Kapitel 36

228 43 10
                                    


„Himmisakra no oans!" Luca schaute mich mit funkelnden Augen an. Das war das erste Mal, das ich ihn auf Bayrisch fluchen hörte. Von seiner Schwester Lucy kannte ich das ja. Bei ihr war es immer ein Zeichen, dass sie echt sauer war. „Ich will doch nicht meine Familie aus meinem Leben streichen, sondern nur erst einmal meine Entscheidung treffen, ehe ich sie mit ihnen teile." Er schüttelte seinen Kopf und schob sich eine seiner Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen hinter sein Ohr. „Du machst hier echt ein Drama um Sachen, die dich überhaupt nichts angehen. Kümmere dich lieber um deinen eigenen Scheiß." Ich musste schlucken. Vielleicht hatte er recht damit, dass mich das nichts anging, aber.......nichts aber. Er hatte absolut recht. Es war sein Leben und seine Entscheidungen. Trotzdem..... „Ich habe ja keine Scheiße, um die ich mich kümmern kann", giftete ich zurück. Wie oft hatte ich schon bereut, dass ich keine Familie hatte als es mir schlecht ging. Ich wusste auch nicht, was ich meiner Tochter irgendwann sagen sollte, wenn sie nach ihrer Familie fragte. Jedes Kind sehnte sich doch irgendwie nach Oma und Opa.....oder nach seinem Vater. Ich konnte meiner kleinen Espie weder das eine noch das andere bieten. Tja, so war das halt, wenn man als Prostituierte arbeitete und etwas mit der Verhütung schief ging. Ich musste an die Zeit denken, als ich festgestellt hatte, dass ich schwanger war.....

„Und jetzt gehst du zu diesen Vorsorgeuntersuchungen!" Lucy schaute mich mit ernstem Blick an. Vor einer Wochen hatten sie und Tessa mich auf der Straße ausfindig gemacht und in ein Hostel geschleppt und jetzt saß ich hier in einer möblierten Wohnung und das Mädel vor mir, das meine Tochter sein könnte, redete mit mir als wäre sie meine Mutter. In mir keimte eine kleine Welle von Widerspruch auf. Wer war sie, dass sie meinte mir etwas zu sagen zu haben? „Sie ist deine Rettung", flüsterte mir eine leise Stimme in meinem Kopf zu und ich schluckte meinen Widerspruch herunter. Ja, ohne Lucy würde ich immer noch in meinem schmuddeligen Schlafsack an der Reinoldikirche schlafen und versuchen mit Flaschensammeln und Betteln wenigstens für einen vollen Magen zu sorgen. „Ich will da aber nicht hin", trotzte ich dennoch. Es gab dafür ja auch einen Grund, ich hatte Angst, dass etwas mit meinem Kind nicht stimmte, weil mein Lebenswandel gerade am Anfang der Schwangerschaft ja auch alles andere als förderlich gewesen war . Okay auf der Straße war es dann auch nicht besser geworden, als ich mich vor meinem Zuhälter hatte verstecken müssen......ganz zu schweigen von den anderen Gefahren, die dort auf einen lauerten. „Du musst da hin. Du willst doch, dass es deinem Baby gut geht." Wollte ich das? Ja, ehrlich gesagt schon. Ich legte meine Hand auf meinen Bauch und bekam einen leichten Tritt zu spüren. „Dem Parasiten geht es gut", grinste ich. „Da bin ich ganz sicher." Lucy schüttelte verständnislos ihren Kopf . „Da kann man sich nicht sicher sein. Du bist...." „Ich weiß, dass alles okay ist", unterbrach ich sie sofort wieder. Ich wollte auf keinen Fall zu einem Gynäkologen, denn das würde bedeuten, dass er mich nach dem Zeugungszeitpunkt fragen würde. Was sollte er denn denken, wenn er erfuhr, dass ich den nicht wusste, weil ich als Prostituierte gearbeitet hatte. Wahrscheinlich hielt er mich dann für total verantwortungslos und informierte sofort das Jugendamt..... „Ich gehe da nicht hin, sonst nehmen sie mir mein Kind wieder weg", platzte es aus mir heraus. Die Angst davor war auch der Grund, warum ich das Kleine immer Parasit nannte. Ich wollte einfach keine zu enge Verbindung zu meinem Baby aufbauen. Noch einmal den Verlust würde ich sonst nicht überleben. Wenn ich aber genug Distanz hielt.....
„Sehen Sie, das dort ist ihre Tochter." Ich starrte auf den Bildschirm über mir. Lucy hatte mich trotz meines Widerstands zu ihrer Gynäkologin geschleppt. „Eine Tochter", krächzte ich und konnte meinen Blick gar nicht mehr von dieser kleinen Stupsnase lösen, die dort zu sehen war. Das war der Moment, wo für mich feststand, dass ich alles für dieses kleine Wesen tun würde. „Ja, Tochter", lächelte die Ärztin. „Es sieht alles wunderbar aus."  Erleichtert atmete ich auf, ehe sich ein düsterer Schatten über mich legte. „Ähm, also ich...." Ich schluckte einmal fest. Nein, ich musste das jetzt klären. Und zwar sofort....für meine Tochter, die in mir wuchs. Das war ich ihr schuldig. „Ich habe eigentlich immer mit Kondom verhütet." Mein Gesicht fühlte sich spontan heiß an und ich wusste, dass meine Wangen garantiert glühten. Das war aber auch irgendwie peinlich. „Und Sie sind trotzdem schwanger geworden. Das passiert häufiger als man denkt." Die Ärztin legte beruhigend ihre Hand auf meine. „Ja, aber...." Ich stockte kurz. „Ja, aber, wenn ich schwanger werden konnte, dann...." Die Ärztin nickte „Dann wäre es auch möglich sich mit ansteckenden Krankheiten zu infizieren." Diesmal nickte ich und in mir braute sich ein ungutes Gefühl zusammen. Was, wenn ich mir etwas eingefangen hatte und damit jetzt mein Baby ansteckte? „Wir machen einfach ein paar Tests und dann sind wir bald auf der sicheren Seite." Das war ich meinem Baby und auch mir schuldig. Seit ich das Ultraschallbild von meiner Kleinen gesehen hatte, war ich mir sicher, dass es für mich nur noch einen Weg gab. Den nach vorne. Ich wollte ein neues Leben mit meiner Tochter. Nein, noch einmal würde ich mir das Baby nicht wegnehmen lassen. In mir stieg Panik auf. Nein, es durfte einfach nichts passiert sein. Wie lange würde das Ergebnis wohl dauern? Mit Sicherheit viel zu lange......

„Das ist aber kein Grund, dich in meine Scheiße reinzuhängen!" Lucas Stimme war etwas lauter geworden. Na, so weit kam es noch, dass ich mich hier vielleicht auch noch anbrüllen ließ. Ich hob meine Hand und zeigte mit meinem ausgestreckten Zeigefinger auf ihn. „Pass mal auf...." Das Klingeln der Türglocke unterbrach mich. „Das wird der Bote sein..." Ich sprang auf und lief zur Tür. Mein Chef hatte mir ja gestern Abend angekündigt, dass ich heute ein paar Unterlagen zugestellt bekommen würde. Mit meinem Kopf immer noch bei dem Streit von Luca und mir, öffnete ich die Wohnungstür. So leicht würde ich es ihm nicht machen. Er musste doch verstehen, dass es nur zu seinem Besten war, wenn er seine Familie hinter sich hatte. Sie würden ihm bestimmt auch ein paar hilfreiche Tipps für seine Zukunft geben können. Ich hörte Schritte auf der Treppe und wandte ihr meinen Blick zu. Nein, das konnte doch nicht wahr sein....

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt