Mein Blick fiel auf die leeren Kaffeetassen auf dem Tisch vor mir. Mist, ich hatte die Kekse und den Kaffee ja noch gar nicht auf den Tisch gestellt. Schnell flitzte ich in die Küche, um alles zu holen. „Ach das sind ja diese leckeren Kinderkekse." Mein Vater schnappte sich ein Einhorn aus der Schale. „Die hat Ben auch immer so gerne gegessen, als er klein war. Hoffentlich ist deine Tochter nicht traurig, wenn ich ihr die jetzt wegesse." „Ben?" Ich schaute ihn irritiert an. Wer bitte war Ben? Ich ging im Geiste die Bekannten und Nachbarn durch, konnte mich aber an keinen Ben erinnern. Mein Papa fuhr sich wieder mit seiner Hand über das Kinn. „Scheinbar kommt wohl alles gleich schonungslos auf den Tisch." Was meinte er denn damit? „Ben ist dein kleiner Bruder." Ich riss meine Augen auf. Wie bitte? Ich hatte einen kleinen Bruder? „Mama und du, ihr habt noch ein Kind bekommen?" Ich konnte es gar nicht glauben, dass meine Mutter sich dafür die Zeit genommen hatte. Andererseits war das ja so typisch für Mama. Wenn man ein Verlustgeschäft hatte, wurde das abgestoßen und ein neues erfolgreicheres anvisiert. Sie hatte mich also durch ein neues Kind ersetzt. Oh mein Gott, wie alt mochte der Kleine jetzt sein? Auf alle Fälle viel zu jung, um seine Mutter zu verlieren. Sofort wanderten meine Gedanken zu Espie und in mir zog sich alles zusammen. Es wäre so schrecklich, wenn mein kleiner Sonnenschein plötzlich ohne mich dastehen würde. Ob meine Mutter wohl in ihrem letzten Moment auch an ihren kleinen Sohn gedacht hatte? Wahrscheinlich nicht, sondern an irgendwelche Geschäftsverträge. Papa hatte ja von dem vielen Streß in der Firma geredet. Wahrscheinlich hatte der Kleine seine Mutter kaum zu Gesicht bekommen. „Nein, deine Mutter und ich haben uns scheiden lassen und ich habe wieder geheiratet und noch einen Sohn bekommen." Wieder riss ich meine Augen auf. „Ihr habt was?" Das konnte ich gar nicht glauben. Papa biss sich auf seine Unterlippe und schaute mich schuldbewusst an. „Ich hätte mich schon viel früher scheiden lassen sollen, dann wäre das mit uns beiden gar nicht soweit gekommen." Er schüttelte leicht den Kopf. „Es tut mir leid, dass ich viel zu lange deiner Mutter freie Hand gelassen habe......aber nachdem sie dich aus dem Haus geworfen hat.....da hat es bei mir klick gemacht. Also naja, vielleicht war auch Alexandra ein bisschen mit dafür verantwortlich, dass ich endlich meinen Mut zusammengenommen und diese Ehe beendet habe." Das waren gerade eine Menge Infos. „Du hast dich wegen mir scheiden lassen?" Das war....keine Ahnung....außerhalb meiner Vorstellungsgrenzen. „Wer ist überhaupt Alexandra? Deine neue Frau?" Wenn ja, dann musste Papa ja damals schon eine Freundin gehabt haben. Ich hätte ihn nie für einen Fremdgänger gehalten, sondern für einen Professor, der nur seine Formeln und Ableitungen liebte. Andererseits konnte ich es ihm nicht verübeln, denn meine Mutter war mit Sicherheit auch im Bett nur ein Eisklotz gewesen. „Ja, Alexandra ist meine Frau und Bens Mutter. Sie freut sich schon, dich endlich wiederzusehen." „Ich kenne sie?" Papa nickte nur schmunzelnd. „Ja, du kennst sie sogar sehr gut. Sie hat dir auch die Geburtstagstorte gebacken, die ich letztens mitgebracht habe." „Frau Kowalski", platzte es überrascht aus mir heraus. Wieder schmunzelte Papa. „Na ja, jetzt heißt sie Schulz." Wow, das...das kam ziemlich überraschend. „Jedenfalls hatte ich mit deiner Mutter wegen deines Rauswurfs einen riesigen Disput, der dann in der Scheidung geendet hat." Papa schüttelte traurig seinen Kopf. „Man kann doch nicht sein eigenes Fleisch und Blut aus seinem Leben streichen. Weißt du eigentlich wie verzweifelt ich dich gesucht habe?" Nein, das wusste ich nicht. „Ich habe sogar eine Detektei damit beauftragt dich zu finden. Du warst aber wie vom Erdboden verschluckt, genau wie Paula und ihre Familie. Ich hatte ja gehofft, dich über sie zu finden. Und irgendwann habe ich dann aufgegeben und auf das Schicksal gehofft, das uns wieder zusammen bringt." Papas Blick wanderte zu Luca. „Ich konnte es gar nicht fassen, als es in Form deines Freundes vor mir stand." Seit wann glaubten Wissenschaftler an Schicksal? „Ich habe damals meinen Namen geändert", gab ich kleinlaut zu. „Und Paula hat geheiratet und ist weggezogen, genau wie ihre Mutter." Ja, beide hatten fast gleichzeitig geheiratet und waren in einen neuen Lebensabschnitt gestartet. „Jetzt erzähl mir aber lieber von meinem kleinen Bruder." Ja, ich war total neugierig auf ihn. Papa zog sein Handy aus seiner Hosentasche und reichte es mir. Auf dem Bildschirm tauchte ein Bild auf, auf dem unsere ehemalige Haushälterin zusammen mit meinem Papa und einem Jungen in die Kamera strahlte. „Ups, der ist ja gar nicht mehr so klein", platzte es aus mir heraus. Papa grinste mich stolz an. „Er wird in ein paar Monaten zwölf. Du wirst ihn ja bald kennenlernen. Wirst du doch, oder?" Das Grinsen war Unsicherheit gewichen. Ich nickte nur. Klar, wollte ich ihn kennenlernen. „Da wird sich Ben freuen. Wir haben ihm nämlich von kleinauf von seiner großen Schwester erzählt. Er ist dir gegenüber also ziemlich im Vorteil." Erstaunt schaute ich Papa an. „Ihr habt ihm von mir erzählt?" Papa nickte. „Ja klar, er musste doch wissen, dass du zur Familie gehörst." Ich konnte gar nicht glauben, was ich da hörte. Ich gehörte zur Familie. Wie lange hatte ich mich nach diesem Satz gesehnt. „Aber jetzt erzähl du mir, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist." Das war der Teil des Gesprächs, vor dem ich mich schon die ganze Zeit fürchtete. Wie würde mein Vater reagieren, wenn er erfuhr, dass seine Tochter in den letzten Jahren eine drogensüchtige Prostituierte geworden war, die sogar auf der Straße gelebt hatte? Würde er sofort die Flucht antreten? Würde er mich dann immer noch meinem kleinen Bruder vorstellen? Oder gehörte ich dann vielleicht doch nicht mehr zur Familie. Ich war mir nicht so sicher, wie er reagieren würde. Deshalb schluckte ich gegen den Kloß in meinem Hals an, bevor ich meinen Mund öffnete. Ich wollte ihn doch nicht wieder verlieren.
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Schuss und Treffer - zum Comeback ✔️ Teil 12
RomanceGenia hat in ihrem Leben schon viele Höhen, aber noch viel mehr Tiefen gesehen. Und wer in seinem Leben schon auf dem Tiefpunkt war, der will nur noch in eine Richtung - nach oben - aber nicht mehr um jeden Preis, denn da gibt es auch noch ein klein...