur dein Bestes."
Wenn das wirklich so war, dann hatte meine Mutter eine seltsame Art besessen das zu zeigen. Aber in mir wuchs immer mehr die Auffassung, dass das fehlende Testament wirklich Absicht war. Nein, sie hätte es nicht dem Zufall überlassen. Wollte sie damit etwas wieder gut machen? Nein, das war Quatsch, eine Birgit Schulz machte ja keine Fehler. Wahrscheinlich wollte sie etwas anderes damit erreichen. Na klar! „Das kannst du total vergessen, dass ich jetzt doch noch in deine Fussstapfen trete und du deinen Kopf doch noch durchsetzt", brüllte ich den Grabstein an. „Du wusstest genau, dass mich deine Firma nie interessiert hat, weil sie unsere ganze Familie kaputt gemacht hat. Es gab ja nur diese Scheißfirma für dich. Alles andere war unwichtig. Und du konntest nie verkraften, dass ich lieber Mathe als BWL studiert habe." Ja, so langsam war mir klar, was sie bezweckt hatte. Sie wollte wie immer manipulieren. Sie wollte auf diesem Weg doch noch ihren Willen durchsetzen. Das war alles von ihr so kalkuliert. Nein, ich würde mich nicht auch noch jetzt von ihr manipulieren lassen. „Soll ich dir mal sagen, was ich mit deinem ganzen Geld und deiner ollen Bude machen werde?" Alleine bei dem Begriff Bude würde sie da unten garantiert Tornado spielen. „Ich werde alles für einen guten Zweck spenden. Und das nicht nur, weil ich damit Steuer sparen kann. Nein, einfach nur, um anderen zu helfen. Vielleicht für minderjährige Mütter." Der Gedanke war mir spontan gekommen. Ja, das war etwas, was sie mit Sicherheit ärgern würde. Das kurze Gefühl der Genugtuung verpuffte ziemlich schnell wieder und mir schossen Tränen in die Augen. „Du hast mir damals mein Kind weggenommen, dein Enkelkind. Weißt du eigentlich wie sehr ich meine kleine Carmen schon in meinem Bauch geliebt habe?Und du hast sie mir einfach weggenommen. Du hast mir einfach alles genommen, ohne mich überhaupt zu fragen. Alles hatte so zu passieren, wie du es wolltest. Und das witzige ist, das wäre es wahrscheinlich sogar, wenn du sie mir gelassen hättest. Ich wollte nämlich alles für sie tun, damit es ihr gut geht. Ich wäre wahrscheinlich sogar in deine Firma mit eingestiegen, damit sie gut versorgt ist und alles bekommt, was sie sich wünscht. Obwohl, das einzige, was sich ein Kind wünscht, ist die Liebe seiner Mutter. Das weiß ich heute und gebe meiner Tochter das, was ich nie von dir bekommen habe." Ich schluchzte auf. „Ja, du hast mich nie wirklich geliebt. Ich war dir doch völlig egal. Du hast mich nur kaputt gemacht. Ich hasse dich!" Ich war auf meinen Knien vor dem Grab gelandet und mir strömten die Tränen über die Wangen, während Schluchzer mich schüttelten. Alex hockte sich zu mir und strich mir erst über den Rücken, ehe sie mich fest in ihre Arme zog. Das tat so gut. Ja, sie war die, die schon immer für mich da war, wenn ich jemanden brauchte. Wie gut, dass sich daran nichts geändert hatte. Langsam beruhigte ich mich wieder. „Du hast es ihr aber ordentlich gegeben. Und geht es dir jetzt besser?" Alex Blick war noch besorgt, aber ich nickte. Ja, mir ging es definitiv besser. Es war so, als hätte ich einmal meinen ganzen Frust herausgelassen. Ich stand wieder auf und klopfte mir den Schmutz von meiner Hose. Mein Blick ging zu dem Grabstein und diesmal fühlte ich nicht mehr diesen Hass, sondern nur eine Gleichgültigkeit. „Wir können wieder gehen." Ja, mehr hatte ich meiner Mutter nicht mehr zu sagen. „Du hattest wirklich recht, dass ich ihr einmal alles vor den Latz knallen musste. Das war wie ein Abschluss." Ich hakte mich bei Alex unter und warf noch einen letzten Blick auf das Grab meiner Mutter, ohne dabei irgendwelche negativen Emotionen zu entwickeln. Ja, ich fühlte mich wie befreit. Einerseits hatte ich mich mit eigenen Augen vergewissert, dass sie wirklich tot war und mir und meiner Familie nicht mehr schaden konnte. Und andererseits hatte ich einmal alles herausgelassen. Damit waren die ganzen negativen Gefühle verpufft, die sich in den Jahren bei mir aufgestaut hatten. „Ich fand deine Idee mit der Unterstützung von minderjährigen Müttern echt gut." Ich schaute Alex irritiert an. „Du hast doch gesagt, dass du ihr ganzes Erbe an minderjährige Mütter spenden wirst." Mir war so viel aus dem Mund gesprudelt und ich war dabei wie in Trance, dass ich mich gar nicht mehr an alles erinnern konnte. „Also, ich finde, du solltest nicht alles spenden, du musst schließlich auch an Espie denken, aber eine Stiftung wäre doch vielleicht eine Idee." Ich schaute sie nachdenklich an. Vielleicht wäre das wirklich....meine Gedanken nahmen eine neue Richtung ein, während wir weiterliefen. „Tschüß Mama, ich habe dich ganz doll lieb.
Oh, Entschuldigung!" Wir waren mit jemandem zusammengestossen, der auch gerade in einem innigen Gespräch versunken vom Grab zurückgetreten war. „Ina!" Ich schaute überrascht in das Gesicht von dem Essiggürkchen. „Ähm, hallo Genia!" Sie schien mir etwas peinlich berührt, weil sie wohl mit niemandem gerechnet hatte, der ihr Gespräch mit einer Toten mitbekam. Ich schaute zu dem Grab. Es war das Grab mit den Kinderzeichnungen, das ich vorhin schon wahrgenommen hatte. Dann waren die gemalten Bilder wohl von Natascha. In mir schoss eine Welle Mitleid hoch. Die beiden Mädels hatten es wirklich nicht leicht. Und das erste Mal, seit ich Ina kannte hatte ich gerade ein neues Bild von ihr gewonnen. Sie war scheinbar nicht nur eine Eiskönigin, sondern auch eine liebevolle trauernde Tochter.
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Schuss und Treffer - zum Comeback ✔️ Teil 12
RomansaGenia hat in ihrem Leben schon viele Höhen, aber noch viel mehr Tiefen gesehen. Und wer in seinem Leben schon auf dem Tiefpunkt war, der will nur noch in eine Richtung - nach oben - aber nicht mehr um jeden Preis, denn da gibt es auch noch ein klein...