Kapitel 23

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„Ist es nicht schon etwas spät für die Kleine?" Der Blick von dieser Ina ging zu meiner kleinen Espie, die fröhlich lächelnd Inas Schwester Natascha ihre ganzen kleinen Plastikponys zeigte. „Ach, sie darf heute so lange aufbleiben wie sie möchte. Ist ja schließlich Silvester", zuckte ich mit den Schultern. Mal musste es ja auch Ausnahmen geben. Und wenn Espie wirklich müde war, schlief sie sowieso von einer Sekunde zur anderen wie ein kleiner Stein ein. Egal wo sie sich gerade befand. „Also Natascha hat da einen festen Plan, damit sie auch immer gut erholt und leistungsfähig ist." Ich hoffte doch wohl, dass ich mich gerade verhört hatte. Kinder sollten nicht leistungsfähig, sondern glücklich sein....

Ich spürte schon wieder diese wellenartigen Schmerzen. Sie kamen immer häufiger in immer kürzeren Abständen und wurden immer stärker. Ich stöhnte laut auf. Demi tupfte mit einen Stofftuch Schweiß von meiner Stirn und hielt meine Hand, ehe sie sich an die andere Frau im Zimmer wandte. „Wie lange wird es noch dauern, bis das Baby da ist, Evelyn?" Diese Evelyn war mir als Hebamme vorgestellt worden. Sie lebte hier auch im Dorf und half wohl der Mehrzahl aller Kinder hier auf die Welt. Sie sollte auch meiner kleinen Carmen auf die Welt helfen, die es plötzlich ziemlich eilig zu haben schien. Eigentlich wäre ich viel lieber in ein Krankenhaus gegangen, aber scheinbar waren Hausgeburten hier durchaus üblich und der Weg in die nächste größere Stadt viel zu lang. „Das dauert nicht mehr lange", erklärte die Hebamme sofort. „Das sind schon die ersten Presswehen." Ein weiteres Stöhnen entfuhr mir als die Tür des Zimmers sich öffnete und meine Mama herein gerauscht kam. „Ich hoffe, ich bin noch rechtzeitig. Ich habe sofort das Meeting verlassen, als der Anruf kam." „Mama!?" Ich war total überrascht, denn sie hatte mich noch nicht einmal hier in Belgien besucht seit sie mich hergebracht hatte. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf. Mama war jetzt aber extra hergekommen, um mir bei der Geburt beizustehen. Bestimmt war sie auch schon ganz neugierig auf ihre kleine Enkeltochter. Vielleicht nahm sie uns beide ja dann auch gleich mit nach Hause zu Papa und Frau Kowalski.....und zu Paula.......und zu Conny. Wie er wohl reagierte, wenn ich mit unserem Baby vor ihm stand? Er musste sich einfach freuen.
Und dann ging alles ganz schnell. Es kamen noch ein paar Wehen und ich folgte aufmerksam den Anweisungen der Hebamme. Dann hörte ich ein leises Babyweinen und in mir explodierte etwas. Dieses Babyweinen setzte eine unglaubliche Glückseruption in mir frei. Das war Connys und mein Baby. Unsere kleine Carmen. Ich spürte wie mir Tränen des Glücks über die Wangen liefen. Gleich würde ich meinen kleinen Schatz in den Armen halten und nie wieder los lassen. „An dem Kind ist alles dran, was dran sein muss!", hörte ich die Worte der Hebamme und spürte den nächsten Glücksschwall, der durch mich hindurch schoss. „So, da hätten wir auch die Nachgeburt. Alles ist perfekt verlaufen." „Wunderbar!", kam die Antwort meiner Mutter. „Dann sollten Sie sie jetzt wohl trotzdem erst noch einmal kurz meine Tochter untersuchen und sich dann um das Baby kümmern." Der Blick der Hebamme ging zu mir und ich konnte ihn nicht wirklich deuten. Irgendwie sah sie so....so zerknirscht aus. Stimmte doch etwas mit meiner Kleinen nicht? Ohne weitere Worte ging sie ihrem Job nach. „Alles perfekt. Ich werde dann jetzt das Kind unten wiegen, messen und reinigen." Mama nickte. „Sehr gut! Ich habe nämlich nicht so viel Zeit." Wen wunderte es, schoss es mir enttäuscht durch den Kopf. Wann hatte sie jemals Zeit? „Ich gehe auch gleich duschen", stöhnte ich und versuchte mich zu erheben, sonst war sie gleich noch wieder sauer, dass sie auf mich warten musste. „Du legst dich wieder hin und erholst dich erst einmal, damit du bald wieder gut erholt und leistungsfähig bist", kam die Anweisung von ihr. Das erstaunte mich. Wollte sie doch länger hier bleiben? „Ja Kind, lege dich etwas hin. Du musst dich erst einmal ausruhen." Demi drückte mich sanft in die Kissen meines Bettes. Ja, ich war wirklich k.o. Aber ich hatte noch nicht einmal mein Baby im Arm gehabt. „Darf ich...." Ich streckte meine Arme nach dem Baby aus, das die Hebamme in ihren Armen hielt. „Jetzt nicht. Du musst dich erholen", schritt meine Mama sofort ein und zog die Hebamme am Arm aus dem Zimmer. Alles was ich von meiner kleinen Carmen sah, war ein feiner blonder Flaum auf ihrem Kopf.....und dann war sie weg...

Der Gedanke an meine erste Tochter zwickte mich böse in mein Herz. In wenigen Tagen würde sie zweiundzwanzig Jahre alt werden. Ob sie sich wohl jemals für ihre richtige Mutter interessiert hatte?
„Also, Natascha hat immer einen genauen Plan, damit sie schon von Anfang an eine gute Strukturierung entwickelt." Boah, so etwas hätte ja glatt von meiner Mutter kommen können. Auch sie hatte mich immer wie so einen kleinen Duracell-Affen behandelt, der nur zu funktionieren hatte. Ich schaute zu dem Mädchen, das wahrscheinlich gerade einmal zehn oder elf Jahre alt war und auch in einem ähnlichen Hosenanzug steckte wie ihre Schwester. „Du kümmerst dich wohl viel um die Kleine?" Das war schon verwunderlich. Eigentlich gab es ja dafür die Eltern. „Ja, seit meine Mutter gestorben ist, war das meine Aufgabe." Ich musste schlucken. „Das tut mir leid." Alleine der Gedanke, dass mein kleiner Sonnenschein ohne mich aufwachsen müsste, machte mich fertig. „Und jetzt habe ich ja auch noch die Firma, seit mein Vater ein Pflegefall ist. Aber dank Linus schaffe ich das ganz gut." Das erste Mal nahm ich einen weichen fast liebevollen Blick wahr, den sie ihrem Freund zuwarf, der sich mit Luca angeregt unterhielt und wild mit seinen Händen gestikulierte. „Natascha muss frühzeitig lernen, was von ihr erwartet wird, damit sie dann auch in die Firma mit einsteigen kann. Das ist Familientradition. Ich versuche ihr da ein gutes Vorbild zu sein." Das glaubte ich ihr sogar. Obwohl die kleine ja eher wie eine Kopie von ihr aussah. War das so eine Minime-Sache? Das fand ich immer so gruselig. Ich würde niemals wollen, dass meine kleine Espie mein kleines Ich war. Nein, sie sollte sie selbst sein und sich auch ganz alleine frei entfalten können. So wie es zu ihr passte. Aber vielleicht war Ina ja selbst auch mit dem Ganzen etwas überfordert. Scheinbar versuchte sie ja nur ihr Bestes zu geben. Eigentlich sollte auch sie sich in ihrem Alter erst einmal frei entfalten. Aber was machte ich mir hier Gedanken über jemanden, den ich eigentlich nicht wirklich kannte. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen und ich war bestimmt die Letzte, die sich über irgendwelche Menschen Sorgen machen sollte. Außerdem stand auf meiner Agenda Luca ganz oben. Ihm sollte ich lieber auf den richtigen Weg zurück helfen.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt