Kapitel 2

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„So, das wäre geschafft." Ich schüttelte mir einmal den Schnee von der Kleidung, ehe ich Espie aus dem Fahrradsitz hob. „Jaaa, desaft", grinste sie mich fröhlich an und biss in ihren Apfel mir Schokoüberzug. Okay, wir waren nicht auf direktem Weg nach Hause gelaufen, sondern hatten noch einen kleinen Abstecher über den winzigen Weihnachtsmarkt in unserer Nähe gemacht. Das musste irgendwie auch sein. Da hatte die Kleine immer so viel Freude daran, wenn sie die ganzen bunten Lichter bewundern konnte und ihre Augen leuchteten förmlich mit ihnen um die Wette. Mir schossen Erinnerungsfetzen an einen Weihnachtsmarktbesuch mit meinen Eltern durch den Kopf.

Bärbel Genia Schulz, jetzt steh da doch nicht so herum", hörte ich die ungeduldige Stimme meiner Mutter, die schon ein paar Meter weiter gelaufen war, während ich das Karussell mit den Holzpferden bewunderte, das sich vor mir zu einem Weihnachtslied drehte. Wie gerne wäre ich damit gefahren. Aber wenn Mama mich bei meinem vollen Namen nannte, dann war sie böse auf mich, weil ich irgendetwas falsch gemacht hatte. „Ach Birgit nun lass sie doch einen Moment schauen." Mein Vater hatte sich neben mich gestellt und seine Hand auf meine Schulter gelegt. „Schau mal, Genia. Das Karussell dreht sich im Kreis. Weißt du noch, wie die Formel für die Fläche des Kreises ist?" Ich nickte „A gleich Pi mal r zum Quadrat." Mein Vater klopfte mir begeistert auf die Schulter. „Sehr gut! Und weißt du auch noch wie man die Geschwindigkeit berechnet?" Wieder nickte ich. „Die Strecke ist gleich der Geschwindigkeit mal Zeit." Mein Papa wackelte nachdenklich mit dem Kopf. „Du musst schon noch die Parameter Meter und Sekunde jeweils dazu angeben, damit es eindeutig ist." „Ach Johannes, nun lass doch Bärbel mit deinem Mathe Quatsch in Frieden und kommt endlich."  „Das ist nicht Mathematik, sondern Physik. Und man kann niemals zu früh damit anfangen, Birgit!" Mein Vater schüttelte empört seinen Kopf und griff nach meiner Hand. „Komm, deine Mutter ist schon wieder ungeduldig. Bestimmt wirst du später einmal eine Formel für Ungeduld entdecken", lächelte er mir zu und zog mich mit sich, während ich über meine Schulter einen bedauernden Blick zu den bunten Holzpferden warf, die sich immer noch drehten. Die Kinder darauf schienen so viel Freude zu haben. „Darf ich einen Schokoapfel haben?" Ich deutete mit meinem Finger zu einem Stand. „Schauen wir mal in dein Portemonnaie, ob du noch genug Geld hast", kam es von meiner Mutter. Ich kramte das kleine mit bunten Perlen bestickte Täschchen hervor, das sie mir zu Hause in meine Manteltasche gesteckt hatte. Ich zog das Geldstück heraus, das ich noch darin hatte. „Und wie viel hast du noch?" „Zwei Euro." „Die Äpfel kosten aber zwei Euro fünfzig " Enttäuscht stellte ich fest, dass main Geld wohl nicht ausreichte." „Tja, das ist dann wohl Pech", zuckte meine Mutter mit den Schultern. „Da hättest du vorhin wohl nicht die Lose ziehen sollen." Sie deutete auf das Stofftier, das ich in meinem Arm hielt. „Birgit, nun gib ihr doch die fünfzig Cent. Wie soll denn ein sechsjähriges Mädchen schon so vorausschauend sein, zu wissen, was es auf dem Weihnachtsmarkt alles kaufen will."  „Man kann nicht früh genug anfangen wirtschaftlich zu denken, Johannes. Das hätte dir auch nicht geschadet. Dann kämest du auch mit deinen Fördergeldern bei deiner Forschung weiter. Aber was rede ich da..." Meine Mutter winkte ärgerlich mit ihrer Hand ab. „Ich bin hier ja die Einzige, die ihr Geld wirklich verdienen muss, damit ihr davon leben könnt. Bei dir wären wir schon lange verhungert, weil du deins nur für irgendwelche Bücher hinauswirfst."  „Soll das ein Vorwurf sein, Birgit?" Papas Stimme war auch etwas lauter geworden. „Na ein Lob war es nicht" „Dann solltest du dir mal überlegen, von wessen Geld du dein Unternehmen gegründet hast. Wenn ich dir nicht das Geld dafür von meinem mickrigen Professorengehalt gegeben hätte, würdest du immer noch im Supermarkt Waren auspacken. Also spiel hier nicht die große Geschäftsfrau." „Und du solltest dir mal überlegen, wer dir mit seinem Job im Supermarkt das Studium finanziert hat und auf sein eigenes Studium verzichtet hat."  Ich hatte zwar keine Ahnung wovon die beiden sprachen, aber ich spürte, dass sie wieder aufeinander böse waren. Wie sooft. Schnell griff ich nach den Händen von den beiden „Darf ich mit den zwei Euro auf dem Karussell fahren?" Bestimmt reichte das Geld für die hübschen Holzpferdchen aus. Mein Herz fing schon vor Aufregung wie wild an zu klopfen. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr." Meine Mutter löste ihre Hand wieder von meiner. „Ich muss heute Abend noch zu einer Besprechung." „Heute ist doch aber Samstag, Birgit." Papa schaute sie genauso enttäuscht an, wie ich war. „Ja Johannes, manche Leute haben nicht so eine geregelte Arbeitszeit wie andere. Aber du kannst ja gerne noch mit Bärbel hier bleiben und dann mit der Bahn nach Hause fahren." So wie Mama das sagte, wirkte es nicht als würde es ihr wirklich gefallen. Und auch Papa schaute so als wäre es ihm nicht wirklich recht. „Ich bin müde!" Nein, Papa und Mama sollten sich nicht wegen mir streiten. Ich öffnete meinen Mund und imitierte ein Gähnen. „Halt die Hand vor deinen Mund!", kam es sofort von Papa und Mama gleichzeitig. Wenigstens waren sie nicht mehr aufeinander böse, sondern auf mich. „Dann fahren wir jetzt zusammen nach Hause." Mama lief zufrieden los. „Kleinen Moment. Ich komme gleich nach. Geht doch schon einmal zum Auto." „Aber wirklich gleich und nicht erst in ein paar Stunden", fuhr Mama ihn nicht gerade freundlich an und zog mich mit sich.
Zu Hause hatte ich mir schnell meinen Schlafanzug angezogen. Ich war noch nicht in mein Bett gekrabbelt als die Haustür ins Schloss fiel. Dann war Mama wohl gegangen. „Schau mal Genia, was ich dir mitgebracht habe." Papa hatte auf dem Weihnachtsmarkt noch einen Schokoapfel für mich geholt und reichte ihn mir. Ich umarmte ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich mir den Apfel aus seiner Hand griff und glücklich hineinbiss. „Liest du mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor?" Papa nickte. „Aber mit vollem Mund spricht man nicht." Ich kniff meine Lippen zusammen. Hoffentlich war Papa jetzt nicht böse. „Ich habe schon ein Buch für dich mitgebracht." Er zog es hinter seinem Rücken hervor. „So, aber als erstes liest du den Titel." „W....a...s  was....i....s....t .....ist...... w....a...s.....was" zog ich zusammen. „Das Universum", half Papa mir weiter. „Und pass auf, dass du mit der Schokolade keine Flecken in das Bettzeug machst, sonst sorgt Mama dafür, dass wir beide die schwarzen Löcher persönlich kennenlernen." Ich nickte und biss diesmal vorsichtig von dem Apfel ab.

Ich schaute in das schokoladenverschmierte Gesicht meiner Tochter. Nein, so sollte es ihr niemals gehen. Ich wollte, dass sie einfach Kind sein durfte, mit Schokolade im Gesicht oder auf dem Bettzeug. Und sie sollte auch Karussell fahren, wenn sie mochte. Und auch die mathematische und wirtschaftliche Früherziehung würde ich ihr ersparen. Sie sollte einfach eine ganz normale glückliche Kindheit haben. Auch wenn wir beide uns vielleicht nicht alles leisten konnten, sollte sie trotzdem wissen, dass ich immer für sie da war und dass sie das Wichtigste in meinem Leben war. Das war nämlich das einzige, was wirklich unbezahlbar war. Ich beugte mich zu ihr und ehe ich mich versah, drückte sie mir einen Kuss auf die Wange. „Mama, Soko"  Sie deutete mit ihrem Zeigefinger kichernd auf meine Wange. „Ups, da müssen wir dann wohl beide gleich in die Badewanne", kicherte ich auch und löste die Sicherungsgummis, ehe ich unseren Weihnachtsbaum vom Fahrrad hob. Ja, so eine warme Badewanne war kein schlechte Idee, so durchnässt wie wir vom Schnee waren.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt